Laborbericht: Echte Schleimpilze praktizieren zellulären Sozialismus

Die Glibbersozialisten

Kolumne Von

Während es bis zur Bundestagswahl noch einige Wochen dauert, hat die Deutsche Gesellschaft für Protozoologie bereits ihren Wahlsieger gekürt: Einzeller des Jahres 2021 ist der Schleimpilz Physarum polycephalum, in Anlehnung an einen Science-Fiction-Film gleichen Namens auch »Blob« genannt.

Mit der jährlichen Verleihung des Titels will die Forschungsvereinigung auf die Rolle aufmerksam machen, die ihre Untersuchungsobjekte – Protozoen, also in der Regel einzellige Organismen mit Zellkern – in den irdischen Ökosystemen spielen. Abendfüllende Sondersendungen über die Entscheidung gab es leider auch dieses Jahr nicht; dabei gibt es gerade über Physarum sogar etliche Dokus, die sich mit der erstaunlichen Physiologie und den noch erstaunlicheren Leistungen des Preisträgers befassen.

Trotz ihres Namens handelt es sich bei Schleimpilzen übrigens nicht um Pilze, sondern um einen ­Sammelbegriff für Organismen, die relativ weit unten am Stammbaum des Lebens angesiedelt sind. Sie ­beginnen ihr Leben als amöbenartige Einzeller; bei Nahrungsmangel finden sie sich zusammen und ­bilden Sporen, aus denen eine neue, einzellige Tochtergeneration hervorgeht.

In der Gruppe der sogenannten echten Schleimpilze (Myxogastria), zu der auch Physarum gehört, geht der zelluläre Sozialismus so weit, dass sie in ihrer schleimigen Lebensphase nicht mehr aus einzelnen Zellen bestehen, sondern eine gemeinsame große Zelle mit zahlreichen Zellkernen (Fachbegriff: Plasmodium) bilden, die sich mit bis zu vier Zentimetern pro Stunde fortbewegen kann.

Die glibbrigen Blobs können, zumindest im Labor, beeindruckende Ausmaße erreichen: Das Guinness-Buch der Rekorde verzeichnet ein 5,54 Quadratmeter großes Physarum-Exemplar
als größten Einzeller der Welt. Das gigantische Plasmodium in Form ­eines »W« wurde 1987 an der Universität Bonn herangezogen, um den Schleimpilzforscher Karl-Ernst Wohlfarth-Bottermann angemessen in den Ruhestand zu verabschieden.

Physarum kann aber nicht nur sehr groß werden, sondern noch viel mehr. Ganz ohne Nervensystem finden sich die Riesenzellen in Labyrinthen zurecht, erinnern sich an Nahrungsquellen und können aus der Entfernung die Größe von Objekten erkennen; oft werden sie deshalb sogar als intelligent bezeichnet.

Berühmt ist insbesondere ein Experiment, bei dem die Lage der Städte im Großraum Tokio nachgebildet wurde, und zwar mit Haferflocken, einer Lieblingsspeise des Schleimpilzes. Platzierte man diesen auf der Flocke, die die japanische Hauptstadt darstellte, bildete er ein Geflecht aus, das dem Bahnnetz des Großraums entsprach. Für das Straßennetz der USA fand Physarum sogar eine effizientere Lösung als die existierende. In Sachen Verkehrsplanung ist der Schleimpilz also allemal kompetenter als Andreas Scheuer und erweist sich somit als würdiger Wahlsieger. Wir gratulieren!