Im Film »Come on, come on« lernen ein Erwachsener und ein Kind einander kennen

Fragen auf Augenhöhe

Der Film »Come on, Come on« erzählt davon, wie ein kinderloser Journalist und sein neunjähriger Neffe einander näherkommen und herausfordern. Dabei bedient sich Regisseur Mike Mills verschiedener ästhetischer Techniken.

Wenn du an die Zukunft denkst, welche Vorstellungen hast du? Wovor hast du Angst? Was macht dich wütend? Diese und andere Fragen stellt der Radiojournalist Johnny (Joaquin Phoenix) bei seiner Recherchereise durch die USA Kindern im High-School-Alter. Es sind gute Fragen. Als Zuschauerin stellt man sie sich unweigerlich auch selbst, wenn man sie im Film »Come on, Come on« hört – sie nehmen einen sofort gefangen, evozieren Nähe zu den Figuren. Der einnehmende Charakter des Film liegt allerdings nicht nur in den Fragen, sondern auch an den beiden Protagonisten Johnny, den der Oscarpreis­träger Phoenix (»Joker«, 2020) gewohnt energetisch mimt, und seinem neunjährigen Neffen Jesse, den Woody Norman derart gut spielt, dass es wirkt, er würde gar nicht spielen.

Der US-amerikanische Regisseur und Drehbuchautor Mike Mills, der zuletzt mit »Jahrhundertfrauen« (2016) überraschte, einem charmanten, von visuellen Details und lebendigen Dialogen strotzenden Generationenporträt, hat diesmal kein Traumtrio – bestehend damals aus Annette Bening, Greta Gerwig und Elle Fanning – gecastet, sondern ein Traumduo: Phoenix und Norman ergänzen sich in ihrem Spiel hervorragend. Beide ziehen locker die unterschiedlichsten emotionalen Register, und beide verkörpern Figuren mit sensiblen Gemütern, bei denen testosterongeladene Affekte wie Wut schnell in kurze Momente der Verzweiflung umschlagen.

Mills’ gutes Gespür für ein ungewöhnliches Zusammenspiel von Ton und Bild stammt womöglich aus seiner Erfahrung als Musikvideo-Regisseur.

Von solchen Momenten gibt es viele, immerhin sind Johnny und Jesse zunächst nicht freiwillig zusammen. Jesse lebt mit seiner alleinerziehenden Mutter Viv (Gaby Hoffmann) in Los Angeles. Als Viv beschließt, ein paar Wochen in Oakland zu verbringen, um ihren an einer bipolaren Störung leidenden ehemaligen Ehemann Paul (Scoot McNairy) nach ­einem erneuten Zusammenbruch von einem Klinikaufenthalt zu überzeugen, bietet ihr in New York lebender Bruder an, in dieser Zeit für Jesse zu sorgen. Da sich Onkel und Neffe kaum kennen, was auch an einem Streit zwischen Viv und Johnny über ihre inzwischen verstorbene Mutter liegt, verhalten sie sich in den ersten Tagen noch distanziert zueinander. Johnny muss sich an seltsame Verhaltensweisen seines Neffen gewöhnen, etwa an dessen allabendlichen Drang zu skurrilen Rollenspielen vor dem Schlafengehen. Jesse hingegen ist mit den Launen seines Ersatzvaters konfrontiert, der als alleinstehender urbaner Endvierziger bisher keine Verantwortung für jemand anderen als sich selbst übernehmen musste.

Als Vivs Aufenthalt in Oakland länger als erwartet dauert und Johnny seinen Neffen auf eine Interview-Reise nach Detroit, New Orleans und Chicago mitnimmt, wächst das gegenseitige Vertrauen. Abends lümmeln die beiden auf dem Sofa, lesen sich aus Büchern vor, springen ­albernd durch die Wohnung – Szenen voller Zuneigung und Intimität. Wie den Kindern und Jugendlichen, die er interviewt, begegnet Johnny auch seinem Neffen von gleich zu gleich.

So ist auch das Verhältnis von Mills zu seinen Figuren. Sie wirken nie, als entsprängen sie einem alles bestimmenden Drehbuch, sondern bergen jede Menge unaufgelöste ­Widersprüche, Beschädigungen und Überraschungen. Eines Tages stellt Jesse Johnny selbst Fragen, die den Journalisten sichtlich aus der Bahn werfen. Ob er Probleme habe, mit den eigenen Emotionen umzugehen. Warum er sich von seiner Freundin getrennt habe, obwohl sie sich noch liebten. Ob er wirklich Viv geraten habe, Jesses Vater Paul zu verlassen, weil er zu krank sei, um für ihn sorgen zu können.

So weit, so rührend. Doch alles andere als weinerlich. Dies gelingt etwa dadurch, dass Mills, wenn die Handlung die Schwelle zum Kitsch überschreiten könnte, oft eine Abstraktionsebene einführt, auf der der Film über Fallstricke familiärer Beziehungen oder soziale Folgen psychischer Krankheiten reflektiert. So ruft Johnny regelmäßig seine Schwester an und fragt sie um Rat, wenn ihn die hermetische Binnenlogik des Neunjährigen verzweifeln lässt.

Die Telefonate ergänzt dabei eine Stimme aus dem Off, die Textpassagen aus theoretischen Schriften zitiert, etwa aus dem Essay »Mothers« (2018) der britischen Psychoanalytikerin Jacqueline Rose: Mutterschaft sei der ultimative Sündenbock für unser persönliches und politisches Versagen, für alles, was mit der Welt nicht stimme, sagt die Stimme, und es werde zur – natürlich unerfüllbaren – Aufgabe der Mütter, diese Schäden zu reparieren. Tatsächlich findet sich Johnny als Mann für kurze Zeit in der Rolle der Mutter wieder, wenn er Jesses Wutausbrüche und Traurigkeit aus der Welt zu schaffen sucht und daran stets scheitert – wenn auch nie ohne Humor.

Auch bewahrt den Film vor dem Kitsch, dass er ähnlich dem Gemüt ­eines Kindes rasch zwischen Witz und Ernst, Euphorie und Trauer, Einkehr und Ekstase schwankt. So ist zum Beispiel Jesse bei einem Streifzug durch den Central Park zunächst deprimiert, als er von der ­Klinikeinweisung seines psychisch kranken Vaters hört, im nächsten Moment jedoch schon wieder abgelenkt und rennt lachend einem Schwarm vorbeifliegender Vögel hinterher.

Ein weiterer Grund dafür, dass das oft melancholische Drama nie verkrampft, ist die visuelle Ästhetik. Mills zeigt, wie schon in »Thumb­sucker« (2005) oder »Jahrhundertfrauen« (2016), radikalen Willen zur Form und arbeitet mit subtilen Kontrapunkten: So werden hitzige Dia­loge in langen Einstellungen gezeigt und kontemplative, von atmosphärischer Musik unterlegte Passagen von bewegten Luftaufnahmen konterkariert. Bilder von den wolkenumsäumten Skylines New Yorks und Chicagos, den sonnengetränkten Strandpromenaden von Los Angeles und den heruntergekommenen Wohnvierteln in New Orleans verleihen dem ganz in Schwarzweiß gehaltenen Film eine Atmosphäre des Zeit­losen.

Mills‘ gutes Gespür für ein ungewöhnliches Zusammenspiel von Ton und Bild stammt womöglich aus der Erfahrung als Musikvideo-Regisseur für Musiker und Bands wie Moby, Air oder The National. Sehr schön ist in dieser Hinsicht auch die Szene, in der die Geschwister zum ersten Mal seit einem Jahr telefonieren: Auf der Tonspur läuft der Dialog, während die Bildspur im Rückblick Szenen zeigt, in denen sie sich heftig streiten. Wie die beiden wild herum gestikulierend, hin- und herlaufend, sich anschreiend zu sehen sind, während sie eigentlich versöhnlich miteinander sprechen, ist große Kunst.

Mills überlässt wenig dem Zufall – jeder Schnitt sitzt, jede Szene wirkt akribisch durchkomponiert. Etwa die, in der ein Mädchen im Interview ihre Sorge vor dem Sterben der Erde verkündet, während sich in den Fenstern eines Hochhauses die vorbeiziehenden Wolken spiegeln. ­Beeindruckend, wie es dem Film gelingt, seine Gemachtheit zu ver­bergen und alles natürlich wirken zu lassen.

Nur eines ließe sich ankreiden: Jesse, der sich im Laufe des Films immer mehr vom Trübsal der familiären Situation emanzipiert, wirkt gelegentlich ein bisschen zu schlau für sein Alter. Kann ein Neunjähriger wirklich die Neurosen des Onkels derart eloquent analysieren wie eines Nachts, als er in Johnnys Aufnahmegerät spricht? Vielleicht aber steht Jesse, wie die anderen Kids, die sein Onkel interviewt, für eine smartere Generation, die weiß, dass sie keine bessere Zukunft haben kann, wenn sie nicht die Fehler der Menschen in der Gegenwart angeht. Und dass Fragen manchmal wichtiger sind als Antworten. Schließlich helfen sie dabei, erst einmal zuzuhören und offen zu sein für das Gegenüber.

Come on, Come on (USA 2021). Regie: Mike Mills. Mit Joaquin Phoenix, Gaby Hoffmann, Woody Norman. Kinostart: 24. März