Der Fußball in der Kreisliga lebt von seiner Authentizität

Dat is Kreisliga, dat raffste nie

Seit Jahrzehnten wird über die Kommerzialisierung des Fußballs geklagt – dabei gibt es Alternativen.

Sonntagmittag, 13 Uhr. Ein paar alte Grantler stützen ihre Unterarme auf die etwas überhüfthohe Reling. Ihre tiefen Augenringe, Überbleibsel des gestrigen Kirmesbesuchs, sind durch Sonnenbrillen verdeckt. Hinter ihnen steht eine kleine hölzerne Bude, aus der heraus eine ebenfalls ältere Dame Bratwurst, lauwarmen Kaffee und eiskaltes Bier verkauft.

Auf dem Platz werden derweil mit quietschenden Reifen die letzten Meter abgekreidet, alle warten eher gleichgültig als gebannt auf den Anpfiff. Im Hintergrund dröhnen durch ächzende Lautsprecher Lieder über Fußball, Liebe und Bier.

Dass Kommerzialisierung ausgerechnet die Fans von fußballerischen Aktiengesellschaften oder Gesellschaften mit beschränkter Haftung stört, ist absurd.

Als der Schiedsrichter, ein pensionierter Versicherungskaufmann, seinen Weg in den Mittelkreis gefunden hat, den er für die nächsten zwei Stunden nicht zu verlassen gedenkt, ertönt zum allgemeinen Unwohlsein seine schrille Pfeife. Die Spieler, von denen nicht wenige noch länger auf der Kirmes waren als die Zuschauer, betreten den Rasen. »Denkt dran, Männers, flach schießen, hoch gewinnen«, ruft ihnen der Trainer zu, der einmal in der Landesliga gespielt hat und nur aufgrund einer Kette unglücklicher Zufälle kein Profi geworden war.

Die Trikots sind ausgewaschen, das Logo des Sponsors, eines lokalen Gerüstbauers, erinnert mehr an das einer Black-Metal-Band als an das ursprüngliche Design. Penibel achtet der Schiedsrichter darauf, dass alle Schienbeinschoner richtig sitzen.

In den nächsten anderthalb Stunden wird er vor allem auf die korrekte Ausführung der Einwürfe achten, der Rest wird sich schon irgendwie regeln. Ein etwas übermotivierter Mann, seit 23 Jahren auch Zuschauer bei den Vorstandssitzungen des Vereins, beginnt mit einer Spendendose in der Hand, zwei Euro von sämtlichen männlichen Zuschauern einzusammeln. Für die Jugendabteilung, die neue Stutzen braucht.

Die Damen dürfen kostenlos zusehen. Was bei den einen ein Grund zur Freude ist, fühlt sich für die anderen diffus falsch an. Was daran komisch ist, wissen sie aber auch nicht genau. Ohnehin beansprucht der Nachwuchs, der immer wieder zu Papa aufs Feld rennen möchte, alle Aufmerksamkeit. Hunde bellen, Kinder spielen.

Es ist immer das Gleiche, seit 30 Jahren. Viele sind auch schon so lange dabei. An jedem zweiten verdammten Sonntag. Das Einzige, was neu ist, sind rund ein Dutzend junger Leute, die irgendwelche Fahnen anschleppen und Fangesänge, die die meisten hier nur aus dem Fernsehen kennen, auf ihren Verein umgemünzt haben. »Oleoleole, FCG. Scheiß SVM. Allez, allez, allez.« Zwar findet der Großteil der Anwesenden dieses Verhalten etwas befremdlich, ein heim­liches, sympathievolles Schmunzeln bekommen die engagierten jungen Fans aber doch, wenn sie angesichts eines sehr theatralisch zu Boden sinkenden Spielers des gegnerischen Teams einen »Hub-, Hub-, Hubschraubereinsatz« fordern.

Was hier mit Blick auf die großen Fußballfanszenen kopiert und irgendwie falsch daherkommt, ist wohl das Ehrlichste, was der Fußball heutzutage zu bieten hat. Keinem der Anwesenden ist bewusst, dass die Kickerei gerade hier lebt. All die großen Debatten darüber, wie sehr sich der Fußball von der Basis entfernt habe, sind mehr als gerechtfertigt. Kommerzialisierung, Ablösesummen jenseits der allgemeinen Vorstellungskraft, personalisierte Tickets und exorbitante Spielergehälter – was haben die Leute eigentlich erwartet?

Die Debatte über die Kommerzialisierung des Fußballs wird geführt, als wäre es an den Fans völlig vorbeigegangen, dass wir im Kapitalismus leben. Natürlich haben Brausehersteller und andere große Unternehmen ein Interesse daran, den Sport und alles, was dazu gehört, zu monetarisieren. Dass dies ausgerechnet die Anhängerinnen und Anhänger von fußballerischen Aktiengesellschaften oder Gesellschaften mit beschränkter Haftung stört, wirkt jedoch absurd.

Die schmerzliche Erfahrung, dass, wer im Kapitalismus lebt, auch nach dessen Regeln spielen muss, haben schon viele machen müssen. Dass es möglich ist, sich Refugien zu schaffen, in denen man zumindest so tun kann, als wären sie von gängigen Konventionen unabhängig, aber auch. Man kann, wie auch schon vor 30 Jahren, das lokale Autonome Zentrum besuchen, Bier gegen Spende trinken, Konzerte besuchen, die nur um ihrer selbst willen stattfinden, statt um die Kassen einer Veranstaltungsfirma zu füllen. Und man kann nicht selten Bands angucken, die zwar keine Zukunft im Kommerz haben werden, aber trotzdem gerne spielen. Mit nicht mehr als dem, was ihnen zur Verfügung steht.

Er hat etwas Ursprüngliches, der Punk. Er ist eine der inklusivsten Musikrichtungen, die es gibt. Es bedarf keiner reichen Eltern, um das eigene Repertoire von drei bis fünf Akkorden auf der bei Ebay-Kleinanzeigen billig erworbenen Gitarre zu füllen. Die Texte sind mehr oder weniger politisch, oft handeln sie aber auch nur vom Suff. Sie werden die große Öffentlichkeit wohl nie erreichen, und doch umgibt sie eine weitverbreitete Subkultur. Was guter Punk ist, legt eben diese Subkultur fest und nicht das Gros der Musikaffinen. Somit muss Güte im Punk auch anders bemessen werden. Genau wie in einem Kreisligaspiel. Vielleicht ist Punk nicht immer angenehm zu hören, ebenso wie ein Kreisligaspiel nicht immer angenehm anzusehen ist.

Beides lebt von Authentizität. Vielleicht muss man also auch an den Fußball der Kreisliga anders herangehen und seine Güte nicht daran bemessen, mit wie viel Effet der Ball getreten werden kann, sondern dar­über jubeln, dass nach durchzechter Nacht überhaupt der eine oder andere einen Ball trifft.

Die Kreisliga braucht keine Internate, keine Werbeverträge mit Autoherstellern oder Katar, sie braucht keine reichen Eltern. Die Fanszenen, die sich um Kreisligateams gebildet haben, haben das verstanden. Zumindest könnte man ihnen das unterstellen.

Interessanterweise sind sie ähnlich facettenreich wie Punkmusik. Viele sind zum Saufen da, manche für die Politik. Erstere finden sich in vielen, sehr vielen Dörfern und Kleinstädten. Letztere sind weniger verbreitet als Politik im Punkrock.

Aber es gibt sie doch, die politischen, aktiven Fanszenen im Amateurbereich. In Lüneburg (FC Dynamo), Leipzig (Roter Stern), Hannover (Linden 07) und Kassel (Dynamo Windrad), um nur einige zu nennen. Dass Fußball politisch ist, haben sie anerkannt und machen es sich zunutze. Nicht selten nehmen die Fans dabei mehr Einfluss auf den Verein, als das im Profibereich möglich wäre. Plötzlich gibt es vegane Würstchen, auch mal alkoholfreies Bier, und zumindest dem eigenen Team wird klar, dass dort kein Raum ist für die homophoben Sprüche, die auf den Kreisligaplätzen des Landes bei jeder Gelegenheit fallen. Zahlen müssen alle oder muss niemand, unabhängig vom Geschlecht.

Gerade die Exklusivität des aktiven Supports schweißt die Mitglieder enger zusammen – wer einmal kommt, bleibt. Dort findet eine echte Identifikation mit den transportierten Werten statt. Manchmal kommt ein Schiedsrichter zur Halbzeit zu den Fans und bedankt sich; er habe Gänsehaut und hätte nicht gedacht, auf seine alten Tage vor so einer Kulisse pfeifen zu dürfen. Das alles sind Geschichten, die bei den großen Vereinen trotz oder wegen deren Strukturstärke kaum denkbar sind.

Das hat sich auch während der Covid-19-Pandemie gezeigt. Während die Profis in leeren Stadien spielten, war in der Kreisliga klar: alle oder keiner. Und so konnte man, während sich Millionen vor den Fernsehern niederließen, um sich eingespielten Jubel anzuhören, einfach zum nächsten Sportplatz fahren, um sich ein Spiel anzusehen. Mit echter Freude über ein geschossenes Tor statt über die dazugehörige Prämie und ohne minutenlange Unterbrechungen für den Videoschiedsrichter. Und das entweder gratis oder für den Bruchteil des Preises für ein Bier in einem der großen Stadien.

Wer sich also beschweren mag, dass der Fußball sich von seiner Basis entfernt, hat jedes Recht, das zu tun. Vergessen sollte man aber nie, dass der Grund der Kapitalismus ist und nicht dieser herrliche Sport. Es ist auch möglich, sich in dieser Subkultur ein Refugium zu schaffen. Statt für ein Konzert 70 Euro auszugeben, auf dem mit den meisten eh nichts anzufangen ist, für fünf Euro plus Spende drei geniale Punkbands sehen. Sie werden nicht gut abgemischt sein und der Boden wird kleben. So richtig verstehen, was sie da tun, wird man vielleicht auch nicht. Aber es wird authentisch sein. So authentisch wie ein unebener Acker in der Kreisliga.