»Zivilgesellschaft« in Österreich

Kampf um Begriffe

Während in Deutschland Zivilgesellschaft zur Entlastung des Sozialbudgets genutzt wird, steht sie in Österreich für freie Opposition. Eine Antwort auf Hito Steyerl.

Wie Hito Steyerl in Jungle World, 12/00, schreibt, schwebt in Österreich derzeit der Begriff Zivilgesellschaft »wie eine leere Sprechblase über fast allen Debatten.« Gemeint sei damit »ein Konglomerat aus demokratischer Konfliktkultur und unpolitischer Begeisterung. Weil er nichts bedeutet, können sich die einzelnen InteressensvertreterInnen darauf verständigen.« Da ist durchaus was dran. Je breiter die Allianz, die der Begriff beschreiben soll, desto leerer wird er inhaltlich.

Und doch: Der Begriff Zivilgesellschaft erfüllt in Österreich eine präzise Funktion, die er in der Bundesrepublik keinswegs hat. Unter deutschen Linken ist er übel beleumundet. Alex Demirovic hat entsprechende Befürchtungen vor einigen Tagen im Wiener »depot« geäußert: An die Zivilgesellschaft würden vormals staatliche Aufgaben delegiert. Wenn sich »ZivilbürgerInnen« zusammentun, um ein von der Schließung bedrohtes kommunales Schwimmbad weiterzuführen, dann würde das als zivilgesellschaftliche Eigeninitiative gefeiert. Natürlich gibt es auch diese Verwendung des Begriffs Zivilgesellschaft - etwa bei Ulrich Beck, der behauptet, das so genannte Ende der Arbeitsgesellschaft sei mit neuen Beschäftigungsformen im gemeinnützigen Bereich abzufedern. Ein Euphemismus für die neue Dienstbotengesellschaft, die sich in den USA schon besichtigen lässt.

Natürlich besteht damit die Gefahr, dass die »Zivilgesellschaft« zur Entlastung des Sozialbudgets genutzt werden soll. Aber die Bedeutung eines Begriffs ist nicht für immer festgelegt. Sie ändert sich von Kontext zu Kontext. Und wenn Zivilgesellschaft in der deutschen Diskussion einen Bereich un- oder pseudopolitischen Sozialmanagements bezeichnet, dann wird sie in Österreich fast schon gegenteilig verwendet: als Header für die partei-ungebundene politische Opposition. Diese Zivilgesellschaft demonstriert nicht für ein neues Schwimmbad, sondern gegen eine rassistische Regierung. Ein Unterschied, den man zumindest zur Kenntnis nehmen sollte, statt es der Zivilgesellschaft übel zu nehmen, dass sie nicht unter einem anderen Titel auftritt: etwa als »Soziale Bewegung«, »Volksfront« oder »Arbeiterkampf«.

Um dabei allzu große Konfusionen zu vermeiden, sollte man vor allem zwei Verwendungsweisen unterscheiden: eine eher analytische und eine politische. Analytisch wird der Begriff z.B. von Antonio Gramsci verwendet: Wenn die Vorherrschaft einer bestimmten Klasse von den Staatsapparaten durch Zwang abgesichert wird, dann wird sie das in der Zivilgesellschaft durch kulturelle Hegemonie, d.h. durch freiwillige Zustimmung und Übereinstimmung.

So gesehen ist Zivilgesellschaft ein analytisches Werkzeug, das es erlaubt, den Kampf um die kulturelle Hegemonie zu beschreiben. Als umkämpftes Terrain ist sie nicht nur Basis für die Stabilisierung der bürgerlichen Hegemonie, sondern auch Basis für gegen-hegemoniale Bewegungen. Wie der analytische Begriff Hegemonie selbst, ist somit auch der Begriff Zivilgesellschaft bei Gramsci neutral gegenüber den politischen Gruppen, die sich auf dem als societˆ civile bezeichneten Terrain tummeln.

Wer auf diesem Feld die Benennungshoheit hat, kann die eigene Sicht der Dinge durchsetzen, kann einen Verständnishorizont anbieten, der die Gesellschaft in ein bestimmtes Licht, zum Beispiel ein wirtschaftsliberales taucht. Im österreichischen »Stellungskrieg« (Gramsci) um die Benennungsmacht waren durchaus einige unerhoffte Siege zu verzeichnen: Wurde zum Beispiel in den letzten Jahren generell auf Verharmlosungen wie »Ausländerfeindlichkeit« oder »Populismus« ausgewichen, so darf seit den Wahlen Rassismus als Rassismus bezeichnet und Rechtsextremismus, zumindest unter Berufung auf die Sprachregelung der EU-Mitgliedsstaaten, als Rechtsextremismus bezeichnet werden. Verwirrenderweise ist genau auf dem Terrain der Zivilgesellschaft »Zivilgesellschaft« nun ebenfalls so ein Begriff, mit dem und um den gekämpft wird.

Seine heutige Verwendungsweise ist bereits ein kleiner Benennungserfolg. Vor der letzten Wahl hatte ÖVP-Mastermind Andreas Khol die »Bürgergesellschaft« als konservativen Wahlkampfhit ins Rennen geschickt. Darunter wurde die Delegation staatlicher Aufgaben in den Bereich der gegenseitigen »zivilgesellschaftlichen« Nachbarschaftshilfe verstanden: also das bekannte Komplementärkonzept zum Neoliberalismus, vor dem Alex Demirovic zu Recht warnt.

Bloß ist dieser Kholsche Besetzungsversuch via »Bürgergesellschaft« peinlich gescheitert. Inzwischen werden auch im politischen Mainstream-Diskurs gerade die oppositionellen Bewegungen als die Zivilgesellschaft und die Aktiven des Widerstands als Mitglieder der Zivilgesellschaft verstanden. Der Begriff hat damit einen linken Spin bekommen.

Auch wenn man sich's nicht aussuchen kann, treffender für die so bezeichneten Bewegungen wäre der Begriff »freie Opposition«. Der Begriff Opposition lässt keinen Zweifel aufkommen, dass es sich um eine politische Bewegung gegen die Regierung handelt und nicht um unpolitische Sozialdienste oder um regierungstreue Heimatdienste (die nach Hito Steyerl sonst auch unter Zivilgesellschaft fielen). Und »frei« ist sie von unmittelbarer Zugehörigkeit zur Parteienopposition von SPÖ und Grünen.

Eine der Aufgaben dieser freien Opposition wird es sein, die Oppositions-Policies lautstark mitzudefinieren. Und zwar nicht, indem man sich in die Parteien begibt und darin umkommt, sondern indem man eben eine freie Opposition als Konkurrenz zur Parteienopposition aufbaut. In Österreich ist das tatsächlich etwas Neues: Unter dem gütigen Despotismus sozialdemokratischer oder christlich-sozialer Patriarchen wurden bislang selbst noch die Staatsfeinde vom Parteienstaat gesponsert. Damit dürfte es endgültig vorbei sein.

Gut so. Die Unabhängigkeit von den Oppositionsparteien wird umso wichtiger in einem Moment, in dem SPÖ-Chef Gusenbauer und Grünen-Chef Van der Bellen das Projekt »linker Patriotismus« ausgerufen haben. Ein Projekt, das sie besser »linker Opportunismus« hätten nennen sollen, denn es geht um den Schulterschluss mit der Mehrheitsmeinung (und damit der Regierung), die EU-Sanktionen seien ungerechtfertigt und überzogen.

Die Parteiopposition glaubt also, Provinzialismus mit dem besseren Provinzialismus des »besseren Österreichs« bekämpfen zu können. Dem muss die freie Opposition mit internationaler Vernetzung kontern, durch ihren Beitrag zu etwas, das Derrida die »neue Internationale« nennt: Eine partei- und staatenlose Allianz, »eine Art Gegen-Verschwörung«, die die Kritik an Staat, Nation, Volk, Rasse, etc. erneuert und radikalisiert. Diese Kritik gilt es - neben der Kritik an der FPÖVP - voranzutreiben. Die freie Opposition muss also vom Ansatz her internationalistisch sein, schon allein, weil der politische Rest vom Ansatz her nationalistisch ist.

Die eigentliche Überlebensfrage der freien Opposition wird aber sein, wie der Motivationsschub der ersten Demonstrationen auf Dauer verfestigt werden kann. Wie lassen sich Infrastrukturen bilden, die unabhängige Oppositionsarbeit auch dann noch ermöglichen, wenn die erste Begeisterung verklungen ist? In einer Konferenz der IG-Kultur sollen Ende des Monats dazu wenigstens ein paar Grundsteine gelegt werden. Dabei sollen unter anderem zwei wichtige Einzelmaßnahmen besprochen werden. Zum einen die zur Zeit von mehreren Seiten angedachte Bildung einer Alternativregierung, die nicht aus »Köpfen«, sondern aus Initiativen und (im weitesten Sinne) NGOs der jeweiligen Fachbereiche bestehen soll. Damit wäre der freien Opposition auch inhaltliche Kompetenz gegeben. Nicht wenig bei einer Regierung, die als die inkompetenteste der österreichischen Nachkriegsgeschichte gilt und obendrein das Frauenministerium und das Umweltministerium abgeschafft hat.

Zum anderen wird es um die Frage der Gründung neuer Medien gehen. Nicht zuletzt wegen des völligen Mangels an kritischen Medien hatte die Front der Normalisierer von Rassismus und Rechtsextremismus zuletzt die nahezu totale öffentliche Deutungsmacht errungen. Neben der Vernetzung existierender freier Medien - erste Ansätze gibt es bereits im Bereich der Radio- und Kulturinitiativen - muss es auch zu einer Fokussierung in Referenzmedien kommen, die genug Gewicht aufweisen, um tatsächlich in die breitere öffentliche Debatte eingreifen zu können.

Das einzige österreichische Medium, das diese Funktion bisher ein klein wenig erfüllt, ist die Wiener Stadtzeitschrift Falter (die darum sogar in den Bundesländern abonniert wird). Eine ziemlich magere Situation. Was deshalb notwendig sein wird, ist eine Zeitschrift, die diese Bündelungsfunktion übernimmt und in der sich die Debatten der neuen »Zivilgesellschaft« spiegeln können. Ob diese dann noch Zivilgesellschaft genannt wird oder nicht, ist dabei eine sekundäre Frage.

Oliver Marchart ist freier Publizist und lebt in Wien.