Halbe Wahrheiten über Jugoslawien

Was authentisch ist oder nicht im Bürgerkrieg, wollen die deutschen Kulturjournalisten entscheiden

Als Peter Handke Anfang vorigen Jahres seinen ersten Serbien-Reisebericht vorlegte, ging er auch mit der westlichen, vor allem deutschen Bildberichterstattung kritisch ins Gericht. Er verwies auf Bildauswahl, Kamera-Einstellung und

-Perspektive der angeblich "authentischen Zeugnisse serbischen Terrors". Er verbreitete damit keine neuen Erkenntnisse. Daß ein Foto den Eindruck der Realität so konserviere wie "der Bernstein das Insekt" und der Film die Ereignisse als "sich bewegende Mumie" einer erkenntnisgierigen Welt übermittle, wie es der Filmtheoretiker André Bazin vor mehr als zwei Jahrzehnten euphorisch formulierte, gilt heute mit Recht für weniger als die halbe Wahrheit.

Jedes noch so unambitioniert daherkommende Foto- und Film-"Dokument" ist von außerhalb des Abgebildeten existierenden "narrativen Strukturen" geprägt. Diese Binsenweisheit gehört inzwischen zum Grundrepertoire jedes kommunikationswissenschaftlichen Grundstudiums. Erst recht gilt sie für Bild- und Filmberichte aus den die Parteinahme des - selbstverständlich nicht im Zustand taoistischer Leere durch die Landschaft stolpernden - Berichterstatters geradezu herausfordernden "Krisengebieten".

In Zeiten postmoderner Konkurrenz um "Diskursbesetzung" erhält diese Binsenweisheit jedoch eine erschreckende Ambivalenz. Handke wurde gelegentlich vorgeworfen, wer so argumentiere, sei letztlich auch fähig, die Tatsächlichkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung anzuzweifeln, sei ein potentieller Auschwitz-Leugner. Konnte man im vorigen Jahr über solche Argumentation noch überrascht sein, glaubte man doch, gerade durch eine akribische - und das heißt immer auch quellenkritische - Forschung sei die Evidenz der deutschen Verbrechen hinlänglich bewiesen, wird man durch neuere Ereignisse der naiven bis tölpelhaften Gutgläubigkeit überführt. Ein weniger als schwacher Trost ist es da, in seiner Gutgläubigkeit nicht allein dazustehen.

Gutgläubig war auch der Journalist Thomas Deichmann. Er glaubte, indem er durch akribische Recherchen und den Nachweis der Fälschung eines angeblichen "Bilddokuments" über das "serbische Konzentrationslager" Trnopolje der "Faktizität" zum Recht verhelfe, der westlichen - und besonders deutschen - Kriegsgeilheit ein wichtiges Stimulans zu entziehen. Zum Dank wurde er von dem für die von ihm aufgedeckte Fälschung verantwortlichen britischen Fernsehsender ITN mit einer Verleumdungsklage überzogen, die geeignet ist, ihn und die ehemals trotzkistischen Blätter Novo und Living Marxism in den finanziellen Ruin zu treiben. Wahrheitsidealisten treten solchen Angriffen traditionell mit einem Appell an die als ebenso wahrheitsliebend unterstellte Öffentlichkeit entgegen.

In diesem Fall haben sich auch drei Berliner Politologieprofessoren mit Deichmann solidarisiert. Zwar wollen sie nichts Grundsätzliches gegen die deutsche Balkanpolitik einwenden, aber so platte Fälschungen wie die von ITN beleidigen offenbar ihr akademisches Standesbewußtsein. Professorale Schwerenöter wollen eben nicht mit der gleichen Boulevardkost abgefüttert werden wie ihre geringer besoldeten Zeitgenossen.

Auch in diesem Fall ließ der Dank der demokratischen Öffentlichkeit nicht lange auf sich warten. Der Tagesspiegel-Feuilletonist Paul Stoop und der Politologe Hajo Funke, Professor an der Freien Universität Berlin, sind "absolut entsetzt". Denn weil es hier um das "Thema Völkermord" gehe, handele es sich "gerade in Deutschland" nicht um "eine Nebensache", sondern um "eine wichtige Frage der politischen Kultur". Und "Kultur" galt hierzulande schon immer der fremdländischen "Zivilisation" mit ihren die Gemeinschaftsideale zergrübelnden und zerredenden Faxen überlegen. Eine Errungenschaft deutscher Rechts-"Kultur" auf internationaler Ebene ist das "UNO-Kriegsverbrechertribunal" in Den Haag.

Das Gericht aber läßt sich von von der Deichmannschen Faktengläubigkeit nicht beeindrucken und wiederholt in seinen Anklagetexten die längst widerlegten Lügen. Die Berufung auf dessen "Argumentation" erspart Stoop und Funke jede weitere geistige Anstrengung und legitimiert ihr "Entsetzen".

Wenn die Willkür der Autorität des machtpolitisch Durchgesetzten darüber entscheidet, was wahr ist und was konformes "Entsetzen" hervorrufen darf, dann steht auch die "Authentizität" der Erfahrungen der Überlebenden von Auschwitz zur Disposition. Wer sich Fragen und Recherchieren verbittet, weil dies von den offiziellen Instanzen der Politik, Medien, Jurisprudenz und einer kretinistischen "Wissenschaft" allgemeinverbindlich geregelt wird, weiß auch aus untertänigem Interesse die Geschichte in den Händen dieser Instanzen gut aufgehoben.

Der Vorwurf an Peter Handke, wer die unterstellten Greuel der Serben leugne, könne auch ein Auschwitz-Leugner sein, erhält so seinen "diskurstheoretischen" Sinn. Ob Auschwitz wirklich war oder nicht, darüber entscheiden nicht die Berichte der Überlebenden, sondern die Instanzen der ungebrochen lebenden Nation.