Hoffen auf Hassan

Marokko wählt - und sogar die Opposition will mit dem Potentaten ins 21. Jahrhundert

Stellen Sie sich vor, es ist Wahl, und alle, die hingehen, stimmen darin überein, sich "für die Festigung der demokratischen Herrschaft auf der Grundlage der Monarchie" einzusetzen.

Voraussichtlich Ende Oktober finden in Marokko Parlamentswahlen statt, und wenn es nach der Grundsatzvereinbarung von elf politischen Parteien und Organisationen, darunter auch fünf oppositionellen, vom Februar diesen Jahres geht, soll die Wahl Grundlage politischer und ökonomischer Erneuerung Marokkos werden.

Der regierende Wifak-Bund, zusammengesetzt aus der Konstitutionellen Union (UC), der Volksbewegung (MP) und der Nationaldemokratischen Partei (PND), hat den Staat beauftragt, alle Parteien gleich zu behandeln und dafür zu sorgen, daß während des Wahlverfahrens alle "ungesetzlichen Machenschaften bestraft werden". Das Oppositionsbündnis Kutla al-Demokratjia erkennt im Gegenzug die Rechtmäßigkeit der Wahl schon im voraus an und verspricht einen Wahlkampf "in konstruktivem Geist". So könnte sich ab Anfang November alles für alle zufriedenstellend gestalten (lassen), wenn es nur nach den Willenserklärungen der politischen Akteure ginge.

Nur ist allein schon Kutla ein untereinander zerstrittenes Bündnis der extremen Rechten (Istiqlal) mit einer sozialdemokratischen Linken, der Sozialistischen Union der Volkskräfte (USFP) und der aus der marokkanischen KP hervorgegangenen Partei des Fortschritts und des Sozialismus (PPS), sowie einiger rechts- und linkszentristischer Organisationen. "Es bleibt uns nichts anderes übrig (...). Wir wollen nicht auf die Zuspitzung der Lage setzen", erklärt Abderrahman Jussufi, Generalsekretär der USFP, die Politik dieser national-sozialdemokratischen Koalition.

Auch die staatlichen Eliten Marokkos sind alles andere als ein monolithischer Block: Großen Teilen der führenden Militärs wird in der marokkanischen Presse vermehrt fehlende Distanz zu einigen - noch machtlosen - radikal-islamistischen Gruppen vorgeworfen, einzelne Abgeordnete des Wifak-Bundes nähern sich stark den Positionen der Opposition an, die Mehrheit der Staatsbürokratie hingegen möchte am liebsten alles so belassen, wie es ist: Eine Mischung aus 30 Prozent bürgerlicher Demokratie - eventuell mit steigender Tendenz - und siebzig Prozent monarchistisch-staatlicher Diktatur. Da die Thronfolge nach Hassan II. noch offen ist, beherrscht allgemeines Mißtrauen die politischen Strategien der Machthaber. Einzig Innenminister Driss Basri - zwischen 1995 und 1996 wegen der von ihm geleiteten Anti-Korruptionskampagne "Saubere Hände" von der nationalen Bourgeoisie scharf kritisiert - hat die volle Unterstützung des marokkanischen Königs Hassan II.

Seit 1996 bei einem "Versöhnungsessen" mit einem gentlemen's agreement zwischen dem Staat, vertreten durch Basri, und dem Unternehmerverband CGEM die Bekämpfung der Korruption beendet wurde, kommt diesem Dachverband marokkanischer Unternehmer eine neue Bedeutung zu. Der CGEM wirkt, zusammen mit den (gemäßigten) Gewerkschaften und Hassan II., König, Staatsoberhaupt und einigendes religiöses wie nationales Symbol, als politischer und gesellschaftlicher Vermittler. Der Monarch und "Herr der Gläubigen" hat bereits seit geraumer Zeit mehrfach den Wunsch geäußert, die Opposition möge doch in Zeiten dringend benötigter wirtschaftlicher und sozialer Reformen - Marokko unterliegt seit Anfang der achtziger Jahre mehreren Strukturanpassungsprogrammen des Internationalen Währungsfonds (IWF) - mehr Verantwortung übernehmen. Eine im Juli 1994 erlassene - fast vollständige - Amnestie, der Rückgang sichtbarer Repressionen von Polizei und Militärs gegen Oppositionelle sowie größere Meinungsfreiheit bilden dabei für oppositionelle Parteien und Organisationen eine Möglichkeit zur Reintegration. Auch sollen Wahlmanipulationen wie bei der letzten Parlamentswahl 1993 der Vergangenheit angehören. Mehr als 4,5 Millionen Eintragungen in die Wählerverzeichnisse - von insgesamt nur zwölf Millionen Wahlberechtigten - seien damals "zweifelhaft" gewesen, wie Le Monde Diplomatique in ihrer Juni-Ausgabe berichtete.

"Das marokkanische politische System hat sich entwickelt", bestätigte der im französischen Exil lebende sozialdemokratische Regimekritiker Abraham Serfaty in der Neuen Zürcher Zeitung am 8. September diese Entwicklung. Zwar habe "die Meinungsfreiheit natürlich ihre Grenzen", so Serfaty, doch sei Marokko - trotz seiner "Demokratur" - im Vergleich zu anderen arabischen Staaten "vermutlich das Land, in dem der Demokratisierungsprozeß am weitesten fortgeschritten ist". Doch auch der Republikaner Serfaty setzt auf eine Zusammenarbeit mit dem Königshaus: Der Kampf gegen die Monarchie sei zur Zeit "eine riskante Sache". Der König befinde sich zwar "politisch und physisch am Ende seiner Herrschaft" und werde sich im zukünftigen politischen Leben des Landes "als Hindernis auswirken", doch sein politischer Apparat, der Maghzen, verhindere eine "zivile Gesellschaft, die in Richtung Demokratie und Modernität" ziele.

Serfatys Gebrauch des Begriffs der Modernität ist für Marokko typisch, er bezieht sich auf eine rein kapitalistische und männliche Modernität. Zwar ist seit 1993 das islamische Personenstandsrecht, das eine lebenslange Unmündigkeit von Frauen festschreibt, leicht modifiziert worden, die Unterdrückung bleibt dennoch bestehen. Von Analphabetismus und Arbeitslosigkeit sind überwiegend Frauen betroffen. Bei den meisten politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Organisationen und Parteien - Ausnahme ist der teilweise staatlich kooptierte Frauenverband - sind Frauen ohnehin unerwünscht. Die traditionellen Bereiche der marokkanischen Wirtschaft, also staatliche Lenkung und, ersatzweise, Subventionierung der großen und mittleren Phosphatindustrien sowie der von Regierung und Opposition geduldete Anbau und Handel mit Haschisch im Rifgebirge, der bei Exporteinnahmen von etwa 3,6 Milliarden Dollar die wichtigste Devisenquelle Marokkos darstellt, haben in jüngster Zeit zunehmend Konkurrenz von einer neuen Bourgeoisie bekommen. Da die Strukturanpassungsprogramme des IWF einen Abbau staatlicher Subventionen, eine Privatisierungsquote und eine Liberalisierung des Handels vorschreiben, stehen zur Zeit Umgruppierungen in der marokkanischen Wirtschaft an. Die neuen ökonomischen und politischen Akteure kommen zwar meistens aus einflußreichen Familien der bürokratischen und militärischen Eliten, ihre neue gesellschaftliche Stellung verdanken sie dennoch eher "einem außerordentlich eng geknüpften Netz aus politischen Beziehungen und Know-how, das auf ihr Engagement in linksradikalen Organisationen in den siebziger und achtziger Jahren zurückgeht", wie die französische Islamwissenschaftlerin Myriam Catousse in der jüngsten Ausgabe der Trikontzeitschrift INAMO analysierte. Ein Bündnis alter und neuer Eliten soll in Marokko - friedlich und allmählich - den in ganz Nordafrika stattfindenden Reformprozeß einleiten. Mit einem sehr genauen Blick auf die Probleme des Nachbarstaates Algerien wird aus den dortigen Fehlern gelernt, wobei die Schwäche und Zerstrittenheit der marokkanischen radikal-islamistischen Organisationen dem Erneuerungsprozeß genauso zugute kommt wie die Rolle von König Hassan II. als "Herrscher aller Gläubigen".

Die islamistischen Vereinigungen Marokkos - von Bedeutung sind die an den "Idealen des Islam" orientierte "Gemeinschaft für Gerechtigkeit und Wohltätigkeit", die eher auf Realpolitik setzende "Vereinigung der islamischen Jugend" sowie einzelne intellektuelle Zirkel - sind relativ junge Organisationen. Im Gegensatz zur Islamischen Heilsfront (FIS) in Algerien beschränken sie sich weitgehend auf kulturelle, religiöse und ideologische Aktivitäten an den Universitäten. Die gegenseitigen Vorwürfe eines Verrats islamischer Ideale werden nur durch den gemeinsamen Haß auf Linke, selbstbewußte Frauen und den Staat Israel überbrückt. Die Feindschaft zum "Judenstaat" - Kernpunkt jeglicher islamistischer Propaganda - ist dabei gleichsam Bindeglied zur alten und neuen Elite Marokkos.