Kein deutscher Sonderfall

Die Antisemitismus-Analyse der Kritischen Theorie ist Goldhagens Ansatz überlegen.

Ist es überhaupt legitim, die Studie von Daniel J. Goldhagen mit den Überlegungen der Kritischen Theorie zum Antisemitismus und zum Holocaust zu vergleichen? Allem Anschein nach nicht. Denn während Goldhagen eine historische Spezialstudie zu einem Aspekt der Vernichtung, der Motivation der deutschen Täter nämlich, vorlegt, versucht die Kritische Theorie die gesellschaftstheoretische Bedeutung von Auschwitz zu erfassen. Da es für Goldhagen keine Gesellschaftstheorie gibt, gibt es auch keine solche Bedeutung. Dennoch macht ein Vergleich in wenigstens einer Hinsicht Sinn. Es wäre nämlich zu prüfen, ob Goldhagens Studie nicht zentrale Thesen der Kritischen Theorie in Frage stellt.

Tatsächlich widersprechen sich die beiden Ansätze in vier Punkten. Erstens erkennt die Kritische Theorie in der Vernichtung der Juden die "Dialektik der Aufklärung", während sie Goldhagen allein aus einer deutschen Spezifik heraus erklärt. Zweitens ergibt sich für die Kritische Theorie die Vernichtung aus der Vergesellschaftungsweise, hat also letztlich einen ökonomischen Grund, wohingegen Goldhagen auf der Ebene der Geistesgeschichte und der Mentalitäten bleibt. Drittens ist für die Kritische Theorie die Indifferenz gegenüber den Opfern der entscheidende Aspekt des Antisemitismus, für Goldhagen ist es der Haß. Und viertens schließlich legt die Kritische Theorie bei der Analyse der Vernichtungspraxis ihr Interesse auf den industrialisierten Mord, Goldhagen dagegen betont die Bedeutung der individuellen Grausamkeit.

In allen diesen Punkten muß man allerdings der Kritischen Theorie recht geben, will man die Vernichtung der europäischen Juden nicht nur als einen antisemitischen Pogrom unter vielen verstehen, der sich höchstens durch seine Dimensionen aus der sonstigen Verfolgungsgeschichte abhebt. Sowohl der Antisemitismus als Ursache der Vernichtung wie auch die Vernichtungspraxis selbst zeigen, daß es sich beim Holocaust um ein historisch neuartiges Phänomen handelt. Er bedeutete das Umschlagen der instrumentellen Vernunft in die reine Unvernunft und bezeichnete damit das Ende der bürgerlichen Gesellschaft.

Auf der Ebene des Antisemitismus-Begriffs ist dies leicht nachzuvollziehen. Die These von Adorno und Horkheimer, daß es sich dabei um eine Rebellion gegen die Zirkulationssphäre handelt, der die Schuld für die ökonomische Ungerechtigkeiten zugeschoben wird und mit der in einem Akt der "pathischen Projektion" die Juden identifiziert werden, ist bis heute die einzige wirklich erklärungsfähige Theorie geblieben. Der moderne Antisemitismus ist ein Zerfallsprodukt der bürgerlichen Subjektivität, und kein anachronistischer Traditionsbestand. Deshalb ist eine Erklärung "in der Sphäre der nationalen Besonderheiten unmöglich" (Horkheimer/Adorno).

Vor allem aber ermöglicht es nur der Antisemitismus-Begriff der Kritischen Theorie, nicht doch einen Rest von Begründung für den Antisemitismus bei den Juden zu suchen. Denn die Juden sind dem Antisemiten völlig gleich, er benutzt sie nur als Projektionsfläche für seine pathologische Subjektivität. Die Vorstellung des Hasses hingegen, wie sie auch Goldhagen dem Antisemitismus unterstellt, muß davon ausgehen, daß der Antisemit im Juden doch noch irgend etwas erkennt.

Etwas schwieriger liegen die Dinge auf dem Gebiet der nationalsozialistischen Vernichtungspraxis, denn hier hat Goldhagen nicht nur eine fragwürdige Kompilation geistesgeschichtlicher Antisemitismus-Forschung geliefert, sondern eine ernstzunehmende Studie. Doch ist mit der Feststellung individueller Grausamkeit der Täter keineswegs die Kritische Theorie in Frage gestellt, denn im Gegensatz zur radikalstrukturalistischen Schule der Zeitgeschichtler sehen Horkheimer und Adorno gerade in der Vernichtung die Logik der instrumentellen Vernunft aufgehoben, und damit bricht sich der "unerhellte Trieb" Bahn. Der Antisemit "haßt ohne Ende", allerdings hat sich der Charakter des Hasses verändert, denn er besitzt weder Subjekt noch Objekt und gleicht damit strukturell der Indifferenz.

Vor diesem Hintergrund läßt sich Goldhagen also jederzeit als Kritik der (in Deutschland) herrschenden Holocaust-Forschung lesen und teilweise auch als Ergänzung einer materialistischen oder kritisch-theoretischen Analyse des deutschen Mordes an den europäischen Juden. Unsinnig ist es jedoch, auf seine Studie eine "antideutsche" Position gründen zu wollen, nur weil Goldhagen die Täter beim Namen nennt.

Selbstverständlich war der Holocaust ein deutsches Projekt, und es wäre Horkheimer und Adorno nie in den Sinn gekommen, dies zu bezweifeln. Schließlich ist es kein Zufall, daß sie ihre gesellschaftstheoretischen Überlegungen aus der Erfahrung des Nationalsozialismus heraus anstellten. Doch sahen sie die deutsche Geschichte gerade nicht als Abweichung von der generellen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, sondern als deren wegweisendes Vorbild.

Stefan Vogt schrieb für die Zeitschrift Bahamas einen Vergleich zwischen der Kritischen Theorie und Goldhagens Arbeit