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Die Türkei nach dem Einmarsch in Syrien

Im Siegesrausch

In der Türkei wird der Einmarsch in Nordostsyrien und das Abkommen mit den USA weiter als großer Sieg gefeiert. Dabei ist völlig unklar, was dieses Abkommen eigentlich bedeutet. Fünf Notizen. Von mehr...
Samstag, 19.10.2019 / 00:14 Uhr

Türkei im Siegesrausch: "Wir haben bekommen, was wir wollten."

Von
Murat Yörük

In der Türkei wird der Einmarsch in Nordostsyrien und das mit den USA geschlossene Abkommen weiter als großer Sieg gefeiert. Dabei ist völlig unklar, was dieses Abkommen eigentlich bedeutet. Fünf Notizen

 

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(Quelle: The White House)



EINS

Kaum erging gestern Abend kurz vor 21 Uhr die Nachricht über die amerikanisch-türkische Vereinbarung zum vorübergehenden Waffenstillstand, da deklarierte die regierungsnahe Presse einstimmig einen großen Triumph.

In der Tageszeitung Star hieß es im Titel der heutigen Ausgabe stellvertretend: „Erdogan blieb standhaft. Der Westen geht in die Knie. In der Sicherheitszone erringt die Türkei einen großen Sieg“.

Yeni Birlik kam dem boulevardesken Schwesternblatt nach, und verkündete mit geschwollener Brust: „Wir haben bekommen, was wir wollten“. Nur Yeni Safak konnte da noch mithalten: „Die Türkei hat alles bekommen, was sie wollte. Ein großer Triumph. Die Operation Quelle des Friedens hat die Hand der Türkei gestärkt. Den USA wurde die Sicherheitszone aufgenötigt“.

Die säkular-kemalistischen Blätter, sonst auf Opposition bedacht, waren kaum unterscheidbar von ihren Konkurrenzblättern und konsensuell in der Grundhaltung.

Andere Blätter, mit weit weniger Auflage, aber in der Gesinnung kampferprobt wie die Zeitung Aksam titelten: „Eine Frist von 120 Stunden für die USA“. Die linksnationalistische Tageszeitung Aydinlik blühte auf:„Türkei erteilt USA eine Frist von 120 Stunden“. Die islamistische Tageszeitung Milat fasste sich kurz: „Die USA werden ihre Terroristen zurückziehen“. Und die radikal-islamistische Yeni Akit spekulierte auf Auflagensteigerung: „Die von den USA verratene YPG/PKK packt die geheimen Machenschaften der USA aus. Johnnys Esel weinen.“

Die säkular-kemalistischen Blätter, sonst auf Opposition bedacht, waren kaum unterscheidbar von ihren Konkurrenzblättern und konsensuell in der Grundhaltung. „Yurt“ scherzte: „Der letzte Tango der USA in Ankara.“

 

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Die nationalistisch-kemalistische Sözcü, die auflagenstärkste türkische Tageszeitung sprach für das gesamte türkische Volk und veröffentlichte ein Schreiben an Trump im Namen des Volkes: „82 Millionen antworten Trump. Komm, lass uns über die Wahrheit reden! Die Türkei kämpft seit Jahren gegen die von euch aufgepäppelte Terrororganisation PKK. Mit Stolz starben die Söhne des Vaterlandes im Heldentod. Wir haben mit euch immer in einer Sprache, die ihr versteht gesprochen. Wir wollen keinen Terrorstaat an unserer Grenze. Aber ihr habt total kindisch nicht verstehen wollen. Ihr habt für eure dreckigen Interessen im Nahen Osten Brandherde gelegt, die Völker des Nahen Ostens aufeinander gehetzt. Es hat euch nicht gereicht, die Putschisten um Fetullah in Schutz zu nehmen. Ihr habt auch noch an unserer Grenze einen Terrorstaat errichten wollen. Der YPG, dem verlängerten Arm der PKK habt ihr zehntausende, mit Waffen beladene LKWs gegeben. Sowohl hinter ISIS als auch der PKK steckt ihr“.


ZWEI

An der türkisch-syrischen Grenze ist die gut aufgestellte türkische Propagandamaschine seit Beginn der „Operation Quelle des Friedens“ anders als sonst schwer konzentriert bei der Arbeit. Es herrscht Krieg. Man will dabei sein und mutiert zum Frontreporter, auch wenn der eigene Gefechtsstand nachweislich weit von der tatsächlichen Front liegt. Manch Reporter macht dabei Faxen; andere rennen vor laufender Kamera hysterisch weg, im Glauben, im Visier eines kurdischen Scharfschützen zu sein. Die Angst packt den Türken am Ende doch. Angstfreiheit ist nämlich bloß ein irrationaler Wunsch, an dessen Verwirklichung in Wirklichkeit niemand glaubt.

Es gibt keine Opposition mehr, denn es herrscht Kriegszustand.


Zur Propagandamaschine zählt in kriegslüsternen Zeiten wie diesen auch die Sendeanstalt Habertürk, die sonst anders als das Staatsfernsehen auf halbwegs noch annehmbare Ausgewogenheit setzt, was im türkischen Kontext allerdings lediglich bedeutet, die Vertreter der koalierenden Fraktionen innerhalb des Erdogan-Lagers mit Oppositionellen in ein personell unausgeglichenes Wortgefecht zu verleiten. Allabendlich treffen sich die Herren in bekannter Runde und geben auswendig gelernte Stellungnahmen ab, sprechen also nicht für sich, sondern für irgendeine der dominanten Fraktionen, die sie vertreten.

Nahezu durchgehend – also fast stündlich – ändert sich die türkische Lagebeurteilung jedoch dieser Tage. Es gibt keine Opposition mehr, denn es herrscht Kriegszustand. Und da gibt es nur noch Türken, die geräuschvoll Einigkeit und Geschlossenheit demonstrieren wollen. Folglich bricht in diesen Tagen nicht wie sonst ein Streit untereinander aus, sondern der Hass auf Amerikaner, Kurden oder Verräter bahnt sich an und bricht unkontrolliert durch.

Darum will niemand die gut dotierte Stellung als Sprechapparat in den Sendeanstalten riskieren und kann die persönliche Note lediglich durch besonders affektierte Geste hervorheben. Im Zweifel reicht das in solchen Kreisen beliebte Stilmittel der permanenten Überbietung. Denn Propagandaarbeit wird gut dotiert.

Tatsächlich gelingt solchen Fernsehformaten die Inszenierung einer irgendwie gearteten demokratischen Streitkultur oder was man für eine Streitkultur hält.

Schließlich soll das Schönreden, Bagatellisieren und Verkünden von frohen Botschaften sich auszahlen. Kriegspropaganda ist schließlich Dienst am Vaterland. Entsprechend herrscht allgemeine Lethargie, panische Zurückhaltung und die Experten spiegeln lediglich die Koalitionäre um Recep Tayyip Erdogan wider, die sich nur in ihrem Grad an Hass auf Amerikaner, Kurden und Vaterlandsverräter unterscheiden. Dabei ist im Portfolio dieser Sprechapparate, und wofür sie auch in die Sendungen kutschiert werden stets inklusive die aggressive Identifikation mit Volk und Vaterland; konstitutive Relevanz hat die Produktion von Feindbildern und Verschwörungen; erwartet wird völlige Schamlosigkeit und mangelhafte Selbstkontrolle. Dies sind die Einbestellungsvoraussetzungen der türkischen Talkshowgäste.

Anders als durchgehend im Westen allerdings wahrgenommen, ist die Fraktionierung um Erdogan heute entscheidend wichtiger für die innere Konstitution der türkischen Gesellschaft als die Selbstdarstellung nach außen als Führerstaat. Tatsächlich gelingt solchen Fernsehformaten die Inszenierung einer irgendwie gearteten demokratischen Streitkultur oder was man für eine Streitkultur hält. Die konnotierte Identifikation mit dem jeweiligen Sprechort allerdings sorgt dafür, dass die abendfüllenden Programme, die mehrere Stunden dauern, mehr einer aggressiv vorgetragenen Entleerungsfunktion gleichen denn einer halbwegs annehmbaren Erkenntnisproduktion. Dies wäre auch zu viel der Hoffnung. Wer türkische Fernsehsendungen verfolgt, wird notwendigerweise das akute Bewusstsein eines starken Schamaffekts bei sich spüren. Denn die Talkshowgäste sind stets Anhänger irgendeiner politischen Sekte und fallen durch eine komische Art der aggregierten Fetischisierung im Entfalten der eigenen Neigungen auf. So tragen die Propagandisten zur Vervollständigung einer aggressiv aufgeladenen Stereotypisierung bei, die nur mit äußersten Verzerrungen funktioniert. In der Regel finden folgende Vertreter aktuell immer Platz im Sendeformat, wobei die Namen belanglos bleiben und die Gäste in verändernder Formierung durch spezifische Feindbildproduktion auftreten, also untereinander durchaus unterscheidbar durch folgende Zuspitzungen bleiben.

Seit Jahren herrscht die Vorstellung, man könne durch militärisches Aufgebot Fakten schaffen, und die Diplomatie der Aktion nachstellen.



Die Parteigänger Erdogans fallen durch wiederholte persönliche Angriffe gegen Assad auf. Sie bleiben erkennbar durch bedeutungsschwangere Stimuli, die die Formen der Bewertung und Belohnung durchexerzieren. Stringent betont wird dabei die humanitär verkleidete Profistrategie im Errichten einer türkischen Sicherheitszone; die Artikulation variabler Akte des Defäkierens in den Frontkämpfen gegen „Ungeziefer“; die stereotype Sichtweise auf Amerikaner, Kurden und Westler. Es kann einem kaum bei diesen Charaktermasken entgehen, wie sehr diese Parteigänger ein Kampf mit sich selbst führen. Dabei wird beharrlich mit äußerster Raffinesse der Kampf um das persönliche Überleben als der schicksalsträchtige Überlebenskampf der türkischen Nation inszeniert.

Den koalierenden Eurasiern geht es inzwischen aber um mehr – das Staatswohl und das Überleben des Türkentums als Staat über Erdogan hinaus. Entsprechend wird seit spätestens 2016 eine pro-russische Haltung im Staatsapparat etabliert, dessen Propagandisten einen strikt maoistisch-nationalistisch-turkistischen Anti-Amerikanismus von sich geben. Vertreten wird diese Fraktion durch ehemalige Generäle , Geheimdienstler und Funktionäre der Vaterlandspartei um Dogu Perincek. Sie sind stets adrett gekleidet, fallen durch eloquenten Sprachstil auf und referieren gerne minutenlang an Wandtafeln und Feldkarten über Taktik und Strategie, ohne auch nur darauf zu achten, überhaupt Zuhörer zu gewinnen.

Das bisher deutlich erkennbare militärische Desaster hat sich inzwischen um das diplomatische Desaster erweitert.
 

Intellektuell bescheidener treten die Vertreter des faschistisch-nationalistischen Blocks auf. In ihrer Rhetorik fallen sie durch vereinnahmende Rituale auf, trotzig-stolz ist in ihren Gesichtern die sadistische Lust erkennbar. Zumeist geben sie offensichtlich blödes Zeugs von sich, mit betont vulgären Ausdrücken, die Schwächen in der türkischen Schriftsprache offenlegen.


DREI

Folglich wird seit Beginn des Einmarsches in Rojava versucht, das Ungeheuerliche ins Akzeptable zu übersetzen. Das Problem dabei ist: Das bisher deutlich erkennbare militärische Desaster hat sich inzwischen um das diplomatische Desaster erweitert.

Das hat seine Gründe. Seit Jahren herrscht die Vorstellung, man könne durch militärisches Aufgebot Fakten schaffen, und die Diplomatie der Aktion nachstellen. Entsprechend fehlt es an fähigem Personal. Diplomaten werden nach Gutdünken und Kalkül ausgesucht, und nicht nach Können oder Geschick. Es mangelt an Personal, das Verhandlungen führt, Strategien erarbeitet, Konfliktmanagement betreibt.

Bei Habertürk folgt entsprechend nach der gestrigen Pressekonferenz von Pence und Pompeo als auch im Anschluss eine eigene vom türkischem Außenminister Cavusoglu ein Herumlavieren. Im Kern deuteten nämlich die Pressekonferenzen eher darauf hin, sich nicht wirklich geeinigt zu haben, aber Handlungswille zu demonstrieren.

Während Pence und Pompeo eine Waffenruhe verkünden, dementiert Cavusoglu und spricht lediglich vom Pausieren. Einig sind sich beide allerdings mit einer Ruhe bzw. Pause von 120 Stunden.

Was in diesen 120 Stunden passiert, ist aber völlig unklar.

Cavusoglu verkündet, die YPG müsse sich 32km zurückziehen, ihre Waffenabgeben.

Pence spricht lediglich vom Rückzug auf eine nicht näher genannte und begrenzte Region von 20 Meilen. Es bleibt offen, in welcher Ausdehnung von West nach Ost.

Pence verkündet, die Türken ziehen sich aus Syrien raus, sobald die YPG abrückt. Dann erfolgten keine weiteren Sanktionen und die bisherigen würden zurückgenommen.

Cavusoglu dementiert und verkündet, die "freigeräumte Sicherheitszone" werde von den türkischen Streitkräften kontrolliert.

Pence sagt, die Türken werden nicht in Kobane einmarschieren.

Cavusoglu dementiert und behält sich ein Einmarsch auch dort vor.

 

VIER

 

Bei all dem frivol als Erfolg gefeierten Deal bleiben Fragen.

Wie verhält sich die SDF? Wie Assad? Und wie Russland?


Das ist insofern auch entscheidend, dass die USA mit ihrem angekündigten Abzug aus Syrien das Feld Russland und Assad überlässt. und die verbündete SDF fallen lässt. Entsprechend wird vieles vom am 22. Oktober geplanten Treffen zwischen Erdogan und Putin abhängen.

Die PKK und auch die PYD gelten in Russland nicht als Terrororganisationen
 

Dabei könnte Trumps Vorstoß ein gewagter Versuch sein, das russisch-türkische Verhältnis auf Probe zu stellen. Die Ambitionen Russlands sind nämlich offensichtlich: Die Türkei ist als NATO-Mitglied leicht aufgreifbar und jeder Versuch, die Türkei von der NATO und die NATO von der Türkei zu entfremden, ist ein wichtiger Punktsieg für Russland. Entsprechend deutet vieles bereits jetzt darauf hin, dass nun Russland durch den amerikanischen Abzug in Zugzwang gerät und nun zwischen Assad, der Türkei und der SDF justieren muss. Konfliktfrei wird dies nicht erfolgen, so viel ist sicher. So gilt die PKK und auch die PYD in Russland nicht als eine Terrororganisation und überhaupt ist die russische Position zu Syrien deutlich. Für Russland hat die Integrität des syrischen Staates oberste Priorität und jede Intervention und Anwesenheit ausländischer Streitkräfte wird abgelehnt. Die PYD gilt für Russland als Teil Syriens und somit dürfte der Dissens zwischen Russland und der Türkei nicht deutlicher zum Ausdruck kommen als in der Einschätzung der PKK bzw. PYD.

Assad selbst ist auf Russland als Schutzmacht noch dringlicher angewiesen als zuvor. Es verwundert darum kaum, dass Russland auf ein Abkommen zwischen der Türkei und Syrien aus dem Jahre 1998 verweist, dem Adana-Abkommen. Dieses erfolgte noch unter Assad Senior und bezweckte die gegenseitige Verpflichtung, jeglichen Terrororganisationen den Kampf anzusagen. Vordergründig war damit die bis in die späten 1990er in Syrien präsente PKK gemeint, beschränkte sich aber im Wortlaut nicht auf allein auf sie.

Mit diesem Abkommen sicherte sich die Türkei jener Jahre den dann im Februar 1999 erfolgten Zugriff auf Abdullah Öcalan, der nach diesem Abkommen sich gezwungen sah, Syrien zu verlassen. In den Folgejahren geriet dieses Abkommen in Vergessenheit und erlebt heute ein Revival, wobei die türkische Seite darauf pocht, das eigene Eingreifen in Syrien mit diesem Abkommen zu rechtfertigen. Allerdings gewährt dieses Abkommen lediglich das Einmarschieren in syrische Hoheit bis zu einer Grenze von neun Kilometern, und auch nur, wenn ein Angriff aus Syrien erfolgt. Syrien selbst wird mit diesem Abkommen mithilfe Russlands sehr wahrscheinlich darauf drängen, auf unter anderem die türkische Präsenz im umkämpften Idlib hinzuweisen und versuchen, den türkischen Einfluß in Syrien überhaupt abzustellen.

Sowohl Russland als auch die USA brauchen die Türkei


Die SDF hat unverzüglich ihre Zustimmung zum Waffenstillstand mitgeteilt, gleichwohl diese Zustimmung lediglich auf das bereits verlorene Gebiet zwischen Tal Abyad-Rasulayn-M4 (90km X 30km) beschränkt wird. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein vollständiger Abzug aus der von der Türkei beanspruchten Zone erfolgt.

 

FÜNF


Erdogan kann sich vorerst als ein Gewinner präsentieren, und für sich in Anspruch nehmen, den US-Amerikanern zumindest auf dem Papier die eigenen Forderungen nahezu vollständig abgerungen zu haben. Dennoch dürfte durch den Abzug der USA klar geworden sein, dass nun Russland über weite Teile der beanspruchten Zone das Machtwort sprechen wird und mit Sicherheit nicht ohne weiteres ein gewünschtes Entgegenkommen anbieten wird.

Bislang ging nämlich die türkische Taktik – das Ausspielen der Konkurrenten USA und Russland auf, die untereinander um die türkische Gunst buhlen. Sowohl Russland als auch die USA brauchen die Türkei; umgekehrt gilt dies auch für die Türkei, die bislang nur durch taktisches Ausspielen die eigenen Interessen durchsetzen konnte. Damit dürfte aber Schluss sein. Der Abzug der USA aus Syrien wird wahrscheinlich zu einer wie auch immer gearteten Abkehr von Russland führen; zumindest sollte schon bald klar werden, dass Russland eine türkische Expansion in Syrien, geschweige denn eine dauerhafte Präsenz der Türken in Nordsyrien nicht akzeptieren wird. Wann sich Russland jedoch dazu durchringen wird, der Türkei enge Grenzen aufzuerlegen lässt sich nicht ablesen. Man scheint erst einmal vom augenblicklich eigenen Triumph überwältigt zu sein und den eigenen Sieg zu genießen.

Freitag, 11.10.2019 / 08:52 Uhr

Türkische Reaktionen auf den Einmarsch in Rojava

Von
Murat Yörük

Kaum erfolgte der von türkischer Seite parteiübergreifend lang herbeigesehnte Angriff auf Rojava, da erklangen begleitend zum Einmarsch wie an alte Zeiten erinnernd an der türkisch-syrischen Grenze aus Lautsprecherwagen osmanische Marschlieder. 

Zum Einsatz kam dabei auch das Plewna Marschlied, das in jüngerer Zeit in populären Serien wie Payitaht Abdülhamid im Staatsfernsehen TRT oder in Isimsizler im Privatsender Kanal D eingesetzt wird. Diese Serienproduktionen, die Zuspruch von einem Millionenpublikum erhalten, sprechen zwar unterschiedliches Publikum an – hier die nostalgischen Neo-Osmanen, dort die national-faschistischen Eiferer – beabsichtigen aber nationale Erbauung und sind durchaus als kriegsvorbereitende Propaganda zu bewerten. 

Kriegsverherrlichung und Vergangenheitsverklärung

Kriegsverherrlichung, Vergangenheitsverklärung und die Lüge, lediglich vor den Feinden und ihren intrigen Angriffen sich zu verteidigen, gehören seit je zur türkischen Gefühlsklaviatur. Entsprechend finden sich im Internet sowohl an jüngeres wie älteres Publikum gerichtete Interpretationen dieses Marschliedes. So heißt es in einer dieser Interpretationen mit dazu gedichteten Zeilen: „Solange die Seele den Körper nicht verlässt, wird das Vaterland nicht euch gehören“. Das singt der mit osmanischem Fez und Trommeln ausgestattete Männerchor der Gruppe Ser und inszeniert mystisch-nationalistisch gewendet das in seiner ursprünglichen Fassung allein an Gazi Osman Pascha gewidmete Marschlied.

 

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Der Zuhörer aber ahnt nicht nur, sondern weiß, wem das Vaterland nicht in die Hände fallen darf: Wahlweise den Imperialisten oder eben den syrischen Kurden in Rojava, die als Besatzer einst osmanischen Territoriums halluziniert werden.

Ungeeigneter historischer Bezug

Dabei wäre – hielte man sich an die historische Wahrheit – dieses Liedgut zum Andenken an die Schlacht von Plewna im Russisch-Türkischen Krieg 1877-1878 heute absolut ungeeignet, um in der türkischen Propaganda eingesetzt zu werden.

Der Irrglaube, überall von Feinden umzingelt zu sein, darf nicht verwundern, wenn berücksichtigt wird, dass tatsächlich eine Mehrheit an die Umzingelung glaubt.

Denn anders als in der Schlacht von Plewna 1877 befinden sich die Nachfahren der osmanischen Armee heute in keiner Verteidigungsschlacht. Anders als Osman Pascha, der noch erkannte, dass seine Festung von den Russen umzingelt ist, und trotz Ausfallversuchs nach fünfmonatiger Belagerung der 35.000 Mann starken osmanischen Garnison nur die Ergebung und der Rückzug übrig blieb, trommeln die Nachfahren heute zusammen, was das nationale Kollektiv in kriegslüsternen Zeiten wie diesen herbeisehnt und gegenwärtig wieder in einer Allianz für eine Groß-Türkei zusammenkommt: Einen Eroberungsfeldzug mit dem Versprechen des Märtyrertods.

 Von Feinden umzingelt

Und dennoch lässt sich dieses Lied heute wunderbar in der türkischen Paranoia einsetzen. Der Irrglaube, überall von Feinden umzingelt zu sein, darf nicht verwundern, wenn berücksichtigt wird, dass tatsächlich eine Mehrheit an die Umzingelung glaubt. Folglich ist es ein Leichtes, diesen Angriffskrieg als Verteidigung der nationalen Souveränität auszugeben und hierfür parteiübergreifend Rückendeckung zu erhalten.

In diese Begleitmusik zur sogenannten "Operation Quelle des Friedens", türkisch Barış Pınarı, stimmt auch die größte Oppositionspartei CHP ein.

So reihen sich an der Front in Akcakale, Ceylanpınar und Suruc die Reporter genannten Einpeitscher der jeweiligen Fernsehanstalten Glied um Glied und berichten ganz erregt seit gestern Mittag als würde ein Fußballspiel kommentiert.

 Landesweit werden in Moscheen Selas - Kriegsgebete gelesenauf den Straßen herrscht gelassene Stimmung, in den Fernsehkanälen weht links oben wie sonst zu nationalen und islamischen Feiertagen die türkische Fahne.

Boden mit Blut tränken

Şamil Tayyar von der AKP sprach gestern entsprechend unwidersprochen bei Habertürk vom natürlichen Recht eines jeden Staates sein Boden mit Blut zu tränken, um darauf leben zu können. 

In diese Begleitmusik zur sogenannten "Operation Quelle des Friedens", türkisch Barış Pınarı, stimmt auch die größte Oppositionspartei CHP ein: "Unsere Gebete gelten unseren Soldaten", lässt Kilicdaroglu mitteilen und fasst zusammen, was ebenso von Recep Tayyip Erdogan stammen könnte: "Wir beten dafür, dass unsere heldenhaften Soldaten sicher und gesund zurückkehren, wenn sie die Operation Friedensquelle erfolgreich beendet haben. Möge Gott unsere Jungs beschützen und sie zum Ruhm führen." 

Volle Unterstützung der CHP

Und Berhan Şimsek, ein linker CHPler erklärt bei Habertürk von der Notwendigkeit dieses anti-imperialistischen Krieges, denn hinter der YPG stünden natürlich die USA, und die haben, da ist man sich mit Rohani, der das türkische Kriegsspektakel wohlwollend begrüßte einig, im Nahen Osten nichts verloren.

 

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 Tweet des Istanbuler Bürgermeisters: Volle Unterstützung

 

Ohnehin dürfte der parteiübergreifend der Zustimmung sichere Einmarsch in Rojava zur nationalen Mobilmachung bereits jetzt der türkischen Staatlichkeit als sehr dienlich erweisen und nur einer Person hilfreich sein: Recep Tayyip Erdogan. Angeschlagen nach den verlorenen Bürgermeisterwahlen, und dem Verlust Istanbuls, isoliert im Ausland, das Image ramponiert kommt ihm der Einmarsch sehr gelegen. Die Reihen fest geschlossen, kann er nun als Feldherr sich profilieren und wieder die Themen, über die gesprochen wird bestimmen.

 Türkisches Militär kriegswillig

Das türkische Militär hingegen, das nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 in einem bis dato nie gekannten Ausmaß geschlossen und kriegswillig auftritt, ist fest in der Hand linksnationalistischer Waffenbrüder, die in den vergangenen Monaten in voller Kampfmontur zur See aufgebrochen sind – und nun abermals in Syrien einmarschieren. Im März und sodann Mai 2019 führte die Marine ihre historisch bislang größten Seemanöver durch und demonstrierte kraftmeierisch ihre verschiedenen Waffengattungen der Öffentlichkeit.

Tunlichst wird vermieden, von einem Krieg oder einem Angriff auf Rojava zu sprechen.

 Dieses türkische Säbelrasseln im Mittelmeer könnte Dreh- und Angelpunkt einer weiteren, viel vehementer als sonst nationalistisch gebärdenden Erdorgan-Clique werden, die unter außenpolitischer Diktion im Innern die Reihen schließt und gar einen Krieg um die Rohstoffe im Mittelmeer provozieren könnte.

Dagegen dürfte weder ein politisch unerfahrener Ekrem Imamoglu, noch ein um Dialog bemühter Ali Babacan ankommen können. Entsprechend warnt der Vorsitzende der linksnationalistischen Vatan Partisi (Vaterlandspartei) Dogu Perincek bereits jetzt vorm Einbrechen türkischer Souveränität im Mittelmeer in nationalen Fragen und folgt darum dem Führer Erdogan. Wie alle Souveränisten weiß er, dass die vermeintliche Schicksalsfrage der Nation an ihren Grenzen sich abspielt und Grenzsicherung das A und O ist, wenn es um Staatssicherheit und insbesondere Staatserhaltung geht. Ihren türkischen Staat lieben sie schließlich alle – und seine Grenze reicht seit 1974 auch bis nach Zypern zu den Auslandstürken, die spätestens nach dem Tod des Rudelführers Rauf Denktas alles andere als türkische Manövriermasse sein wollen.

Erinnerungen an Zypern 1974

 Es verwundert daher nicht, dass in ähnlicher sprachlicher Diktion wie 1974 der Einmarsch in Rojava nun als eine Friedensmission deklariert wird. Bereits die Intervention in Nordzypern erfolgte nach türkischer Sicht mit friedlichen Absichten – begleitend mit Plünderungen, Vertreibungen und Morden an der Zivilbevölkerung und einer Besetzung, die bis heute andauert.

 Insofern ist verräterisch, wie die offizielle Sprachregelung aktuell erfolgt: Tunlichst wird vermieden, von einem Krieg oder einem Angriff auf Rojava zu sprechen. Die „grenzüberschreitende Operation“ (sınır ötesi operasyonu), wie es auf türkisch heißt, soll verschleiern, was ohnehin bekannt ist und seit 1990 unregelmäßig im Nordirak erfolgt und seit einigen Jahren in Nordsyrien praktiziert wird.

 Abgöttische Liebe zum Staat

Davon unbeeindruckt zeigen sich die neu gewählten Bürgermeister in Istanbul und Izmir. Imamoglu und Soyer folgen stattdessen der Parteilinie und bestätigen abermals, weshalb nicht zufällig die CHP als ewiggestrige Staatspartei zu bewerten ist. Auch die CHPler lieben abgöttisch ihren Staat, samt seinen Institutionen und insbesondere den außenpolitischen Praxen. Eine offene Konfrontation wagen sie nicht; sie beabsichtigen sie vermutlich auch gar nicht. Nichts deutet schließlich darauf hin.

 Dabei wäre es dringende Aufgabe einer halbwegs intakten politischen Opposition, gerade in außenpolitischen Fragen den Dissens zur Regierung zu zeigen. Nichts dergleichen. Somit verspielen die CHP, folglich auch ein potentiell starker Gegenkandidat Ekrem Imamoglu ihre Chancen auf eine siegreiche Präsidentschaftskandidatur. Denn der Bärendienst, sich in das nationale Kollektiv geschlossen und unwidersprochen einzureihen, nützt nur einem: Recep Tayyip Erdogan, der wieder im Spiel ist – und schadet der CHP. Die Wähler der HDP, in der Mehrheit Kurden werden sich nämlich genauer als sonst überlegen, ob sie einer Partei die Zusammenarbeit anbieten werden, die sich geschlossen hinter Kriegshandlungen gegen syrische Kurden stellt.

 

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Wahlschlappe der AKP

Zehn Thesen zur Wahl in Istanbul

Mit 54% erzielte Ekrem İmamoğlu überraschend das bislang beste Ergebnis eines Oberbürgermeisterkandidaten in Istanbul seit Gründung der Republik. Zehn Thesen, wie es dazu kommen konnte und was der Wahlsieg zu bedeuten hat. Von mehr...
Sonntag, 23.06.2019 / 23:48 Uhr

„Alles wird sehr schön werden“ - Zehn Anmerkungen zur Wahl in İstanbul

Von
Murat Yörük

Mit 54% erreichte Ekrem İmamoğlu  überraschend sogar das bislang beste Ergebnis eines Oberbürgermeisterkandidaten in İstanbul seit Gründung der Republik. Zehn Thesen, wie es dazu kommen konnte.

 

 

 

1. Mit einem so überragenden Sieg des Kandidaten der Millet İttifakı  Ekrem İmamoğlu war trotz allem nicht zu rechnen. Das deutliche Ergebnis von 54% ist das bislang beste Ergebnis eines Oberbürgermeisterkandidaten in İstanbul seit Republikgründung. İmamoğlu kann für sich im Vergleich zur Wahl vom 31. März 2019 einen Stimmenzuwachs von 530.000 Stimmenverbuchen. Binali Yıldırım unterliegt hingegen mit 45% der Stimmen und muss einen Stimmenverlust von 250.000 Stimmen hinnehmen. Somit ist İmamoğlu gelungen, den bereits am 31. März vorliegenden Vorsprung von 14.000 auf fast 800.000 Stimmen zu vergrößern.

Imamgoglu selbst rückte von seiner sanften, alle Wähler einschließenden Strategie im gesamten Wahlkampf nicht ab.


2. Die Niederlage des Kandidaten der Cumhur İttifakı Yıldırım zeichnete sich bereits durch die Annullierung der Oberbürgermeisterwahl am 6. Mai 2019 ab, als nach der Wahlschlappe deutlich wurde, dass ein Weiter-So für Erdoğan und die AKP nicht mehr möglich sein wird. Die Annullierung mit fadenscheinigen Gründen entbehrte dabei jeder rechtlichen Grundlage. Die Hohe Wahlkommission (YSK) legte zunächst eine knappe Mitteilung vor. Ihr zufolge seien in 123 Wahlräten die Vorsitzenden keine Staatsbeamten gewesen. 

Darum müsse die Oberbürgermeisterwahl annulliert werden. In ihrer nachgeschobenen schriftlichen Begründung von über 200 Seiten redete sie sich sodann um Kopf und Kragen, und konnte nicht erklären, wieso einzig die Oberbürgermeisterwahl ungültig, jedoch die Bezirksbürgermeister-, Bezirks- und Stadtparlamentwahl gültig sei. Diese dürftige Begründung brüstete weite Teile der İstanbul er Bevölkerung so sehr und konnte auch im darauf folgenden Wahlkampf bis zum 23. Juni nicht überzeugend dargelegt werden. Yıldırım gelang auch nicht, die İstanbul er Wahlbevölkerung vom von ihm und seiner Partei lauthals verkündeten Wahlbetrug durch İmamoğlu zu überzeugen.


3. Die Annullierung der Oberbürgermeisterwahl vom 31. März stellt bislang ein Novum dar. Denn Recep Tayyip Erdoğan führte seine politische Legitimität stets auf gewonnene Wahlen zurück. Die Milli Irade (nationaler Wille) ist ihm dermaßen heilig, dass er seit 2010 fast jährlich in den Wahlkampf gezogen ist und bislang nicht zu Annullierungen zurückgriff, sondern sich teils auch mit knappen Siegen begnügte. Die allgemeinen Wahlgrundsätze blieben dabei gewahrt, an den Abstimmungstagen ging es immer noch frei, gleich und geheim zu, obwohl es vereinzelt zu Wahlmanipulationen kam.


4. Entsprechend verlegte sich die Cumhur İttifakı für die Wahl vom 23. Juni auf eine deutlich mildere, und fast ausschließlich auf İstanbul und Yıldırım zugeschnittene Wahlkampfstrategie. Anders als vor der Wahl vom 31. März trat Recep Tayyip Erdoğan dabei deutlich in den Hintergrund und auch sonst war von der zuvor noch laut verkündeten beka sorunu (Existenzfrage) nichts zu hören. Stattdessen wurde Yıldırım in den Vordergrund gerückt, der sodann fast ausschließlich auf seine bisherige Laufbahn als Verkehrsminister und dann Ministerpräsidenten verwies und darauf hoffte, mit seinen politischen Erfahrungen und als politisch bekannte und berechenbare Größe zu punkten, wenn er einige neue Projekte für İstanbul vorstellte.


5. Das Kalkül der Cumhur İttifakı war es, darauf zu hoffen, dass die abtrünnig gewordenen AKP-Wähler mittels Wahlgeschenken und -versprechen wiedergewonnen werden und die sich bereits im Sommerurlaub befindlichen CHP-Wähler dem Urnengang fern bleiben. In dieses Kalkül passte auch der Umstand, dass die Semesterferien begonnen haben und viele Studenten ebenso fern bleiben würden, wenn sie zeitig zum Beginn der Ferien zum Familienbesuch in die Provinzen fahren und am Wahltag selbst in İstanbul nicht sein werden.

Der Versuch, einen Keil zwischen Öcalan, die HDP und Selahattin Demirtas zu schlagen, schlug fehl.


6. Zum deutlich ambitionierteren Kalkül gehörte der überraschende Zug mit Abdullah Öcalan, der nach acht Jahren Kontaktsperre erstmals wieder Ende April von seinen Anwälten Besuch erhielt und einige Stunden vor Bekanntgabe der Annullierung am 6. Mai mit einem Schreiben an die Öffentlichkeit trat. Dieses Schreiben beschränkte sich zwar auf Nebensächlichkeiten und erhielt nichts zur Wahl in İstanbul. Er hatte jedoch eine Signalwirkung: Mit Öcalan wird in der kommenden Zeit zu rechnen sein. Am Abend des 20. Juni meldete sich Öcalan sodann mittels eines Kontaktmanns, der ihn zuvor besuchte zu Wort: Er rief die Kurden in İstanbul zur Unabhängigkeit auf.

Mit diesem Zug rechnete niemand, das Kalkül der AKP war aber offensichtlich. Die HDP hatte sich auch für die Wahl am 23. Juni auf die Seite von İmamoğlu gestellt. Der Versuch, einen Keil zwischen Öcalan, die HDP und Selahattin Demirtaş zu schlagen, schlug fehl. Sowohl die HDP-Parteiführung als auch Demirtaş interpretierten das Schreiben von Öcalan nicht als ein Aufruf zur Nichtwahl İmamoğlusoder gar zum Wahlboykott.


7. Am 16. Juni kam es überraschend zu einem gemeinsamen TV-Auftritt der Kandidaten İmamoğlu und Yıldırım . Bis dato hielt sich Erdoğan zurück und verhielt sich reserviert. Als sich nach dem Auftritt abzeichnete, dass İmamoğlu wie zuvor auch keine Angriffsfläche bot, fühlte sich Erdoğan gedrängt, die Angelegenheit wie vor dem 31. März zur Chefsache zu erklären. Erst drohte er İmamoğlu mit einem Strafverfahren; dieser habe nach einem Wahlkampfauftritt in Ordu den Gouverneur beleidigt; somit wäre er als Oberbürgermeister ungeeignet; dann verkündete er, dass er ihn nicht zum Oberbürgermeister machen werde, solange er sich für die Beleidigung nicht entschuldige. Sowieso hätte er beschränkte Möglichkeiten, schließlich habe seine Partei im Stadtparlament die Mehrheit. Mit einem Öcalan-Move produzierte Erdoğan schlussletzt für gänzlich Verwirrung und irritierte mit einem mehrstündigen Live-Interview am Freitagabend gänzlich seine nationalistischen Wähler.


8. Entsprechend geschah gänzlich das Gegenteil dessen, was erwartet wurde. Die İstanbuler Kurden wählten abermals İmamoğlu; und Erdoğans nationalistisches Klientel blieb entweder fern oder wählte aus Trotz İmamoğlu, dem einige Wochen zuvor noch eine Schmutzkampagne zugemutet wurde. İmamoğlu sei nämlich ein Pontos-Grieche und mit seinem Sieg stünde das historische Konstantinopel auf.


9. Ekrem İmamoğlu selbst rückte von seiner sanften, alle Wähler einschließenden Strategie im gesamten Wahlkampf nicht ab, und ließ sich auf keine Provokationen ein. Er inszenierte sich erfolgreich als ein bereits gewählter Oberbürgermeister und scheute sich auch nicht davor zurück, vor Ort die Nähe zu AKP-Wählern zu suchen, die die Annullierung der Wahl ebenso als Ungerechtigkeit ansahen. Dabei nutzte er die Fasten-Zeit, um sich bewusst als ein fastender und betender Kandidat zu inszenieren. Seine säkularen Stammwähler brüstete er damit nicht auf; er hatte ihre Stimmen sicher. Zu gewinnen waren zusätzliche Stimmen konservativer Kurden, 450.000 enttäuschte Nicht-Wähler der AKP und jene Nicht-Wähler der CHP, die aus Enttäuschung der Wahl am 31. März fern blieben, nun aber hoffen durften, mit İmamoğlu auf der Seite eines Siegers zu stehen.


10. Ekrem İmamoğlu gibt sich nun nach seinem Sieg bescheiden und gab in seiner ersten Rede bekannt: „Das ist kein Sieg, sondern ein Neuanfang. Wir werden nämlich in Zukunft, ohne uns schämen zu müssen, gegenseitig in die Augen sehen müssen“. Adressiert wurden diesen Zeilen auch an Erdoğan, der einige Stunden nach Yıldırıms Bekanntgabe, die Wahl verloren zu haben, İmamoğlu namentlich gratulierte. Zu einem persönlichen Auftritt kam es allerdings nicht. Per Twitter teilte sich der nun angeschlagene Erdoğan mit und wird sehr wahrscheinlich bald in den kommenden Tagen sein politisches Schicksal in die Hand nehmen müssen. Der parteiinternen Opposition dürfte seine Schwächung nutzen, um die ambitionierte Parteigründung zu beschleunigen. So könnten nicht nur die Tage von Erdoğan, sondern auch der AKP angezählt sein.
 

Nur online
Gewalt gegen türkische Oppositionelle

Ein Lynchmob kommt selten allein

In der Türkei leben Oppositionelle immer gefährlicher. Nun wird die Bevölkerung gezielt gegen politische Gegner aufgehetzt. Von mehr...
Montag, 29.04.2019 / 21:27 Uhr

Türkei: Ein Lynchmob kommt selten allein

Von
Murat Yörük

Der Verlust Istanbuls und anderer türkischer Großstädte ist ein schwerer Schlag für die AKP. Entsprechend fallen ihre Reaktionen aus.

 

Die sozialpsychologischen Grundlagen für die Bildung eines Lynchmobs sind in der gegenwärtigen Türkei längst gelegt und jederzeit ist eine spontane oder auch organisierte Meute möglich. Gezielt werden Bevölkerungsteile gegen Minderheiten oder politische Gegner aufgehetzt; aus politischen Rivalen werden Feinde, die zum Abschuss freigegeben werden; aus Nachbarn werden bedrohliche Verräter, die es zu meiden und an die Behörden zu melden gilt. So durchziehen die jüngere Geschichte der Türkei eine Mehrzahl von Pogromen gegen Minderheiten und unaufgeklärten Attentaten auf politische Gegner, die alle nach einem bewährten Muster verlaufen. Erst tritt eine Kampfpresse in Aktion, agitiert den Volkswillen und verhetzt Willige. Dann schreiten im Namen des Volkes dessen Vollstrecker zur Tat. Schließlich werden die Ermittlungen gegen die Tatverdächtigen zögerlich geführt, gar verhindert und oftmals kommen dann die Täter ungestraft davon.

 

Führer der Opposition als „Terrorist“ und „Vaterlandsverräter“

Jüngst traf es den Oppositionsführer der CHP Kemal Kılıçdaroğlu, der während des Wahlkampfs wiederholt als „Terrorist“ und „Vaterlandsverräter“ beschimpft und zum Feindbild erklärt wurde. Nach den Verlusten der Großstädte İstanbul und Ankara bekam er nun die angekündigte Rache zu spüren.

 

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Während Kılıçdaroğlu am 21.04.2019 ein Soldatenbegräbnis in Çubuk, nahe Ankara besuchte und vor Ort von einem wütenden Mob erst beleidigt, drangsaliert, und schließlich mit Tritten und Schlägen angegriffen wurde, sodass dieser in ein Haus flüchten musste, die Meute dann stundenlang das Haus belagerte, in das Haus einzudringen versuchte und mindestens eine Frau vor dem Haus der Hetzmeute zurief: „Brennt dieses Haus nieder!“, fand zeitgleich in İstanbul/Maltepe die Siegesfeier von Ekrem İmamoğlu mit mehreren Hunderttausend Teilnehmern statt. Man mag sich nicht vorstellen, was in İstanbul geschehen wäre, wenn Kılıçdaroğlu dem Lynchmob in die Hände gefallen, gar im Haus, in das er flüchtete, verbrannt worden wäre.

 

Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand

Es gibt erste Anzeichen, dass die beiden Ereignisse vom vergangenen Sonntag nicht zufällig zeitgleich geschahen und es berechtigte Gründe gibt, der Behauptung einer spontanen Mobbildung zu misstrauen. Nur allzu gern würde Erdoğan den Ausnahmezustand ausrufen, um per Dekret unbeliebte Bürgermeister durch einen Zwangsverwalter zu ersetzen, wie dies bereits mehrfach insbesondere im Südosten der Türkei geschehen ist. Doch soweit kam es vorerst nicht.

İstanbul ist schließlich, wie im Wahlkampf wiederholt verkündet eine Geliebte, und eine Geliebte, die keine Liebe erwidert, darf es nicht geben.

Der zuständige Innenminister Süleyman Soylu verneinte stattdessen bereits einen Tag nach dem Lynchversuch eine organisierte Struktur, beschwichtigte die Tat als eine Reaktion auf die Provokationen des „Terroristensymphatisanten“ Kılıçdaroğlu und konnte keine Erklärung dafür geben, wie es einem Lynchmob gelang, unter Anwesenheit von über 450 Sicherheitskräften stundenlang in einem überschaubaren Dorf zu wüten.

Deutlicher wurde der in Çubuk anwesende Verteidigungsminister Hulusi Akar, der mit einem Polizei-Megaphon der Meute zurief: „Liebe Freunde, eure Message ist angekommen. Nun könnt ihr alle beruhigt nach Hause gehen“. Im nationalchauvinistischen Lager konnten sich die Ülkü Ocakları derweil vor Freude nicht zurückhalten, denn sie verstanden sehr wohl, von welcher „Message“ Akar sprach. Ihr Vorsitzender Sinan Ateş war sich mit vielen anderen Kommentatoren darin einig, dass Kılıçdaroğlu die „Warnung“ an ihm nicht verstanden hätte, denn beeindruckt oder eingeschüchtert gab sich Kılıçdaroğlu nach der Tat, die er nur mit Glück überlebte ganz und gar nicht.

 

Anruf bei "Onkel Osman"

Routinierter klang der Führer der MHP Devlet Bahçeli, der sich einige Tage zuvor mit Recep Tayyip Erdoğans Ankündigung eines neuen Bündnisses ohne die MHP auseinandersetzen musste und insgeheim auf den Mob vertraut haben musste:„Was hast du, Kılıçdaroğlu auch in Çubuk zu suchen? Das ist unsere Hochburg.“

Es durchziehen die jüngere Geschichte der Türkei eine Mehrzahl von Pogromen gegen Minderheiten und unaufgeklärten Attentaten auf politische Gegner.

Es waren Versuche wie diese, die abscheuliche Hetzmeute von Çubuk nachträglich zu legitimieren und Kılıçdaroğlu als eigentlichen Provokateur hinzustellen. Es ist kein Zufall, dass insbesondere aus dem AKP-MHP-Lager Solidaritätsadressen zu hören sind, die für den tatverdächtigen Schläger, der AKP-Mitglied ist Partei ergreifen.

Metin Külünk, ein umtriebiger AKP-Abgeordneter mit einem Gespür für das Grobe und Verbindungen in die organisierte Kriminalität bedankte sich per Twitter bei dem Schläger Osman Sarıgün, und verkündete stolz: „Ich habe gestern Nacht um 00:50 Uhr Onkel Osman angerufen und ihm im Namen des Volkes gute Besserung gewünscht. Es schmerzt, dass Onkel Osman Sarıgün nun aus unserer Partei ausgeschlossen werden soll. Unser Volk ist aber entschieden gegen einen Ausschluss.“

 

Die Rückeroberung İstanbuls

Dieser Vorfall von Çubuk hat mit der rachsüchtigen Missstimmung im AKP-MHP-Lager zu tun. Die Niederlage in İstanbul hat Recep Tayyip Erdoğan und seine Verbündeten unvorbereitet getroffen und sie können ihre Niederlage einfach nicht eingestehen. İstanbul ist schließlich, wie im Wahlkampf wiederholt verkündet eine Geliebte, und eine Geliebte, die keine Liebe erwidert, darf es nicht geben. Also wird jedes Mittel benutzt, um die Liebe zu erzwingen, gar mit Nachwahlen oder eben mit Drohkulissen wie in Çubuk.

Ekrem İmamoğlu hat als erste Maßnahme die Streichung aller Fördergelder für AKP-nahe islamische und islamistische Stiftungen und Organisationen angeordnet.

Solche Androhungen und Spekulationen auf bürgerkriegsähnliche Zustände gehören in jedes Repertoire von autoritären Regimen, die sich vor Machtverlust fürchten. Dabei stellte sich bereits in den ersten Tagen nach der Kommunalwahl vom 31. März 2019 heraus, wie unentbehrlich İstanbul für die Bewegung und ihre Yandaş, Gesinnungsgenossen wirklich ist. So hat Ekrem İmamoğlu als inzwischen offiziell im Amt bestätigter Oberbürgermeister İstanbuls als erste Maßnahme die Streichung aller Fördergelder für AKP-nahe islamische und islamistische Stiftungen und Organisationen angeordnet und damit eine jährliche Umverteilung von etwa 850 Millionen Lira (ca. 130 Millionen Euro) aus dem Budget İstanbuls gestoppt.

Als zweite Maßnahme erfolgte die Aufforderung, alle Datenbanken zu sichern, um alle Ausgaben der vergangenen Jahre von Inspektoren kontrollieren zu lassen. Die regierungsnahe Presse blieb nicht still und startete eine Kampagne. Stellvertretend hat der zum Lautsprecher aufgestiegene regime-nahe Analyst Fatih Tezcan die Stichworte vorgegeben und witterte hinter dieser Anordnung eine Staatsgefährdung. Ausländische Geheimdienste oder Terrororganisationen könnten an sensible Daten gelangen, Staatsgeheimnisse könnten verraten werden, Tezcan. Dabei hat er vermutlich bloß die Bedrohung für das AKP-Patronagesystem erkannt, an dem er ordentlich mitverdient. Denn die Furcht davor, die Korruption und Bestechung der vergangenen Jahre könnten ans Tageslicht kommen, führte auch die AKP ans nächste Verwaltungsgericht, das die Anordnung der Datensicherung im Eilverfahren vorläufig stoppte.

Eine Neuwahl birgt mehr Risiken als  Erdoğan lieb sein dürften.

Zugleich wird seit der Kommunalwahl kontinuierlich eine Rückeroberung İstanbuls erwägt, gleichwohl die Risiken für einen solchen Weg deutlicher werden. Es haben nämlich weder etliche Neuzählungen ungültiger Stimmen noch die Forderung nach einer Neuwahl in manchen Bezirken wie Maltepe oder Büyükçekmece fruchten können.

All diese Beschwerden scheiterten an dem Hohen Wahlausschuss YSK und wenn einzelne Beschwerden angenommen wurden, führte dies nur zu einer minimalen Korrektur des vorläufigen Endergebnisses. Somit blieb als letzte Chance nur noch eine außerordentliche Beschwerde, um die Oberbürgermeisterwahl anzufechten und Neuwahlen zu begehren, wofür zunächst dem Sieger Ekrem İmamoğlu die Ernennungsurkunde ausgestellt werden musste. Bis heute ist eine Entscheidung aber offen, ob eine Neuwahl anstehen wird.

 

Risiko Neuwahl

Dabei birgt eine Neuwahl mehr Risiken als der Cumhur İttifakı (Volksallianz) und Erdoğan lieb sein dürften. Da sprechen zunächst erste Umfragen dagegen, die eine deutliche Missstimmung unter AKP-Wählern andeuten und von einem Wechselwählerpotential von bis zu zehn Prozent die Rede ist. Somit könnte das AKP-MHP-Bündnis bei einer Neuwahl deutlich schlechter abschneiden und abermals eine Wahlschlappe kassieren.

Die türkische Währung hat in den letzten zwölf Monaten zum US-Dollar bereits über 40 Prozent an Wert verloren

Gegen eine erneute Wahl spricht aber auch die Befürchtung, dass die politische Verunsicherung auf die Märkte rapider sich auswirkt und ausländische Investoren noch mehr abgeschreckt werden. Denn dem Ausland zu erklären, wieso nun Neuwahlen stattfinden sollen, wo doch İmamoğlu bereits zum Oberbürgermeister ernannt wurde, dürfte viel schwieriger ausfallen als der eigenen Bevölkerung verständlich zu machen, wieso dieser Weg zum Machterhalt notwendig ist. Schließlich hat die türkische Währung in den letzten zwölf Monaten zum US-Dollar bereits über 40 Prozent an Wert verloren; allein im April 2019 fünf Prozent. Damit fiel die türkische Lira auf einen Sechsmonatstief.

 

Eine gespaltene AKP

Dem bisherigen schlechten Krisenmanagment der AKP ist geschuldet, dass innerhalb der AKP Unstimmigkeiten vorherrschen und längst keine Geschlossenheit nach außen demonstriert wird.

Es ist vor den Kulissen nicht einmal eine stimmige Linie des Parteiführers Erdoğan erkenntlich, der seiner angeschlagenen Partei in İstanbul keinerlei Richtung vorweist. Erdoğan ist an seinem eigenen Machterhalt interessiert und zeigt sich darum offen für die Anerkennung des Wahlergebnisses.

 

"Türkei-Bündnis"

Er hat inzwischen zu einem großangelegten „Türkei-Bündnis“ mit der CHP aufgerufen. Einigen Parteifunktionären geht es vordergründig aber um Postensicherung und Gesichtswahrung. Sie wissen, dass die Wahlschlappe ihre Posten kosten wird. Darum lassen sie nichts unversucht, um die Neuwahl durchzusetzen.

Dies sollte auch nicht überraschen. Denn die AKP war nie eine homogene Partei. Zwar tritt nach außen Erdoğan als Parteiführer auf und ihm gelang bisher, die AKP zusammenzuhalten. Sowohl der Staat als auch seine Partei sind auf ihn zugeschnitten. Doch Erdoğan sieht sich verstärkt Flügelkämpfen und parteiinternen Oppositionellen ausgesetzt, die seine Partei bedrohlich an den Rand einer Spaltung führen könnten. Dabei treten insbesondere drei Figuren auf, die in der jüngeren Geschichte für die AKP wirkten und wichtige Posten übernahmen.

Es zeigt sich, dass sich mindestens zwei parteiinterne oppositionelle Lager gebildet haben: Eines um den ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu. Und das andere um den ehemaligen Staatspräsidenten Abdullah Gül und den ehemaligen Wirtschaftsminister Ali Babacan. Beide Lager eint die Feststellung, dass die AKP-Führung von ihrer einst zurückhaltenden Politik der Jahre zwischen 2002 und 2007, mit einigen Beschränkungen auch bis 2013 längst abgewichen sei und zunehmend dem Parteiansehen geschadet und dem Gründungsmanifest der AKP von 2001 als eine Reformpartei, die Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit verspricht, widersprochen werde.

 

Kommt eine parteiinterne Machtprobe?

Dabei unterschlagen beide Lager in ihren bislang eher seltenen Statements die eigenen Verstrickungen in die desolate Lage von heute und es ist ungewiss, ob es zu einer Neugründung einer Partei kommt oder zu einer parteiinternen Machtprobe. So begann unter Davutoğlu als Außenminister und später Ministerpräsident nicht nur das außenpolitische Harakiri, sondern auch die Verfolgung von Oppositionellen nach den Gezi-Protesten 2013, die vollständige Zerschlagung der Gülen-Bewegung und die Transformation der parlamentarischen Demokratie in ein autoritäres Präsidialregime.

Bahçeli treibt Erdoğan vor sich her, liefert ihm die national-populistischen Stichworte und kann dadurch seine nationalchauvinistischen Themen zur Staatspolitik erheben.

Gül hat sich als Staatspräsident von 2007-2014 hingegen einen nüchternen Ruf sichern können und trat stets als good guy auf im Gegensatz zum Raufbold Erdoğan. Doch in keiner anderen Regentschaft als unter seiner hat die Abschaffung des Rechtsstaates dermaßen Gestalt angenommen wie nach dem Verfassungsreferendum vom 12. September 2010. So hat die als Justizreform getarnte Entmachtung des Hâkimler ve Savcılar Kurulu HSK (Rat der Richter und Staatsanwälte) dazu geführt, dass Gülen-nahe Richter und Staatsanwälte von der Anhebung der Mitgliederzahl des Rates von sieben auf 22 profitierten und überhaupt im Justizapparat weitreichend das Sagen übernehmen konnten.

 

Politisierung der Justiz

Auch hat die Erhöhung der Zahl der Richter am Verfassungsgericht von elf auf 17 nicht zu mehr Rechtsstaatlichkeit, sondern zur weitgehenden Politisierung der Justiz geführt, denn ernannt wurden die neuen Richter anteilig vom Staatspräsidenten Gül und dem Parlament, wo die AKP die Mehrheit stellte. Alte laizistisch-kemalistische Richter und Staatsanwälte verloren ihre Mehrheiten in diesen Institutionen, wurden entlassen, versetzt oder abgestraft, ihre Stellen durch Kader der Gülen-Bewegung besetzt. Nicht zu vergessen ist die weitreichende Entmachtung des Militärs im Ergenekon-Komplott zwischen 2007 und 2013, das ein bis dahin unbekanntes Machtvakuum in den Staatsapparaten schuf und der AKP dadurch erst recht eine Etablierung in Staat und Gesellschaft ermöglichte. Das alles geschah unter Gül und mit dessen Zustimmung.

Neben diesen beiden Lagern gibt es aber auch getreue Gefolgschaft, die sich gegenübersteht und regelmäßig um die Gunst des Führers buhlt. So hat sich Süleyman Soylu, seit 2016 Innenminister deutlich als martialischer Kampfgenosse profilieren können und rottet neben dem „Pinguin“-Lager, bestehend aus Journalisten, Beratern und Financiers um den Finanzminister Berat Albayrak ein ihm loyales Lager von Straßenschlägern, Bürokraten und Einpeitschern um sich.

 

Ein bröckelndes Bündnis

Zweifelsohne gehört zu den Gewinnern der Kommunalwahl der Führer der nationalchauvinistischen MHP Devlet Bahçeli. Seitdem Erdoğan notgedrungen mit ihm zur Mehrheitsbildung im Parlament, aber auch zur Besetzung des von angeblichen Gülenisten gesäuberten Staatsapparates Personal braucht, ein Bündnis eingehen muss, verliert die AKP immer mehr Wähler an die MHP. Den aggressiven Ton des Wahlkampfs bestimmte sowieso Bahçeli mit seiner Behauptung einer „beka sorunu“ (Existenzfrage), weshalb er gegenwärtig als der heimliche Führer in Ankara angesehen wird.

Ein Weiter-so ist ohne weiteres nicht mehr möglich.

Bahçeli treibt Erdoğan vor sich her, liefert ihm die national-populistischen Stichworte und kann dadurch seine nationalchauvinistischen Themen zur Staatspolitik erheben. Zugleich sichert er sich dadurch in Zentralanatolien die Stimmen enttäuschter AKP-Wähler, die sich vom nationalistischen Schwenk der AKP, die sich zuvor noch islamistisch-internationalistisch gab nicht mehr überzeugen lassen und darum zum Original greifen: der MHP. Nicht ohne Stolz verkündet daher Bahçeli einen Stimmenanteil von 18,81 Prozent für seine Partei, während landesweit die Cumhur İttifakı (Volksallianz) von AKP und MHP auf umgerechnet 51% kommt und die AKP somit hinter ihr einstiges Ergebnis von 2002 mit 34% fällt.

 

Erdogan rüstet auf

Das hat Erdoğan inzwischen erkannt und rüstet auf zu neuem Geländegewinn. Denn längst ist im Palast angekommen, dass der Krisenaufschub wie in den vergangenen Monaten zwar kurzfristig wirkte und die Rezession verzögerte. Nun aber schrumpfen auch die Dollarreserven der Zentralbank.

Die Kernschmelze im AKP-Milieu ist daher bereits in den Metropolen ausgebrochen.

Ab Mai 2019 gilt das Iran-Embargo auch für die Türkei, die bislang von einer sechsmonatigen Ausnahmeregelung profitieren konnte. Folglich ist ein Weiter so ohne weiteres nicht mehr möglich. Die Türkei bezieht günstiger als auf dem Weltmarkt sein Erdöl zu etwa 30%, sein Erdgas zu etwa 20% vom Iran und muss sich nun zu üblichen Marktpreisen teureres Öl und Erdgas vom Weltmarkt beschaffen. Das wird die Inflationsrate merklich beeinflussen, denn die vollständige Abhängigkeit von Öl- und Gas-Importen wird die Produktionskosten des sowieso schwächelnden produzierenden Gewerbes erhöhen und die Verbraucherkosten spürbar betreffen.

Sogar in der Provinz muss die AKP Verluste an die verbündete MHP hinnehmen.

Die Auslandsverschuldung der Privatunternehmen lässt sich auch nicht mehr ohne weiteres umgehen oder aufschieben, bis zum Sommer wird der Beginn einer Welle von Pleiten und Entlassungen vorausgesagt. Die Kernschmelze im AKP-Milieu ist daher bereits in den Metropolen ausgebrochen, die Arbeitslosigkeit steigt weiterhin und sogar in der Provinz muss die AKP Verluste an die verbündete MHP hinnehmen.

 

Martialisch, laut und radikal

Erdoğan kann sich daher eine starke, auf Autarkie setzende MHP auf Dauer nicht leisten. Denn das Bündnis ist zunächst ein Gewinngeschäft für die MHP, die ihr Personal in strategisch wichtige Stellen setzt. Solange es der MHP gelingt, für Erdoğan den Mehrheitsbeschaffer zu spielen, um im sowieso stillgelegten Parlament keine Hürde zu werden, versorgt Erdoğan seine Verbündeten mit Posten im Justiz- und Polizeiapparat auf Kosten eines zunehmend autoritärer werdenden Regimes. Dort allerdings benehmen sich die nationalchauvinistischen Schergen so, wie sich Faschisten im Gewand des Staates, ausgestattet mit allen Möglichkeiten und Mitteln benehmen: Martialisch, laut und radikal. Das kann Erdoğan, der von ausländischem Kapital und Investoren abhängig ist, mittelfristig nicht gebrauchen, schon gar nicht, wenn er das sowieso arg beschädigte Vertrauen und Ansehen irreparabel mit eigenem Wirken bereits beschädigt hat.

 

Too big to fail

Erdoğan wäre aber nicht Erdoğan, wenn er nicht wüsste, wie sehr aber auch das Ausland wie in den Jahren zuvor ihn braucht. Die Türkei ist nicht nur für ihn too big to fail. Also sieht er sich um und streckt der deutlich milderen CHP den Arm aus, um der eigenen Verantwortung sich zu entziehen. Nur so lässt sich sein Aufruf an die CHP, eine Türkei-Allianz zu bilden erklären. Ob die CHP ihm die Hand reicht, und einem fallenden Erdoğan-Regime zur Hilfe eilt, wird sich zeigen. Besonders erpicht scheint man aber nicht zu sein. Der Fall İstanbuls hat der CHP gezeigt, dass sie getrost auf ein „Türkei-Bündnis“ verzichten kann.

Montag, 08.04.2019 / 13:51 Uhr

Recep Tayyip Erdoğan und der Kampf um İstanbul

Von
Murat Yörük

Der türkische Präsident musste seine erste Wahlschlappe seit langem einstecken. Er wird die Opposition aber weiter gängeln, denn Niederlagen sind für ihn nicht hinnehmbar.

Als routinierter Redner versteht Recep Tayyip Erdoğan etwas von plumper Rhetorik. Seine Sätze sind hohl und pathetisch und schließen wie im Türkischen üblich das Wir stets mit ein. Das klingt im Wahlkampfvideo für die Kommunalwahl vom 31. März 2019 so:

„Freunde! Gemeinsam sind wir vor 17 Jahren für eine starke Türkei auf die Reise gegangen. Diese Reise ist die Geschichte von uns allen. Diese Reise ist der Beweis für unsere große Liebe zum Volk. Diese Reise ist die Geschichte eines Volkes, das uns vertraut und uns glaubt. Auf dieser Reise konnte uns niemand aufhalten. Alle Hindernisse haben wir gemeinsam überwunden. Wir sind nun eine große Türkei! Stadt für Stadt treten wir nun abermals eine Reise an, um dem Volk zu dienen. Für eine aufgeklärte Türkei! Für unsere Kinder! Für unsere Jugend! Für unsere Zukunft! Möge Allah uns helfen und uns segnen!“

 

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(Bild: Wahlkampfvideo "Möge Allah uns helfen")

 

Eingearbeitet wurden diese Sätze in das populäre Lied „Bir Aşk Hikayesi“ („Eine Liebesgeschichte“) des 2015 verstorbenen Liedermachers Kayahan. Unter dem Wahl-Slogan „Das ist eine Liebesgeschichte“ trat Erdoğan einen Wahlkampf an, in dem er immer wieder wiederholte, um was es ihm ginge: um einen Existenzkampf um Leben und Tod. Dafür legte er alles in die Waagschale und nutzte alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel. Auf seinen Wahlkampfauftritten befeuerte er die Massen, und gab den Einpeitscher. Er benutzte hierfür insbesondere die erste Strophe des Liedes von Kayahan, um damit seine abgöttische Liebe zu Volk, Heimat und Vaterland zu unterstreichen. Aus einem politisch unverfänglichen Liebeslied allerdings, der an die Geliebte appelliert: „Sei nicht traurig, weine nicht. Lächle stets.“, wurde ein Propagandalied für die Massen, derweil die zweite Strophe des Liedes vollständig unterschlagen wurde, in dem es um das Ende der Liebesbeziehung geht und Kayahan ansetzt, um über seine persönliche Schuld und die eigenen Verstrickungen in das Ende der Beziehung nachzudenken, seine eigenen Fehler bei einem Glas Whiskey einzugestehen.

Gekommen, um zu bleiben

Von dieser Art Selbstreflexion ist bei Recep Tayyip Erdoğan und den Seinen bis heute nichts angekommen. Sie sind gekommen, um zu bleiben und nicht zu gehen. Sie halten an ihren Errungenschaften fest und lassen die Geliebte wie der Stalker nicht los. Das hat Erdoğan zu verschiedenen Anlässen immer wieder verkündet und ist davon auch nicht abgewichen, obwohl er immer wieder betont, dass allein nur Volkes Wille für ihn zähle und nur das Volk ihn abwählen könne. Anders als sein Ziehvater Necmettin Erbakan, der noch durch das vormals dominante Militär im Februar 1999 gestürzt wurde, hat er alle juristischen, politischen und militärischen Hindernisse, die ihm gefährlich werden können Schritt für Schritt in 17 Jahren beseitigt und ist nun in einem für ihn maßgeschneiderten Regime angekommen.

Er braucht den Wahlkampf, der bestimmt ist durch Feinderklärungen, Polarisierungen und schließlich vom Versprechen eines Triumphs über den politischen Gegner.

Dieser Durchmarsch ist zwar nie einem zuvor festgelegten Programm gefolgt. Und dennoch ist Erdoğan seinem ersehnten Ziel näher gekommen: „Hedef 2023“ (dt.: Ziel 2023). Auf seinem Weg bestritt er in den vergangenen fünf Jahren insgesamt sieben Wahlen – und hat mit Ausnahme der Parlamentswahlen vom Juni 2015 seit 2002 immer mit absoluter Mehrheit siegen können. Erdoğan lebt dabei wie viele Agitatoren vom Geist des Voluntarismus. Er braucht den Wahlkampf, der bestimmt ist durch Feinderklärungen, Polarisierungen und schließlich vom Versprechen eines Triumphs über den politischen Gegner. Das hält nicht nur sein ihm fügsames Wahlvolk zusammen, sondern beschäftigt auch treue Parteisoldaten, die unmissverständlich klar machen, zu wessen Diensten sie stehen.

Die Arabeske, ein türkisches Kulturgut

Der affektgeladene Stil, der dabei machtvoll demonstriert wird, erinnert unweigerlich an die Arabeske. Anathema der Arabeske ist die unglückliche Liebe. Diese Musik mauserte sich zum türkischen Kulturgut und wird in Dauerschleife trotz allem, was gegen sie spricht weiterhin zum Besten gegeben. Kaum eine Taxifahrt in İstanbul oder in den entfernten Provinzen kommt ohne die Titanen aus, die ihre Hörer quälen. Ihr Liedgut ist pathetisch, sentimental, regt zur Regression an und wird auch als "Damar"-Musik bezeichnet.

Es geht nun nicht mehr allein um unerwiderte Liebe, sondern auch um das Unglück des Verlassenwerdens.

Wenn Orhan Gencebay den Weltuntergang besingt, nur weil „Kader“ („das Schicksal“) es nicht gut mit ihm meint („Soll diese Welt doch untergehen!“), Müslüm Gürses Besitzansprüche erhebt („Du hast dich getrennt, Geliebte. Ich hatte aber nicht genug von dir“) oder İbrahim Tatlıses an der unerwiderten Liebe festhält („Was hast du bloß vom Leben ohne meine Liebe? Ich lasse dich nicht gehen.“), sind finstere Gesellen nicht weit, die von solcher Musik ihr Selbstzerstörungsdrang beflügeln und bis hin zum Mord an der Geliebten gehen. Denn diese Musik soll an die Substanz des Hörers gehen, seinen Schmerz nicht heilen, sondern erdrückender machen, gar den abgehärtetsten Hörer zum Weinen bringen, der mitunter auf Konzerten von Müslüm Gürses zur Rasierklinge greift. Es sind in erster Linie Männer, die solche Musik hören, sich in Ekstase versetzen und in falscher Trauerarbeit der unerfüllten Liebe hinterherrennen oder sie gar idealisieren; nicht loslassen, sondern umso fester an der Unmöglichkeit klammern, dem Fatalismus das Wort reden, beharrlich der Geliebten nachstellen, sie belästigen, sie mit Liebesbekundungen erdrücken. Das ist türkischer Machismo, der in der Arabeske besungen und tradiert wird.

 

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(Bild: Orhan Gencebay mit dem türkischen Präsidenten)

 

Ihre Neuauflage erlebt diese Art von verhängnisvoller Emotionsregulation in der türkischen Popmusik seit den 1980er Jahren. Bis dahin war der Arabeske vornehmlich in den Wohnvierteln der zugezogenen İstanbuler zu hören, die glaubten, die Großstadt mit ihrer Musik aus der Provinz bereichern zu können. In der Popmusik lebt die arabeske Tradition zwar fort, erweitert das Repertoire aber um entscheidende Variationen, übernommen von westlicher Popmusik, um wenigstens zu traurigem Inhalt mit unterlegten Beats tanzen zu können. Es geht nun nicht mehr allein um unerwiderte Liebe, sondern auch um das Unglück des Verlassenwerdens, um die verpassten Gelegenheiten, um das Ausschlagen eines Flirtversuchs, um die Nichtigkeiten des Liebeslebens in der Großstadt, um Eifersucht und Neid auf die Konkurrentin. Damit folgt bereits diese populäre Musik einem Säkularisierungstrend, der zumindest in der türkischen Popmusik nicht mehr aufzuhalten ist. Denn keine Liebesbeziehung in der Gegenwart ist unbedingt von Dauer und mit unerwiderter Liebe muss ein sozialverträglicher Umgang gefunden werden, ohne sich selbst oder andere zu verletzen. Darum ist Popmusik, die in der Regel für das Loslassen plädiert und ohne sentimental zu werden Trauerarbeit zulässt, in der Türkei bis heute beliebt und inzwischen beliebter denn je, seitdem das persönliche Kennenlernen durch kulturelle Öffnung und soziale Medien auch in bislang traditionellen Milieus erleichtert wird. Damit steigt aber auch die Zahl an Abfuhren und Enttäuschungen. Zuflucht und Trost wird in der Popmusik und weiterhin in der Arabeske gesucht.

Im Weltbild Erdoğans sind Niederlagen nicht hinnehmbar.

Historisch lässt sich diese Liebeslyrik zurückverfolgen bis in die zweite Hälfte des siebten Jahrhunderts. Der Legende nach erkrankt Mecnun an seiner unglücklichen Liebe zu Leyla und geht an der unerwiderten Liebe unter. Sein Liebesschmerz wird zum Weltschmerz. Die Pein wird nicht zum Makel, sondern zum einzig bestimmenden Lebensmoment, mit der jede Hoffnung auf Besserung zerstört wird. Auch viele türkische Serien folgen wie die Arabeske diesem Muster und sind weiterhin beliebt.

Neuer Eroberungsdrang

Im Weltbild Erdoğans sind Niederlagen nicht hinnehmbar. Sie steigern vielmehr seinen Eroberungsdrang. Das bestätigt allein sein Verhalten nach der Parlamentswahl vom Juni 2015, als er damals die absolute Mehrheit im Parlament an die zerstrittene Opposition verlor, und davon profitierte, dass sie sich nicht einig werden konnte und es zu keiner Regierungsbildung kam. Im November 2015, zwischenzeitlich brach der bewaffnete Konflikt mit der PKK erneut aus, wurden die Parlamentswahlen wiederholt und Erdoğan siegte in der aufgehetzten Stimmung wiederum mit absoluter Mehrheit. Gewohnt, die sunnitisch-türkische Identitätskarte auszuspielen und den politischen Gegner durch Niedertracht zu schmähen, sind ihm Mehrheiten sicher. Entsprechend formte sich über die Jahre ein übersteigertes türkisch-islamisches Selbstbewusstsein, dass sich seiner Grenzen nicht mehr gewahr sein konnte. Triumphe stumpfen auf Dauer jedoch ab und machen für Korrekturen unempfindlich.

Verlust der Großstädte

Eben dies zeigt sich nun im Nachgang zur Kommunalwahl vom 31. März 2019. Erstmals verliert die AKP nach 17 Jahren wichtige Großstädte und es könnte der Anfang vom Ende Erdoğans sein. Die AKP verliert die wichtigen Großstädte Antalya, Adana und Mersin, muss sogar nach 25 Jahren die Hauptstadt Ankara an die CHP abtreten. In İstanbul führt der Kandidat der CHP Ekrem İmamoğlu hauchdünn nach vorläufigem Endergebnis mit einem Abstand von nur 0,25%. Das ist ein Novum und wäre nicht möglich gewesen, wenn insbesondere die HDP auf eigene Kandidaten in İstanbul und Ankara verzichtet hätte. Trotz allen Hürden und Grabenkämpfen, die es gibt, gab es eine inoffizielle Volksfront von CHP, IYI, HDP und sogar der SP. Dabei hat die CHP im gesamten Wahlkampf der vergangenen Monate allein auf soziale Themen gesetzt und auf die Folgen der anbahnenden ökonomischen Krise hingewiesen. Deshalb bekam sie auch Tausende Stimmen von Kurden in İstanbul, Ankara und anderen Städten.

Einst versprach Erdoğan und die AKP Wohlstand für Alle. Diese Erwartungen sind in den vergangenen Jahren des Erdoğan-Regimes die ökonomische Stütze gewesen, ohne die die Popularität des Führers unvorstellbar gewesen wäre.

Dabei konnte die CHP anders als in früheren Wahlkämpfen mit ihrem Kandidaten İmamoğlu eine Geschichte erzählen und Hoffnung anbieten. Damit konnte er auch die von der Krise bereits jetzt gegängelten traditionellen Wählermilieus der AKP erreichen. Das ging ohne ein Abholen dieser Wähler nicht, die sichtlich irritiert gewesen sein mussten, als sie erstmals von İmamoğlu hörten, und sich wunderten, dass der „Sohn des Imams“ (İmamoğlu auf Türkisch) nicht ein Kandidat der AKP sei. Denn anders als der Kandidat der AKP, Binali Yıldırım, war İmamoğlu nach Bekanntgabe seiner Kandidatur im Dezember 2018 bei nur 18% der İstanbuler bekannt. Als Bürgermeister des Stadtteils Beylikdüzü hatte er 2014 im bis dahin als AKP-Hochburg geltenden Stadtteil siegen können. Durch nachhaltige Kommunalpolitik und Bürgernähe bewies er sich und gewann dadurch auch Rückhalt in sonst sehr reservierten, stramm laizistischen CHP-Kreisen, die beharrlich wie eh und je auf die gleichen kulturpolitischen Dauerbrenner setzten und aus den resultierenden Wahlpleiten keine wirklichen Konsequenzen zogen.

 

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(Bild: Wahlkampf des CHP-Kandidaten Ekrem İmamoğlu)

 

Neue Strategie der Opposition

Dieses Mal verfolgte die CHP eine andere Strategie und verlegte sich allein auf soziale Themen. Denn längst ist in den Metropolen die sich anbahnende ökonomische Krise angekommen und unter ihre Räder geraten zunehmend auch die unter Erdoğan aufgestiegenen türkisch-islamischen Wählermilieus der Mittelklasse, die sich in der konjunkturellen Hochphase der vergangenen Jahre mit billigen Konsumentenkrediten verschuldeten und eines der erschwinglichen Immobilien leisten konnten. Damit ist aber endgültig vorbei. Die ökonomische Krise hat die Türkei erfasst, das Land befindet sich bereits in einer Rezession, deren Ende sich nicht abzeichnet. Das trifft insbesondere die Bewohner der ökonomisch starken Metropolen. Auf den Gemüsemärkten dort ist inzwischen die Verteuerungsrate von bis zu 30% spürbar, auch für die mittleren Einkommensklassen sind die Lebenshaltungskosten mit einer durchschnittlichen Inflationsrate von ca. 20% stark gestiegen. Die Banken tolerieren Überziehungskredite und Ratenzahlungen per Kreditkarte immer seltener. Allein 2018 haben etwa eine Million Beschäftigte ihre Arbeit verloren, sodass die offizielle Arbeitslosenquote auf 13,5%, bei Jugendlichen bis 25 sogar auf 25% gestiegen ist.

Seine Liebe zum Volk mag unendlich sein; die Realität zeigt aber das wahre Ausmaß seiner Panik.

Einst versprach Erdoğan und die AKP Wohlstand für Alle. Diese Erwartungen sind in den vergangenen Jahren des Erdoğan-Regimes die ökonomische Stütze gewesen, ohne die die Popularität des Führers unvorstellbar gewesen wäre. Die türkische Wählerschaft setzt bei aller Borniertheit auf Prosperität, womit nicht unbedingt persönliche Freiheit gemeint ist, sondern in erster Linie: Immobilie, Massenkonsum auf Kredit und zunehmend auch Respekt für den Islam als Alltagsreligion. Erdoğan erfüllte diese Wünsche als Diener des Volkes und mauserte sich so zum Führer des Volkes. Entsprechend kam Wachstum auf Pump und kreditfinanzierter Konsum bei den Wählern an. Es war bloß eine Frage der Zeit, bis die überreizte Konjunktur abbricht und statt Hoffnung auf Wohlstand Panik sich breit macht. Diese Panik spiegelt sich nun im Wahlergebnis der Kommunalwahlen wider.

Wie auf die Wahlpleite reagieren?

Anders als aber der erste Blick suggeriert, ist die arabeske Platte, die Erdoğan inzwischen auflegt keinesfalls nur allein der Unfähigkeit zum Loslassen geschuldet. Seine Liebe zum Volk mag unendlich sein; die Realität zeigt aber das wahre Ausmaß seiner Panik. Ob er die Wahlpleite einfach hinnimmt, ist fragwürdig und alles scheint offen. Die Liebesgeschichte, die er im Wahlkampf jedoch verkündet hat, überdeckt die symbolische wie ökonomische Bedeutung İstanbuls für ihn und seine Partei. In İstanbul begann zwar 1994 sein Siegeszug.

 

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(Bild: Knapper Vorsprung in Istanbul)

 

İstanbul gewährt zwar einen ersten Ausblick auf kommende Wahlen. In erster Linie ist İstanbul aber die türkische Finanz- und Wirtschaftsmetropole schlechthin und hat am türkischen Bruttoinlandsprodukt einen Anteil von etwa 50%. Hier funktioniert das AKP-System mit Schmiergeldern und Korruption wie geschmiert, AKP-nahe Unternehmer ergattern wichtige Milliardenprojekte und das auf Dienst am Volk setzende System verläuft hier zusammen. Dahingehend bedeutet ein Verlust İstanbuls auch den Kontrollverlust über dieses Patronagesystem. Darüber hinaus steht als einzige Großstadt der Türkei İstanbul ein Jahresbudget von etwa 10 Milliarden Dollar zur Verfügung und kann, sofern keine Eingriffe aus Ankara erfolgen sollten, sich prinzipiell unabhängig verwalten. Die Stadt beschäftigt 500.000 Mitarbeiter und bietet für viele Gefolgsleute ein Unterkommen. Schon allein deshalb ist der Verlust İstanbuls für Erdoğan nicht lediglich eine Lappalie, über die er hinwegsehen könnte. Entsprechend spielt sich seit dem 31. März ein Drama ab, dessen Ausgang noch ungewiss ist.

Istanbul nicht aus der Hand geben

Darum wird Erdoğan nichts unversucht lassen, um İstanbul in seiner Hand zu halten. Je mehr die AKP die neue Staatspartei wurde, desto korrupter wurde sie auch. Ein wichtiger Kitt dabei ist der Verbund von Unternehmern um Erdoğan, die nahezu alle großen und lukrativen Staatsaufträge erhalten und diese mit günstigen Krediten der Staatsbanken finanzieren. Sie werden Yandaş genannt, Gesinnungsgenossen. Diese Yandaş-Unternehmen um Erdoğan, denen viele Medienhäuser gehören, halten zusammen. Jeder weiß: Fällt der eine, fällt auch der andere. Erdoğan hat dieses System nicht erfunden, er hat es nur über die Jahre vervollkommnet. Die ideale Branche, um eine Yandaş-Wirtschaft einzurichten, ist der Bausektor.

Erdoğan, der zum hundertjährigen Jubiläum der Republik 2023 an seinem Endziel ankommen will, lässt sich von der derzeitigen Euphorie der Opposition nicht beirren.

Denn der Verkauf von Grundstücken, die Erteilung einer Baugenehmigung und die Ausschreibung eines Projekts – das sind Entscheidungen der Verwaltung. Erdoğan nutzte diese Möglichkeiten bereits als Oberbürgermeister İstanbuls in den 1990ern, und er nutzt sie auch heute. Ein Wendepunkt war darum das Jahr 2008. Die türkische Regierung setzte auf die Baubranche, um nach der Weltwirtschaftskrise auf die Beine zu kommen. Erst erlebte der Wohnungsbau einen Boom, getragen von den Aufträgen der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft TOKI. Dann folgten von 2011 an die milliardenschweren Großprojekte mit dem Etikett der „Public Private Partnership“ in İstanbul. Damit der Staat sich nicht allzu verschuldet, bauen private Unternehmen Flughäfen, Autobahnen oder Brücken. Und betreiben sie dann auch, bis sie der Staat nach frühestens zwanzig Jahren aufkauft. Plötzlich waren Bauunternehmer wie Orhan Cemal Kalyoncu oder Ali Ağaoğlu die wichtigen Namen der türkischen Wirtschaft – nicht mehr Industrielle aus dem Westen, sondern aus Anatolien. İstanbul ist somit eine sehr wichtige Geldquelle, nicht zu vergessen auch für die zahlreichen Bruderschaften, Orden und Stiftungen. Nun droht dieses gesamte System einzustürzen.

Nichts Gutes für die nächsten Jahre

Folglich verheißen die kommenden vier Jahre, die nächsten regulären Wahlen stehen erst im Herbst 2023 an, nichts Gutes. Erdoğan, der zum hundertjährigen Jubiläum der Republik 2023 an seinem Endziel ankommen will, lässt sich von der derzeitigen Euphorie der Opposition nicht beirren. Längst hat er den Staat und seine Institutionen in seinem Sinne geformt und weiß auch entsprechende Manöver einzulenken. Entsprechend sollte sich niemand falsche Hoffnungen machen und sich darauf einstellen, dass Erdoğan die Möglichkeiten, die er hat nutzen wird. Gegen ihn spielt die ökonomische Krise und die internationale Isolierung. Vom Krisenverlauf und dem Krisenmanagement der kommenden Monate wird es abhängen, wie Erdoğan reagiert, um nicht soziale Unruhen auszulösen. Die Opposition hat erstmals einen zumindest symbolischen Sieg erringen können und konnte zeigen, dass nicht alles hoffnungslos verloren ist. Die Mär vom unbesiegbaren Erdoğan ist hinüber.

 

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(Bild: Vielsagende Überschrift)

 

Gelegen kommt ihm aber der massive Umbau der Republik, den er energisch in den vergangenen Jahren vorangetrieben hat. Als ob er geahnt hätte, dass auch sein Ende kommen könnte, und er im Endkampf um seine Existenz alle Karten in der Hand haben will, gehört zu seinen Befugnissen seit der Transformation der Republik in ein autoritäres Präsidialsystem auch die Entlassung von Bürgermeistern per Dekret; die Delegation kommunaler Aufgaben wie z.B. die Budgetverwaltung an seine Minister; Eingriffe in die kommunale Selbstverwaltung, z.B. die Schwächung des Bürgermeisters und die Stärkung des Stadtparlaments; die Ernennung von Gouverneuren, die ihre Zustimmung für wichtige Postenvergaben in den Städten geben müssen. So wäre es für ihn ein Leichtes, kurzerhand die Baugenehmigungen im ihm unterstellten Städtebauministerium zu bündeln. Nichts für ungut also.

Erdoğan hat zwar einen heftigen Schlag abbekommen. Er bleibt jedoch der Meister des arabesken Stils und wird es einer nunmehr gestärkten Opposition nicht einfach machen.

Mittwoch, 26.09.2018 / 18:21 Uhr

Zur Klärung der Frage: Was ist ein „Ex-Muslim“?

Von
Murat Yörük

So wie jede ritualisierte Namensfindung, die nicht im Handgemenge entstanden, sondern einer  behilflichen Werbeagentur entsprungen sein muss, die gekonnt Sozialfiguren eifrig in Szene setzt, ist die Selbstbezeichnung Ex-Muslim befremdlich und erstaunlich zugleich.

Als politische Identität ist er aus den aktuellen Diskussionen rundum den Islam nicht mehr wegzudenken. Man müsste ihn heute wohl erfinden, hätte der Ex-Muslim sich nicht bereits erfunden, und sich gekonnt in Szene gesetzt. Was er erzählt, ist erstaunlich berechenbar. Man hat, was er erzählt, schon mindestens einmal gehört.

Ist der Ex-Muslim vielleicht sogar die Verschmelzung von Kunst und Politik, um performativ zu demonstrieren, wie bunt und vielfältig die Welt inzwischen geworden ist, dass in ihr sogar Ex-Muslime anzutreffen sind?

Zunächst ist der Ex-Muslim eine ungewöhnliche Spielmarke im Karneval der Identitäten, der heute unverzichtbar geworden ist, um in der Öffentlichkeit gehört, gelesen und anerkannt zu werden, seitdem alle auf die buntscheckigsten Identitäten schwören. Denn was soll das auch schließlich besagen   Ex-Muslim zu sein und sich als solcher zu identifizieren   außer das Mitmachen in den Identitätspolitiken kundzutun, nur eben bloß als ganz engagierte Sozialfigur?

Gibt es Ex-Christen, Ex-Juden, gar Ex-Buddhisten? Ist der Ex-Muslim vielleicht sogar die Verschmelzung von Kunst und Politik, um performativ zu demonstrieren, wie bunt und vielfältig die Welt inzwischen geworden ist, dass in ihr sogar Ex-Muslime anzutreffen sind? Vieles spricht dafür. Schließlich ist der Ex-Muslim auch eine inszenierte Selbstvermarktung, die im Modus der narzisstischen Selbstdarstellung operiert und die gängigen marktkompatiblen Attribute mitbringt, die heute stark nachgefragt sind, um auf dem Markt der Singularitäten zu bestehen. Heute will jeder anders sein als die Anderen, und wer nicht auffällt, geht unter. Heute will jeder auch ganz besonders sein. Insbesondere der Ex-Muslim, der immer zur Stelle ist, sobald es um den Islam geht. Er kommt, wie gerufen, und erzählt, was alle bereits kennen und bestätigt bekommen wollen.

Im deutschsprachigen Raum taucht der Ex-Muslim vermutlich um 2006/2007 auf, als sich ganz der Kampagnenpolitik verpflichtet unter dem Motto Wir haben abgeschworen der Zentralrat der Ex-Muslime e.V. gründete.  Die Ex-Muslime spielen seitdem nicht die Rolle des Geistes, der stets verneint, sondern die des Zeitgeistes, der sich dem Markt der vielfältigsten Identitäten verschrieben hat und den diskursiven Vorlieben der Öffentlichkeit folgt. Offensichtlich ist der Ex-Muslim dem Islam, nicht so wie er erhofft hat, entkommen, sondern ihm noch stärker verbunden als ihm gemeinhin lieb sein dürfte.

Leben als Ex

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Man kennt derlei tragische Beziehungen, die folgenschwere Nachwirkungen auf das psychische wie soziale Leben haben aus den kitschigen Liebesromanen, die in Bahnhofsbuchhandlungen verkauft werden, und immer Abnehmer finden. Die Stereotype, die in diesen Romanen zum Einsatz kommen und das Publikum dort abholen sollen, wo es steht sind bekannt: Der berüchtigte Ex, der mit der Trennung nicht umzugehen weiß, und changierend zwischen Schwärmereien und Hasstiraden über die vergangene Beziehung auffällt und einfach nicht loslassen kann; die anhängliche Ex, die über den Kummer nicht hinweg kommt, und stets die Nähe des Ex aufsucht und Liebes- oder Hasshymnen auf ihn verfasst, weil ein Leben ohne ihn unvorstellbar geworden ist; der verbitterte Ex, der demonstrativ und selbstbezüglich nur noch Schlechtes zum Tratschen anzubieten hat und mit Hassbotschaften triumphiert, weil ihm die Distanz fehlt.

Dem Publikum gefällt eine solche Showeinlage auch noch, weil es auch nichts anderes kennt.

Diese Typen sind dem Alltag entnommen, jeder kennt es: Entweder man idealisiert und schwärmt; oder man wertet ab und ist voller abgehalfterter Emotionen, die unbeherrschbar werden. Dass Affekte wenn es um eine geistige Arbeit geht, wie die Kritik es ist , dabei sehr kontraproduktiv sind, scheint nebensächlich zu sein. Denn sie entsprechen einer Zeit, die von der Mobilisierung der Affekte lebt und auf eine Vergeistigung der Affekte im Regelfall verzichtet. Dabei fällt jenen, die sich als den äußersten Kontrapunkt zum Islam setzen nicht auf, dass sie auf dem Fahrwasser destruktiver Beziehungen fahren. Den Ex-Muslimen fällt auch nichts Besseres ein als in einer Mischung aus gewagtem Kalkül und billiger Reklame die Klaviatur zu spielen, die nur noch Lärm und Langeweile erzeugt und darum befremdlich ist. Dem Publikum gefällt eine solche Showeinlage auch noch, weil es auch nichts anderes kennt. Es hat gehört, was es hören wollte, und fühlt sich in seiner Meinung bestätigt. Da kommt der Ex-Muslim wie gerufen.

Negativ fixiert

Es gibt unter Ex-Muslimen eine Islamfixierung, die sonst zur Hellhörigkeit aufschreckt, wenn dies Spinner mit Koran und Gebetskette in der Hand im Kämmerlein tun. Dieses erstaunliche Schweigen hierüber ist verräterisch und bedarf einer Klärung. Schließlich wird dem Ex-Muslim qua Status als ein Ex eine bedeutungsschwangere Authentizität zugesprochen, die nur er beanspruchen könne als Abtrünniger. Dieses Expertentum besitzt er aber nicht, und kann es auch nicht einlösen. Nicht nur, weil Identitäten dies grundsätzlich nicht hervorbringen, sondern auch schon allein deswegen, weil das Ausbleiben von kritischem Abstand den Ex-Muslim geradezu charakterisiert. Schon allein die Selbstbezichtigung, Ex-Muslim zu sein, zeugt davon, dass sich da niemand lösen konnte, wie vermutet, sondern sich bloß negativ identifiziert, und den Islam wie Kaugummi am Schuh kleben hat und ihn einfach nicht loswird. 

Doch der Ex-Muslim hängt am Islam und kann ohne ihn auch nicht mehr leben.

Somit bleibt der Ex-Muslim an seinem Objekt dem Muslim-sein   hängen, und entledigt sich ihm nicht. Das würde nämlich bedeuten, sich in das Leben zu werfen, es zu genießen und sein Glück wie jeder andere auch zu suchen, wenn die neue Freiheit gelebt, und der Islam wirklich ad acta gelegt wird, sich mit ihm also nicht beschäftigt wird.

Doch der Ex-Muslim hängt am Islam und kann ohne ihn auch nicht mehr leben. Er muss sich mit ihm befassen, sich an ihm reiben, zwanghaft und ritualisiert; nicht um sich von ihm zu befreien, und Ruhe zu finden, sondern sich in ihm endgültig zu verlieren. Fatal wird diese Flucht in die negative Identität als Ex-Muslim in Zeiten, die vorbehaltloses Bekenntnis zu irgendetwas und die rücksichtslose Anpassung an irgendetwas erfordern.

Autoritäre Charaktere

Seit einigen Jahren tauchen auch unter Ex-Muslimen vermehrt Spinner auf, die sonst aus den Studien zum autoritären Charakter bekannt waren. Stereotypes Denken ist hier vorherrschend, aus einer tragischen Familiengeschichte wird eine große Kulturgeschichte. Am Muslim wird bloß abgearbeitet, was der Ex-Muslim mühsam bereits hinter sich gelassen haben will. Distanzierung ist das nicht, sondern das Abarbeiten an einem befremdlichen alten Ich, das nur noch anwidern muss. Nicht selten finden sich unter Ex-Muslimen darum diese autoritären Charaktere, die dem Publikum bloß bestätigen, was die jeweilige politische Gemeinde hören will. Entsprechend hat jede Gemeinde seinen Ex-Muslim und kann bei Bedarf auf ihn verweisen und zurückgreifen. Während der eine Ex-Muslim unter die Gürtellinie geht, und mit Reflexionsausfällen und Beleidigungen wild gestikulierend und polternd drauflosredet, findet der andere Gefallen daran, als besondere bemitleidenswerte Spezies sich zu präsentieren. Man kennt diese ulkigen Rollen aus den entsprechenden Sendungen, die irgendwelche Aussteiger aus Sekten und Shows präsentieren, die selbstverständlich in den schwärzesten  Farben, die es nur gibt malen. Schlau wird man aus solchen Ritualen der Unterhaltungsbranche nicht, die auf Emotionen setzt und rührende Geschichten produziert von Aussteigern, die ganz offensichtlich eine Rechnung offen haben. Wer will es ihnen auch verübeln.

Dieses Geschäftsmodell lebt ausschließlich von der richtigen Herkunft, dem stereotypen Denken und dem politisch korrekten Standpunkt des Interessentenkreises.

Als authentische Stimme verleiht der Ex-Muslim schließlich einem vermeintlich zur Verschwiegenheit gedrängtem und zur Unkenntnis verdammtem Publikum seine Stimme und erntet hierfür viel Anerkennung und Lob. Vermutlich könnte man solch ein Bedürfnis nach einem Publikumsjoker links wie rechts liegen lassen, läge es nur allein am Drang nach Bestätigung und Bewunderung. Man könnte aber auch sich mühen und fragen, was der politische wie psychische Gewinn sein soll, sich unbedingt als Ex-Muslim zu identifizieren und herumreichen zu lassen.

Ein Geschäftsmodell

Denn naturgemäß sollte Verdacht auf sich derjenige ziehen, der als Charaktermaske auf die Bühne tritt und seine politische Identität als solche zum Besten gibt. Der authentische Ex-Muslim ist auf der Bühne dabei so tückisch wie der affektierte Rapper, der ein Publikum bedienen muss, das seine Zeilen bereits auswendig gelernt hat und mit dem Kopf nickt, sobald Zeile für Zeile Altbekanntes zum Besten gegeben wird. Schließlich hat das Publikum bezahlt und will lediglich unterhalten werden. Statt Langeweile und Gähnen, herrscht vornehmlich Selbstzufriedenheit. Alles läuft nach Plan.

Dem Bühnenstar nicht unähnlich ist der Ex-Muslim entsprechend unterwegs: Er tritt selten im Modus der Publikumsbeschimpfung auf, hinterfragt und reflektiert nicht die öffentliche Meinung, liefert nicht Unerhörtes, sondern ist primär als bestellte Stangenware unterwegs, der nach Wunsch Horrorgeschichten liefert. Dieses Geschäftsmodell lebt ausschließlich von der richtigen Herkunft, dem stereotypen Denken und dem politisch korrekten Standpunkt des Interessentenkreises. Darum muss insbesondere die Affektivität des Publikums bedient und bestärkt werden, und wenn nicht, sind die enttäuschten Buh-Rufe, wenn der Star nicht einhält, was er verspricht gewiss.

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Das Publikum soll schließlich mitleiden, sich an den Familientragödien der Ex-Muslime ergötzen, sich als Helfer in Not in Solidarität üben und sich entsprechend im Guten wie im Schlechten beim Ex-Muslim fühlen dürfen. Dabei sein ist alles, man hat ja auch sonst keine Sorgen. Das Publikum soll aber auch in diesen dürftigen Zeiten gemeinschaftlich Triebabfuhr leisten, und bereits als Kritik halten dürfen, wenn affektgeladene Impulse als vornehmes Recht mit Kritik verwechselt werden. Die besondere Affektiertheit des Ex-Muslim wird alsdann wertgeschätzt. Er tritt wie ein Verbandsfunktionär auf, der bloß vorgefertigte Meinungen abliefert.

In solchen Zeiten ist Mut einzig in einer längst vergessenen Disziplin angebracht: Ent-täuschung anzetteln. Davon wollen Ex-Muslime bislang nichts wissen. Sie gefallen sich in dubiosen Rollen als entweder Berichterstatter, Insider oder Experte und sind entsprechend umtriebig und heiß nachgefragt. Wer bei YouTube nach Ex-Muslim sucht, wird daher auf  Suchangebote wie folgende stoßen: ex muslime packen aus; ex muslime schockieren; ex muslime berichten; ex muslime jetzt wird mit dem Islam abgerechnet. Aufklärung klingt anders.