Wladimir Zeev Jabotinskys Schrift »Die jüdische Kriegsfront« von 1940 erscheint erstmals auf Deutsch

»Zionismus ist die Antwort«

Wladimir Zeev Jabotinskys 1940 verfasste Schrift »Die jüdische Kriegsfront« liegt erstmals in deutscher Übersetzung vor. Das Buch schließt eine Lücke in der Bewertung des Zionismus, kurz bevor die Shoah begann.

Als Wladimir Zeev Jabotinsky, der bedeutendste Vertreter des revisionistischen Flügels des Zionismus, am 4.August 1940 in Hunter im US-Bundesstaat New York mit 60 Jahren an einem Herzinfarkt starb, war die alte Welt in Auflösung begriffen und die Juden Europas befanden sich in nie dagewesener Bedrängnis. Die Tschechoslowakei und Polen waren zerschlagen, Dänemark, Norwegen und die Beneluxstaaten handstreichartig von den Nazis besetzt worden. Selbst die einstige Großmacht Frankreich ergab sich nach wenigen Wochen den Deutschen und etablierte im nichtbesetzten Süden das autoritäre und antisemitische Regime von Vichy.

Entschieden trat er der Vorstellung von Links­zionisten entgegen, wonach sich ein jüdisches Siedlungs­projekt ausschließlich mittels Sprache, Kultur- und Sozialpolitik, mithin ohne Waffen und politischen und nationalstaatlichen Souverän verwirklichen ließe.

Überall in den von den Deutschen und ihren Verbündeten kontrollierten Territorien wurden Juden erfasst, verfolgt und bei Pogromen und Erschießungen ermordet. Jüdische Flüchtlinge konnten keine Aufnahmeländer finden. Von allen Seiten bedrängt, kämpfte Großbritannien noch ohne Unterstützung der Sow­jetunion und der USA gegen eine drohende deutsche Invasion der Insel. Vor allem in Frankreich saßen Freunde und Mitstreiter Jabotinskys seit Kriegsbeginn in Lagern fest oder versuchten, sich Papiere für die letzten verbliebenen Ausreisemöglichkeiten, etwa über den Hafen von Marseille oder durch die Pyrenäen, zu verschaffen. Unter ihnen war auch Jabotinskys ehemaliger Sekretär, der ungarische Schriftsteller Arthur Koestler (1905–1983).

Wladimir Zeev Jabotinsky wuchs in der multiethnischen und für die jüdische Aufklärung und den Zionismus bedeutenden Metropole Odessa am Schwarzen Meer auf, in der er 1880 geboren worden war; die Stadt gehörte damals zum zaristischen Russland. Seine letzte, erst posthum veröffentlichte Schrift »Die jüdische Kriegsfront« verfasste er Anfang 1940 in nur zwei Monaten unter dem Eindruck der Zerschlagung Polens durch die Deutschen und Stalins ­Sowjetunion. Es ist die letzte Momentaufnahme des Zionismus vor der Shoah.

Jetzt liegt die Schrift zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vor. Ergänzt wird sie durch zwei Essays: Im ersten analysiert und kritisiert Gerhard Scheit das Staats- und Gewaltverständnis Jabotinskys. Im zweiten kritisiert Renate Göllner die wohlfeile Trennung zwischen »dem Politiker« und »dem Schriftsteller« Jabotinsky und würdigt sein erst seit wenigen Jahren (zumindest in Teilen) zugängliches literarisches Werk. Anselm Meyer liefert Anmerkungen und eine biographische Kurzchronik, die über den historischen Kontext aufklärt.

Lange hatte Jabotinsky gewarnt, dass der Antisemitismus stärker werde. Entsetzt verfolgte er den großen arabischen Aufstand 1936 bis 1939, bei dem viele Juden ermordet wurden. Entfacht wurde diese Gewalt maßgeblich durch den antisemitischen und mit den Deutschen ­verbündeten Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini (1895–1974), und seinen Anhängern. Daraufhin verbot die britische Besatzungsmacht als Zugeständnis an die arabische Seite die Einwanderung von Juden in ihr damaliges Mandatsgebiet Palästina. Die Araber unterstützten unterdessen die Politik der deutsch-italienischen Achse, nicht nur in Palästina, sondern ebenso in Ägypten, Syrien und dem Irak. Infolge der Beschwichtigungspolitik Großbritanniens und auch Frankreichs saßen Millionen Juden in Europa in der Falle.

Jabotinsky kritisiert in seiner Schrift die Untätigkeit der beiden Alliierten angesichts der Bedrängnis der Juden und fordert, dass deren Schutz oberstes Kriegsziel sein müsse. Vorwürfe, wie sie heute laut werden, die alliierte Kriegsführung sei von politischen Interessen des Kolonialismus geleitet, vermag die Darstellung Jabotinskys zu entkräften. Auch forderte er ein klares Bekenntnis gegen den von der Nazipropaganda stets in den Mittelpunkt gestellten Antisemitismus, dessen eschatologischer und mörderischer Wahn die Massengewalt der Deutschen und ihrer Verbündeten erst ermöglichte. Zur Rettung der schon im Frühjahr 1940 mit dem Tode bedrohten über fünf Millionen Juden Osteuropas plädierte er für deren geordneten Massenexodus ins britische Mandatsgebiet Palästina und für die Gründung eines jüdischen Staates. Zu diesem Zweck sollte dieser als ­eigenständige Nation anerkannt und eine gegen die Nazis kämpfende ­jüdische Armee von mindestens 100000 Soldaten aufgestellt werden.

Jabotinsky wusste, wovon er sprach. Bereits während des Ersten Weltkriegs hatte er mit dem Linkszionisten und ersten jüdischen Offizier der russischen Armee, Joseph Trumpeldor (1880–1920), die »Jüdische Legion« gegründet, welche für die Briten gegen die Osmanen kämpften. Er betonte, dass die Durchsetzung von Recht einen Souverän voraussetzt, der staatliche Gewalt ausüben kann. Ohne den Einsatz bewaffneter Juden, die nach dem Sieg der Briten über die Türken in Palästina Pogrome aufgebrachter Araber verhinderten, hätte es wohl auch 1917 keine Balfour-Deklaration zur Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina gegeben.

Seit Jabotinsky am sechsten Zionistischen Kongress in Basel teilgenommen hatte, verstand er sich als Teil des politischen Zionismus in der Tradition von dessen Begründer Theodor Herzl, dem Verfasser von »Der Judenstaat«. »Zionismus ist die Antwort auf das Massaker an den Juden. Es ist weder ein moralischer Trost noch eine intellektuelle Übung«, schrieb er am 18.Dezember 1919 in der Haaretz unter dem Eindruck der Kiewer Pogrome.

Entschieden trat er der Vorstellung von Linkszionisten entgegen, wonach sich ein jüdisches Siedlungsprojekt ausschließlich mittels Sprache, Kultur- und Sozialpolitik, mithin ohne Waffen und politischen und nationalstaatlichen Souverän verwirklichen ließe. Der Cineast und Schriftsteller, der Dante und ­Edgar Allen Poe ins Hebräische übersetzte, mahnte die jungen Zionisten, ihre militärische Ausbildung nicht zu vernachlässigen. Staatsgründung und Bewaffnung hätten Vorrang vor allen anderen Fragen, vor allem angesichts der Gefahren des Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit.

Sein entschiedenes Eintreten für einen jüdischen Staat hat Jabotinsky den Vorwurf eingebracht, ein jüdischer Faschist zu sein. Schon wegen der schieren Anzahl der zu evakuierenden Juden sprach er sich für die Einbeziehung des nur sehr dünn von Arabern besiedelten rechten Jordanufers in das zionistische Projekt aus. Dass die Araber sich widerspruchs- und widerstandslos von den Vorteilen eines zionistischen Aufbauprojektes überzeugen lassen würden, glaubte er im Gegensatz zum prominenten Vertreter des Linkszionismus und späteren ersten Ministerpräsidenten Israels, David Ben-Gurion, nicht. Dennoch betonte er die evidenten Vorzüge einer arabisch-jüdischen Koexistenz, nicht zuletzt das Abschütteln des osmanischen Jochs und die Überwindung des Feudalismus.

Die arabische Bevölkerung wollte er nicht vertreiben, sondern in einen von einer jüdischen Mehrheit dominierten Staat als Individuen integrieren. Stellvertretender Ministerprä­sident sollte immer ein Staatsbürger arabischer Abstammung sein und das Arabische sollte neben dem ­Hebräischen als Landessprache anerkannt werden. Herzl dagegen hatte Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch favorisiert. Gleichwohl verübten Mitglieder der von Jabotinsky mitgegründeten Organisation Irgun während des arabischen Aufstands und vor allem in der Nachkriegszeit Attentate gegen die arabische Bevölkerung und die britischen Besatzungsbehörden, um die Einreise jüdischer Flüchtlinge zu ­erzwingen.

Jabotinsky war ein Anhänger des politischen und ökonomischen Liberalismus des 19.Jahrhunderts. Er wollte die Produktionsmittel nicht kollektivieren, empfand die Bezeichnung »Bürger« nicht als Schmähung und hielt nichts vom Kommunismus. Dennoch verzieh er dem stets der Sache des Zionismus verbundenen Arthur Koestler seine Liaison mit »dem Gott, der keiner war«, wie dieser den Kommunismus später spöttisch betitelte.

Jabotinsky hatte die Situation klarsichtig analysiert und hatte pragmatisch Möglichkeiten skizziert, die kommende Katastrophe zu verhindern. Die Totalität und Radikalität der Shoah jedoch entzog sich seiner Vorstellungskraft.

Wladimir Zeev Jabotinsky: Die Jüdische Kriegsfront. Aus dem Englischen übersetzt von Lars Fischer. Herausgegeben von ­Renate Göllner, Anselm Meyer und ­Gerhard Schreit. Ça-ira-Verlag, Freiburg und Wien 2021. 256 Seiten, 26 Euro