Über die Notwendigkeit und Grenzen von Faktenchecks

Uncheckbare Wirklichkeit

Warum eine Meldung über einen Verkehrsunfall an der Siegburger Straße nicht objektiv sein kann und das Bekenntnis zur politischen Wahrheit nötig ist: Notwendigkeit und Grenzen des Faktenchecks.

Gerne wird in Debatten über Fake News das Winston Churchill zugeschriebene Bonmot bemüht: »Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe.« Die Vorstellung hinter dieser Aussage, nämlich dass da jemand »gefälscht«, also die Wahrheit zur Lüge umgedreht habe, ist leichter zu akzeptieren als die Vorstellung, dass eine Statistik, selbst wenn sie korrekt ist, stets auslegungsbedürftig bleibt.

Schließlich würde man sich selbst gern auf Fakten berufen können, um die eigene Meinung zu rechtfertigen. Die Frage bei Statistiken wie bei Daten allgemein lautet weniger, ob sie stimmen oder falsch sind, als vielmehr, wie sie eingesetzt werden. Denn mit denselben Zahlen kann oft das eine und das Gegenteil davon behauptet werden, der Fälschung bedarf es gar nicht.

Früher wurde hin und wieder eine Meldung in der Zeitung als »Ente« entlarvt. Heutzutagee sind Enten ständige, geradezu alltägliche Begleiter im Internet.

Es geht schon damit los, welche Zahlen aus einer Statistik überhaupt Gegenstand der Berichterstattung werden. Als im März die Kriminalstatistik veröffentlicht wurde, titelte die Zeit: »Zahl erfasster Straftaten sinkt zum fünften Mal in Folge«, die Welt: »Mord, Totschlag, Körperverletzung – Hoher Anteil von ausländischen Verdächtigen«, und der Spiegel: »Innenministerin Faeser spricht von ›entsetzlichem Ausmaß‹ bei Kindesmissbrauch«. Allen Redaktionen lag dieselbe Statistik vor. Ob bei den Verkehrsunfall- oder den Arbeitslosenzahlen: Statistiken sind zwingend immer nur eine Auswahl aus der Wirklichkeit und fußen auf zahlreichen Prämissen. Etwa: Wer gilt überhaupt als arbeitslos?

Bei Themen, bei denen die Datenlage noch sehr viel komplexer, um nicht zu sagen überkomplex ist, weil teils von der Menschheit noch unverstanden, und die darüber hinaus auf dem gesamten Globus gleichzeitig diskutiert werden, ist das Sortiment, aus dem die für die eigenen Zwecke passenden Zahlen herausgefischt werden können, noch sehr viel größer. Gerne wirft die eine Seite der anderen »Rosinenpickerei« vor, kann im Grunde selbst aber auch nicht mehr tun, als gezielt Wahrheiten auszuwählen. Selbst wenn man seriöse Zahlen hätte, sagen wir, zum Zusammenhang zwischen Maskenpflicht und Covid-19-Infektionszahlen in einem bestimmten Zeitraum in Hamburg, wären diese nur eine Momentaufnahme und wenig aussagekräftig ohne Vergleich mit dem Vorjahr und dem Vorvorjahr, mit einer anderen Stadt oder gar allen Städten in allen anderen 193 Staaten der Welt und ohne die Möglichkeit, Zusammenhänge mit den anderen geltenden Pandemiemaßnahmen und mit der Bereitschaft der Bevölkerung, sich an die Maßnahmen zu halten, ernsthaft zu analysieren. Sprich, man hat korrekte Zahlen, aber sie allein taugen weder für Smalltalk noch für Twitter oder für einen eineinhalbminütigen »Tages­schau«-Beitrag. Doch notwendigerweise muss sich die Berichterstattung der Medien ebenso wie die Entscheidung eines Politikers auf bestimmte Daten konzentrieren, deren Auswahl den Bereich der Wissenschaft verlässt und den der Politik betritt. Das bedeutet nicht, dass man diese Auswahl nicht treffen sollte – man muss es tun –, aber es ist eben eine politische Auswahl.

Man nehme zum Beispiel folgende sich auf Deutschland beziehenden Aussagen: »Wetterbilanz 2021: Temperaturen das elfte Jahr in Folge zu warm« (Redaktionsnetzwerk Deutschland); »2021 war eines der sieben heißesten Jahre seit Beginn der Aufzeichnungen« (ZDF.de); und: »2021 war mit 9,1 Grad um 1,3 Grad deutlich kühler als 2020 und liegt sogar um -0,2 Grad Celsius unter dem Mittel von 1991 bis 2020« (Tichys Einblick). Sie stehen nur scheinbar im Gegensatz zueinander. Sie alle lassen sich auf der Grundlage derselben Zahlen treffen. Selbst wenn man sich auf korrekte Zahlen beschränkt, ist es ihre Auswahl und Einordnung, die für die Diskussion entscheidend ist.

Tatsächlich ist nicht die Datenerhebung, sondern das Einordnen von Fakten, das Herstellen von Zusammenhängen der Beginn der gesellschaftlichen Diskussion, der politischen Auseinandersetzung. Fakten einzuordnen, ist jedoch nicht dasselbe, wie sie zu überprüfen. Solche Einordnung ist auch Wesenskern des Journalismus, des politischen Journalismus, einen anderen gibt es ohnehin nicht. Die Meldung – jetzt ein fiktives Beispiel –, dass es einen Verkehrsunfall an der Siegburger Straße gab, mag noch halbwegs objektiv sein. Ein Fakt, mit dem wir allerdings noch nicht viel anfangen können. Und auch der Redaktion wird dies nicht genügen, denn diese Aussage füllt nur eine Zeile. Wenn jedoch außerdem erwähnt wird, dass es an derselben Straßenecke dieses Jahr schon vier Unfälle gab, ist das eine Einordnung, die Herstellung eines Zusammenhangs.

Hier wird die Nachricht erst interessant – sie ist allerdings nicht mehr objektiv. Denn vielleicht gab es ja in den Jahren davor noch viel mehr Unfälle, und dieses Jahr waren es erstmals nicht über neun, sondern nur vier, was eine ganz andere Bewertung zur Folge hätte. Es kommt vielleicht auch darauf an, wer die Unfälle verursacht hat, wie schlimm sie ausgegangen sind und so weiter. Das alles sind Fakten, die zur Einordnung dienen, aber niemals vollständig sein können und daher immer ausgewählt sind und zwar in der Regel danach, was der Journalist damit sagen möchte. Daran ist nichts verkehrt, man muss sich dessen nur bewusst sein.

Daher sind Faktenchecks, die nicht die Fakten checken – also in diesem Beispiel, ob es einen Unfall gab oder nicht –, sondern die Einordnung des Faktums bemängeln, im Grunde keine Faktenchecks, sondern Kommentare. Allerdings werden landauf, landab solche Kommentare als Faktenchecks verkauft.

Das Problem mit der Wahrheit im Journalismus ist allerdings noch größer, denn selbst die Meldung, es habe einen Verkehrsunfall an der Siegburger Straße gegeben, ist nicht nur objektiv. Denn während – in diesem fiktiven Beispiel – der Unfall passierte, wurden womöglich in Kasachstan 19 Menschen auf einer Demonstration erschossen, in Westafrika waren 50.000 Menschen vom Verhungern bedroht, und selbst in der Siegburger Straße gab es noch unzählige andere Ereignisse an diesem Tag: Die Müllabfuhr kam nicht, eine Krähe fraß ein Eichhörnchen, ein Kind hat Oma Müller über die Fahrbahn geholfen und der Nazi-Karl den Briefträger homophob beleidigt. Die Entscheidung, ausgerechnet über den Verkehrsunfall zu berichten, ist eine, die nur vor einem gesellschaftlichen Hintergrund zustande kommt, in dem genau so etwas als berichtenswert gilt und anderes nicht.

Faktenchecks sollten nur dann als solche bezeichnet werden, wenn sie tatsächlich Falschmeldungen, also Fake News, entlarven. Wenn in den sozialen Medien die von einem Screenshot untermauerte Meldung kursiert, der Holsteinische Courier habe berichtet, dass russische Schüler an deutschen Schulen wegen des Kriegs nicht mehr am Unterricht teilnehmen dürften, und dann das Faktencheck-Portal »Correctiv« aufdeckt, dass es im Holsteinischen Courier nie eine solche Meldung gegeben hat, der Screenshot manipuliert ist und es auch überhaupt keine Beweise für die Behauptung gibt, dass russische Schüler derart ausgegrenzt würden, ist das ein notwendiger, echter Faktencheck. In klassischen Medien übernimmt das eine Redaktion.

Früher wurde hin und wieder eine Meldung in der Zeitung als »Ente« entlarvt. Heutzutage sind Enten ständige, geradezu alltägliche Begleiter im Internet, es gibt ganze Fabriken, in denen sie hergestellt werden, wie Recherchen über die Trollfabriken Wladimir Putins gezeigt haben. Die ebenso professionell betriebene Einordnung »echter« Fakten, die von politischen und ökonomischen Interessengruppen bei Agenturen in Auftrag gegeben wird, die explizit das Ziel haben, »Storys zu machen«, kommt noch dazu.

Pandemie, Klimawandel – wir leben in Zeiten, in denen die Wissenschaft extrem wichtig ist, und die Menschen wissen das auch und würden sich gern auf sie verlassen. Umso schlimmer, dass gleichzeitig das Misstrauen gegenüber Zahlen und Fakten ein dramatisches Ausmaß angenommen hat. Schuld daran sind auch die falschen Faktenchecker. Falsche Fakten und Daten können aufgedeckt werden, das passiert aber in den seltensten Fällen. Dagegen ist die Einordnung von Fakten und Daten nicht objektiv zu checken, sondern ist Politik. Die Bereitschaft, das einzusehen und politisch Position zu beziehen, ist notwendig, um einen Begriff von Wahrheit zu erhalten. Denn Wahrheit ist politisch oder sie ist keine.