Das Weltbild des Coronaleugners und verurteilten Mörders eines Tankstellenmitarbeiters, Mario N.

Hetze bis zum Mord

In dieser Woche fiel das Urteil gegen Mario N., der vergangenes Jahr einen Tankstellenkassierer erschoss, weil der ihn auf die Maskenpflicht hinwies. Seine von rechten Medien befeuerte Radikalisierung hatte schon Jahre zuvor begonnen.

Als »Maskengegner« wurde Mario N. in der Berichterstattung mancher Medien verharmlost. Der 50jährige Software-Entwickler hatte am 18. September in Idar-Oberstein einen Tankstellenmitarbeiter erschossen, nachdem dieser ihn dazu aufgefordert hatte, eine Mund-Nasen-Maske zu tragen. Nun ist der Gerichtsprozess gegen N. zu Ende gegangen. Die Verteidigung hatte am 9. September auf Totschlag mit erheblich eingeschränkter Schuldfähigkeit plädiert – mit der Begründung, dass N. während der Tat unter Alkoholeinfluss stand und sich in einer psychischen Krisensituation befunden habe. Die Staatsanwaltschaft hatte zuvor lebenslange Haft gefordert. Das Gericht schloss sich in seinem Urteil der Staatsanwaltschaft an und stellte volle Schuldfähigkeit und »niedere Beweggründe« fest: N. erhielt eine lebenslange Freiheitsstrafe.

Mordphantasien und -drohungen hatte es aus dem Milieu der Maßnahmengegner und Coronaleugner schon vorher gegeben. Es war allerdings das erste Mal, dass der im Netz und auf den Straßen gesäte Hass zu einem Mord führte. Der 20jährige Alexander W., der als Kassierer in der Tankstelle jobbte, hatte N. auf die Maskenpflicht hingewiesen, als dieser Bier kaufen wollte. Es entbrannte ein Streit, N. ging nach Hause, kehrte mit einem geladenen Revolver zurück und tötete W. mit einem Schuss in den Kopf. Am Morgen nach der Tat schickte N. seinem Schwager in den USA eine Nachricht: »I shot this asshole.«

Die Verteidigung argumentierte im Laufe des Gerichtsverfahrens, dass N. sich in einer Lebenskrise befunden hätte. Sein Vater hatte Anfang 2020 Suizid begangen und zuvor versucht, N.s Mutter umzubringen. Hinzu sei die Be­lastung durch die von N. als unsinnig empfundenen Coronamaßnahmen ­gekommen.

Doch Ralf Werner, der vom Gericht bestellte psychiatrische Gutachter, schloss eine schwerwiegende Persönlichkeitsstörung aus. Mario N. sei voll schuldfähig – und eigentlich intelligent genug, um Desinformation und Verschwörungsmythen durchschauen zu können, sagte der Psychiater im Juli aus. Auch habe N. nicht im Affekt gehandelt.

Eine Kriminalpsychologin, die unter anderem Chat-Verläufe von N. ausgewertet hatte, attestierte N. eine »Objektivierung und Dehumanisierung von Menschen«. Aufgrund seines persönlichen Scheiterns habe er sich ein »Sündenbock-Narrativ« aufgebaut und sein Opfer als »Stellvertreter für sein persönliches Feindbild« gesehen.

Die Feindbilder und hetzerischen Mythen, denen N. gefrönt hatte, stammen aus rechtspopulistischen und rechtsextremen Medien. Der Kriminalpsychologin zufolge habe N. bereits vor Ausbruch der Pandemie ein »ausländerfeindliches, rassistisches, extremistisches Weltbild« entwickelt.

Einen Einblick ins Denken von Mario N. bietet sein Twitter-Account, den er bis 2019 aktiv genutzt hat. Dort teilte er unter anderem Beiträge von Björn Höcke, dem AfD-nahen Deutschlandkurier und der neurechten Wochen­zeitung Junge Freiheit. Unter einem Post Höckes, in dem dieser seine »Bestürzung« über den Terroranschlag auf die Synagoge in Halle (Saale) zum Ausdruck bringt, kommentiert N.: »Bitte keine Arschkriecherei. Sie und ich ­wissen, dass dieser Anschlag kein Zufall ist.« Ein verschwörungstheoretisches Weltbild hatte sich offenbar auch schon zu dieser Zeit herausgebildet: »Es geht derzeit, so wie immer, um globale Machtergreifung. Das ist das Endziel«, schrieb er im September 2019. Auch in den gängigen Verschwörungsmythen zur Covid-19-Pandemie sei N. »bewandert« gewesen, berichtete Spiegel Online unter Berufung auf Ermittlerkreise.

N. zeigte allerdings nicht nur an AfD-Politikern Interesse, sondern auch am rechten Rand der CDU. Auf Twitter folgte er nur 26 Accounts, darunter dem von Vera Lengsfeld, Mitglied der rechtskonservativen Werteunion, und dem von Hans-Georg Maaßen, ehemals Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz. Außerdem folgte er dem damaligen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt und den rechtspopulistischen Online-Portalen »Tichys Einblick« und »Achse des Guten«.

In einschlägigen Telegram-Kanälen wurde N.s Tat überwiegend relativiert, teilweise sogar gefeiert. So zitierte der Blog »Volksverpetzer« einen User, der wenige Tage nach dem Mord schrieb: »Ich persönlich halte es für möglich, dass jemand derart konsequent gehandelt hat, und habe dafür Verständnis. (…) Das muss man mit Waffengewalt regeln.« Einige Gruppen, darunter die »Querdenken«-Gruppe aus Darmstadt und Attila Hildmann, witterten eine false flag-Aktion. Das Portal »Volksverpetzer« registrierte in der Zeit nach dem Mord weitere Übergriffe und Morddrohungen von Maskengegnern. In Erfurt beispielsweise hat ein 69jähriger Maskengegner den Mitarbeiter eines Getränkeladens mit Pfefferspray attackiert. Im ostwestfälischen Herford ist einem Gastwirt, der in seinem Lokal die 2G-Regel durchgesetzt hat, gedroht worden: »Hoffentlich kommt der Tankstellenschießer rum.«

Inzwischen scheint das Interesse der Szene am ersten Mörder aus ihren ­eigenen Reihen abgeflacht zu sein. Das Urteil war am Dienstag ganz offenbar nicht das bestimmende Thema in der Verschwörungs-Community.

Oft wird die Tat genutzt, um sich selbst als Opfer angeblicher staatlicher Repressionen darzustellen. »Es ist eine absolute Unverschämtheit, diesen gewaltvollen Mann stets als Querdenker zu betiteln«, meint ein »Querdenker« aus Bochum in einem einschlägigen Telegram-Kanal nach der Urteilsverkündung. »Presse und Politik« würden solche Fälle nutzen, um die Bewegung zu diskreditieren.

Ähnlich stellte es der in Österreich ansässige und auf Desinformation ausgerichtete Internetsender Auf 1 dar. Im April kommentierte dort der Moderator N.s Geständnis mit den Worten, es gebe immer »Kriminelle und Irre«, es sei jedoch ein »Unding«, unbescholtene Bürger mit diesen in einen Topf zu werfen. »Die Kriminalisierungsversuche gegen Corona-Maßnahmenkritiker haben System.« Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) – inzwischen ein prominentes Feindbild der Szene – nehme die Ereignisse von Idar-Oberstein zum Anlass, »Andersdenkende wie Verbrecher« zu verfolgen.

Kriminelle bis terroristische Ambitionen werden dem »Querdenken«-Milieu aber keineswegs grundlos angedichtet. Im Jahr nach dem Mord an der Tankstelle in Idar-Oberstein sind zwei extremistische Gruppen aus dem Milieu wegen der Planung schwerster Verbrechen zum Ziel von Ermittlungen geworden. Die »Vereinten Patrioten« wollten Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) entführen. Die Gruppe »Dresden Offlinevernetzung« plante offenbar, Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) zu töten. Die Köpfe der rechten und verschwörungsgläubigen Protestbewegung ­animieren ihre Anhänger nach wie vor, bestimmte Personen für das angebliche »Corona-Regime« verantwortlich zu machen. »Das ist nicht nur eine übergeordnete Struktur«, sagte Verschwörungserzähler Anselm Lenz ­seinen Zuhörern vergangene Woche auf der Montagsdemonstration in Leipzig. »Es gibt immer auch zugleich die persönliche Verantwortlichkeit für das, was geschieht.«