Hubert oder Helmut Aiwanger? Auch der »Jungle World«-Redaktion sind weder Jugendsünden noch Flugblätter fremd – allerdings waren sie bei ihr ganz anderer Art

Homestory #35/23

Von Zetteln zum »Castor schottern« über Flugblätter gegen frauenverachtende Untergrundmusik von Gangsta-Rappern und Pamphleten gegen Pali-Tücher bis hin zu einer Kritik an der Elendsverwaltung von Flüchtlingsunterkünften durch zivilgesellschaftliche Einrichtungen reichen die Texte, die einst von »Jungle World«-Redakteur:innen getippt und verteilt wurden.
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Da will man sich einen kleinen Schülerstreich erlauben und einen »Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz« oder einen »lebenslänglichen Aufenthalt im Massengrab« als Preis beim fiktiven Bundeswettbewerb »Wer ist der größte Vaterlandsverräter?« ausloben, und schon beschwert sich jemand Jahrzehnte später. Die Süddeutsche Zeitung hatte berichtet, dass Hubert Aiwanger als Schüler ein antisemitisches Flugblatt mit Passagen wie den zitierten auf einer Schreibmaschine verfasst und an seiner Schule verbreitet habe. Ob nun der Vorsitzende der Freien Wähler und stellvertretende Ministerpräsident Bayerns als Schüler selbst oder doch sein Bruder Helmut, der sich nach Erscheinen des Artikels verantwortlich erklärte, oder gar ein ganz anderes Familienmitglied für diese »Jugendsünde«, wie Helmut sie nannte, verantwortlich ist, lässt sich derzeit nicht beantworten.

Eindeutig nachweisbar ist aber: Auch der Redaktion Ihrer Lieblingszeitung sind weder Jugendsünden noch Flugblätter fremd – allerdings waren sie ganz anderer Art. Von Zetteln zur Kampagne »Castor schottern« über Flugblätter gegen frauenverachtende Untergrundmusik von Gangsta-Rappern auf dem Uni-Klo und Pamphleten gegen Pali-Tücher bis hin zu einer Kritik an der Elendsverwaltung von Flüchtlingsunterkünften durch zivilgesellschaftliche Einrichtungen reichen die Texte, die früher fleißig getippt und verteilt wurden. Ein Redakteur zog für Letzteres den Ärger antirassistischer Linker auf sich, die ihn fälschlich als Verfasser ausmachten und im Kino bedrohten. Hinter dem Inhalt steht er weiterhin.

Tatsächlich von einem Kollegen verfasst wurde eine Kampfschrift darüber, ob Schüler im Schulgebäude rauchen dürfen oder mit der Raucherecke im Hof vorlieb nehmen sollten. Die Progressiven – »allesamt Raucher« – haben dadurch ein eigenes Café im Schulkeller durchgesetzt.

Zum Schulstreik hat die halbe Belegschaft der Jungle World aufgerufen, die Gründe sind vergessen.

Es geht noch revolutionärer: Ein Redakteur hat sich street credibility erarbeitet, indem er die Kommandoerklärung der RAF zum Attentat auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback vom Stapel einer Konzertauslage mitgehen ließ, um sie mitsamt dekorativem Stern aus seiner Tasche blitzen zu lassen. Auch ein von ihm am 1. Mai 1983 mit verteiltes Flugblatt »Um 5 Uhr werden die Wachen gestürmt« führte zu Misstrauen unter Sozis und Peaceniks. Es ging aber nicht um eine Ankündigung autonomer Umtriebe, sondern um die Erinnerung an den Hamburger Aufstand 1923.

Eine Redakteurin musste als jahrelange Parteisoldatin beim Freien Sender Kombinat die Programmzeitschrift Transmitter unter die Leute bringen, hat sich aber lieber mit den Genossen vor der uncoolen Pflicht gedrückt und stattdessen in den Hamburger Randbezirken Bürgerversammlungen zur Verhinderung von Flüchtlingsunterkünften mit ihren Flugblättern gestört. Zum Schulstreik hat die halbe Belegschaft der Jungle World aufgerufen, die Gründe sind vergessen.

Ein Redakteur wurde allerdings früh vom Flugblattverfassen abgeschreckt von dem einen anonymen Irren, der alle paar Monate fotokopierte Zettel in die Briefkästen der Dorfbewohner geworfen hat, um über BRD-Marionetten aufzuklären. Dank X, früher Twitter, brauchen anonyme Irre sich die Mühe mit dem Copyshop ja nicht mehr machen.