Alles ist jedes

Wie Neoisten aussehen. Betrachtungen nach einem Treffen mit tENTATIVELY a CONVENIENCE

Hat man einmal ein paar von den hier in Deutschland bekannteren Ex-Neoisten live gesehen, bekommt man den Eindruck, daß unter ihnen eine Absprache besteht, auch in der postneoistischen Ära zumindest noch auffällig durch Kleidungsstil und Haarfrisur zu bleiben. Alle scheinen einem Kuriositätenkabinett der Achtziger entsprungen zu sein: Stewart Home ist der "babyfaced Skinhead" (trefflicher Kommentar eines Londoner Club/Szene-Magazins), Graf Haufen, der Herausgeber von Splatting Image, trägt seit Jahrzehnten einen in unseren Breitengraden nur in Punk-Zeiten bewährten Sumo-Ringer-Haarschnitt, Stiletto, der Erfinder des Einkaufswagen-Sessels, ist im Besitz eines Endsechziger-Pottschnitts, der ihm eine frappierende Ähnlichkeit mit Ray Manzarek von den Doors verleiht, Gordon W., der Chefkoch der kanadischen Prater-Enklave in Berlin, trägt mit Vorliebe einen von dem einst berühmten Künstler Kenny Scharf designten und geliehenen Jeans-Anzug und sieht darin aus wie eine Mischung aus Errol Flynn ( Monjou-Bärtchen!) und dem dicken indischen Elvis.

Kurios erscheint auch die zunächst eher unauffällig agierende Freiwillige Selbstkontrolle der postneoistischen Ära, der Berliner Florian Cramer. Er versucht schon seit Jahren, mit Nickelbrille und Nikki-Pullundern als 18jähriger Gymnasiast durchzugehen; ein billiger Trick: die Ex-Neoisten haben es sich zum Programm gemacht, ausschließlich Freundinnen zu haben, die 17 Jahre alt sind. Eine 17jährig aussehende Freundin hat der stein-, nämlich 40 oder 50 Jahre alte Dauer-Avantgardist, Michael Tolson, alias Tim Ore aka tENTATIVELY a CONVENIENCE, jemand, der neben Al Akerman, Kiki Bonbon, Monty Cantsin und vor allem Istvan Kantor dazu beigetragen hat, den Neoisten ein "Freak"- bzw. "Weirdo"-Image zu verleihen. Das wandelnde Gesamtkunstwerk tENTATIVELY a CONVENIENCE (der Einfachheit halber ab jetzt: tent, so wird er auch Neo-Insider-technisch gerufen) scheint den Endzeitszenarien von "Mad Max" und/oder "Escape from New York" entlaufen zu sein; die Kleidung des amerikanischen Ur-Neoisten ist unbeschreiblich: Survival-Dress für die kommende Steinzeit? Er trägt übrigens eine Ganzkopf-Tätowierung.

Jedenfalls traf ich auf diese illustre Person vor vier Wochen, hier in Berlin. tent/Tolson war von New York nach Budapest gereist, um an einem real stattgefundenen Neoisten-Treffen teilzunehmen (wie es scheint, waren kaum Old School-Neoisten dort gewesen) und dann nach Berlin gekommen für ein Exklusiv-Interview mit Jungle World, weil der Historismus von Oliver Marchart, Karen Elliot (die mit den zwei "l" im Namen!) und Stewart Home auch in eben dieser Gazette Anklang gefunden und der Neoisten-Fundi Florian Cramer ein Treffen mit mir und Michael Tolson/tent arrangiert hatte, um endlich ein für allemal alle Lügen über den Neoismus vom Tisch zu fegen. Einen Tisch gab es. Im Café Savo, Berlin-Schöneberg. Es war meine kleine Gemeinheit, mich in diesem Café mit dem verrücktesten aller verrücktesten Neoisten zu treffen, das so prima bieder und yuppifiziert wirkt. Monsieur tent kam, stellte seine 17jährige Freundin an der Theke ab und erschoß mich dann auch erst einmal virtuell per Knopfdruck mit dem Finger, der am Gürtel herumnestelte, an dem allerhand mehr oder weniger Definierbares hängte. Wir begrüßten uns, bestellten Bier und versuchten ein Interview, welches wohl das langweiligste Interview der Kunstgeschichte werden wird. Zum gegenwärigen Historismus des Neoismus sagt Olson/tent, daß ihn die Simplifizierung dieser Mechanismen über den Gegenstand Neoismus stört. Punktum. Das war's, was ein außenstehender Leser wissen müßte. Jetzt kurz ein paar Begriffe des tent-Mikrokosmos. tent bezeichnet sich selbst als, Achtung, jetzt geht's los: "a mad scientist / composer / sound thinker / thought collector / as been & not an artist / psychopath finder / subgenius /Neoast." tents Motto ist "anything is anything", was soviel bedeutet, daß du, lieber Leser, ein Turnschuh bist und ich der Kaffeesatz in einer Tasse im Café Savo. Das bedeutet soviel, daß nicht "Alles ist Kunst" entscheidend ist, sondern daß, wie tent mich aufklärte, "Alles ist Essen" die Essenz neoistischer Nicht-Werke sei. Ex-Neoist Gordon W., siehe: Prater, veranstaltete auch schon in den Achtzigern seine berüchtigten indisch- vegetarischen Koch-Performances.

Ein weiterer tentATISMUS ist die Antwort auf "Neoism NOW", nämlich "Neoism THEN", ein Slogan, den tent dann benutzt, wenn Langweiliges und alte Kamellen in bezug auf die verblichene Avantgarde-Truppe gemeint sind. Auf Neoismus ist der zeitweilige "Church of Subgenius"-Anhänger gestoßen, weil er sich für das von den Gründervätern eingeleitete Brief-Networking interessierte sowie für das Konzept des multiplen Namens "Monty Cantsin" und "weil man mit einer Gruppe von Leuten zusammenkam, die viel Spaß zusammen hatte, ohne dabei besonders blöd auszusehen". Ach, und was ist Neoismus?

"Wenn Neoismus das ist, was er kreiert hat oder das, was die Anti-Neoisten in ihm sehen, also das, was sie parodieren, wovon sie glauben, daß das Neoismus sei, dann besitzt Neoismus ein Spektrum, welches hoffentlich noch zu entdecken ist."

Anything is anything, eben.

Meine Rede: Sag' ich doch, daß das nichts Besonderes war, das mit dem Neoismus.