Hypothetisches Bergsteigen

Ziemlich haltlose Reflexionen über die Philosophie des Kletterns

Südlich des Tegernsees steht der Wallberg herum. Zu seinen Füßen liegt die Ortschaft Rottach-Egern, in seiner Nachbarschaft machen es sich der Risserkogel und der Hirschberg bequem. Nicht ganz packt der Wallberg mit seinen 1 722 Metern den Kollegen Risserkogel, welcher 1 826 Einheiten zählt, vor dem Hirschberg indes muß ihm kaum bange sein: Jener streckt bei Meter 1 670 die Waffen.

Allein, der Hirschberg, verraten uns zwei Hildesheimer Ehepaare auf der Terrasse der Wallberg-Station, sei "noch schöner". Günther Koch, "Godfather der Radio-Fußball-Reportage" (Rock Hard), stimmt locker zu. Er fährt seit Jahren "ins Tal" und treibt mal Schulklassen, mal Freunde auf seinen Lieblingsberg. 1 000 Höhenmeter muß man überwinden, bis die alpine Bergwelt ihre weitgespannte Anmutung offenbart. Wer das in zwei Stunden erledigt, gehört zu den Spitzenkräften des Bergwanderns. Mit Klettern freilich hat ein solcher Gang wenig zu tun, strenggenommen nichts.

Auf den letzten hundert Strecken-Metern rennt Koch davon. Im Wippschritt wischt er am lahmenden Publikum vorbei. Oben angekommen, der Puls schlägt trocken, das Wasser läuft, brennt die Sonne, und doch geht fehl, wer jetzt des Pullovers willentlich entbehrt. Wir nehmen Leberknödelsuppe. Die Hildesheimer lassen sich in ein Gespräch über kompetente Nürnberger Ärzte verstricken. Besonders Internisten, "jo, die sann Spitze, daß ders wißt".

Ich wohne einem Vorgang bei, der von Kochs schon "sprichwörtlicher" Cleverness Zeugnis ablegt. Ob er mal den Kaiserschmarren probieren dürfe, der sei der beste weit und breit, na klar, greifen Sie zu, das hat noch keiner angefaßt. Hildesheim lacht. Ich glaub es kaum. Aber hat die Bergwelt nicht ihre eigenen Gesetze?

"Stellen wir uns einen Menschen vor, der einen sehr hohen, steilen und noch unerforschten Berg besteigt. Nehmen wir an, es sei ihm gelungen, nach Überwindung unerhörter Schwierigkeiten und Gefahren viel höher zu steigen als seine Vorgänger, den Gipfel habe er aber dennoch nicht erreicht." So beginnt Lenins berühmte Abhandlung "Über das Besteigen hoher Berge" (Werke Band 33: August 1921 bis März 1923, Berlin 1966), eine Parabel von großer argumentativer Dichte. Wer seine Kräfte überschätzt, erntet Hohn und Sticheleien jener mißgünstigen Öffentlichkeit, die auf das Scheitern des Großen Experiments lauert. "Die Stimmen von unten aber klingen schadenfroh", denn der "hypothetische Bergsteiger" "muß umkehren, abwärts steigen", die gewählte unrealisierbare Route macht seinen Vorsatz zunichte. Er hat zu viel riskiert, hat das augenblicklich schwer erreichbare Ziel hauruck erreichen wollen, während die Naturverhältnisse ein besonneneres Vorgehen, ein bedachteres Voranschreiten verlangen. Nun greift das Elend ihn an, die Demütigung eines muskel- und knorpelverschleißenden Talganges; "es fehlt jene besonders gehobene Stimmung, die durch das unmittelbare Hinaufsteigen, direkt dem Ziel zu, entstanden war (...), man muß sich mit der Langsamkeit einer Schildkröte fortbewegen, und noch dazu rückwärts, abwärts, weg vom Ziel", es ist "ein höchst gefahrenvoller Abstieg", zumal mit Pickel und Seil, instrumentell restringierten Hilfsmitteln ohne die Würde des Produktion ermöglichenden Werkzeugs.

Die Verhinderung von Produktivität und die Verunmöglichkeit des Fortgangs sozialer Progression konterkarieren das Versprechen revolutionärer Vernunft, einer Philosophie des Überschreitens in actu, einer Praxis schließlich der gesellschaftlichen Transzendierung. Lenin faßt den Berg als Labor auf, das Bergsteigen als erforschende Tätigkeit, den Forscher als Subjekt, welches dem Hegelschen "Vorrang des Objekts" eingedenk sein muß. Der Bergsteiger entzöge sich dem demütigen Spektakel, der "johlenden" Spötter, wäre er nur weniger voreilig: "Haben wir (...) nicht den Aufschub der Besteigung verlangt, solange unser Plan nicht fix und fertig ist?"

Der Scheiternde sei, resümiert Lenin, "leidenschaftlich verurteilt" worden, denn im Berg wie im Planungsbüro habe die Ratio über irrigen Wagemut zu obsiegen. Solche Potentialität, die qua Negativ-Exemplung "aufscheint" (Helmut Böttiger-Schmidt), spricht man den Bergen anderswo ab. "Die Alpen sind widerlich", urteilte Thomas Bernhard und fällt somit für eine Philosophie der Höhenluft aus. Mark Twain ging freundlicher zu Werke. Die Silhouetten zähle er nunmehr durchaus zu seinen Genossen, gestand er in "Bummel durch Europa", einem ausladenden Bericht über die pedestrische Erkundung der Alten Welt: "Noch nie vorher hatte ich in so vertrauten Beziehungen zu den hohen Regionen gestanden; die Schneegipfel waren bisher immer ferne, unnahbare Größen gewesen, aber jetzt waren wir Kumpel."

Hier läßt es sich einer gutgehen; einer, der als Beobachter den ethnologischen Sensationen mehr Beachtung schenkt als der Überprüfung seiner physischen und psychischen Kapazitäten. Jene Auflösung von Ferne in wohlige Nähe - Verwandlung Benjaminscher Aura nicht ins Erhaben-Gravitätische, sondern in die freundliche Imposanz - folgt einem Erkenntnisinteresse, das den Pragmatismus des Lebens schätzt - und jeden Heroismus, jeden Ehrgeiz dem Gelächter aussetzt. Unsympathisch ist das nicht. Lenin, der alte Bergtheoretiker, dürfte Twains Text gekannt haben.

Mark Twain sah "Leute, die um einen Wetteinsatz wandern". Eine andere Spezies, schmählicher als Gruppenmarschierer und Kilometerfresser, verkörpert der überzeugt Sportive, der seine private Obsession erst zur höheren Gesinnung verklärt und anschließend marktgängig aufs Maß der wohltemperierten Passion reduziert. Er bereitet sich pflichtbewußt vor, absolviert gewagte Trainingseinheiten und sucht die riskante Passage. Hinterher verfaßt er seine "Kleine Philosophie der Passionen", wie eine neuere klitzekleine Taschenbuchreihe bei dtv betitelt wurde.

Man passioniert dort das "Gärtnern", "Hunde", das "Segeln" und - das "Bergsteigen", für das sich Heiner Geißler, "Sportkletterer", zuständig zeigt. Um den Beweis anzutreten, daß die Phraseologie noch überall ihr Geschäft betreibt, reiht er Aussagesätze aneinander, die dem Curriculum eines philosophischen Proseminars keineswegs würdig sind. "Er sucht die Herausforderung, für die es wache Sinne, klaren Geist, ruhige Überlegung, Solidarität und manchmal auch den Mut zum Umkehren braucht." Umkehr, wir hörten es aus Rußland, ist des Teufels und zeugt von Planlosigkeit. Konfus und schlicht, fahl und fehl auch das, was uns der ehemalige Sportminister des Landes Rheinland-Pfalz vom Gipfel der kleinen Philosophenpassion herab zu verkünden gedenkt: "Auf den Bergen wohnt die Freiheit oder: Bin ich ein alpiner Fundamentalist?" lautet eine seiner Kapitelüberschriften, und wir ahnen recht präzis, welch plane bürgerliche Weltauslegung uns erwartet. Das "Extrembergsteigen" und der "sportliche Rigorismus" hätten ihn "innerlich unabhängig gemacht", zugleich sei Kraxeln in lichter Höh' extrem familienverbindend und familienverbandstärkend, wie die "gemeinsame Liebe zur Musik".

Karge Innerlichkeit und abstrakte Freiheit: Den opportun bezeugten "Glücksmoment dort droben" darf und kann es nicht geben ohne das Lob auf die Schmerzüberwindung, die "Grenzerfahrung", ohne das Ideologem der Verausgabung, wofern die "Kompliziertheit der Führe" und ihre Bewältigung letztlich zur "Lebenserfüllung" gerät, während, so Geißler, Berge durchaus dito "für mich Zuflucht sind"; und "Bergsteigen, das habe ich oft gemerkt, auch bei meinen Kindern, hat eine großartige erzieherische Wirkung." Ja, was denn nun?

Der Sprachphilosoph und Sprachdidaktiker Hubert Ivo, selbst Bergsteiger ("Der Geißler hat 'nen Vierer, ich hab 'nen Dreier gemacht"), geht's gelassener an. Man sehe einfach, was man könne und was nicht könne. "Im ersten Licht gehst du hoch", und dann müsse das Zusammenspiel von Hand und Seil, die "hohe Schule des Hobbykletterns", halt funktionieren. "Es gibt viele, die das sehr angeberisch betreiben", wirft er ein und schüttelt den Kopf über Geißlers Lifestyle-Gehabe. Landschaft jedoch, unbestritten ein inkommensurables, begrifflich kaum aufzuschließendes und nicht in Edelweiß-Folklore zu verpackendes Wahrnehmungsereignis, gebe, wenn man etwa Weltkriegs-Routen durch die Dolomiten als solche erkenne, auch ihre geschichtliche Gewordenheit preis: Die Panoramen sind historisch wie der Marxsche Apfelbaum.

Lenin hatte seine Vorgänger, die an Hand des Bergebegehens Bedingungen von Erkenntnis explizierten. Hubert Ivo verweist auf Petrarcas Brief über die Besteigung des Mont Ventoux. "Von allen Seiten weithin sichtbar", umtreibt Petrarca das Verlangen, "die ungewöhnliche Höhe dieses Fleckens Erde durch Augenschein kennenzulernen"; alle Vorbehalte schießt er in den Wind, und unter Entbehrungen erreicht er den Gipfel. "Er sieht", kommentiert Hubert Ivo, "in dem, was er am Berg tut und was ihm auf dem Weg zur Spitze zu tun bleibt, eine Analogie zum 'seligen Leben', das auch auf hohem Gipfel liegt und zu dem ein schmaler Pfad emporführt. (...) Am Ziel angelangt, findet er sich 'durch einen ungewohnten Hauch der Luft und durch einen ganz freien Rundblick bewegt, einem Betäubten gleich'".

Dort droben, wo Heiner Geißler Muskeln spielen läßt, beginnt also die Philosophie. Der Anstieg vergessen, konstituiert sich eine neuartige Form der Perzeption, die mit keinerlei Machtphantasien einhergeht. Nahe dem Himmelsdach erst ist die Welt nah. "So (...) öffnet sich ihm erst die Landschaft, die er sieht: die Gebirge der Provinz Lyon, der Golf von Marseille, das Rh(tm)netal. Er bestaunt dies 'eins ums andere', genießt das 'Irdische'". Petrarca gewinnt seine "neue Weltzugewandtheit" (Ivo) und läßt die durch spätere Bergdichter systematisch bevorzugten Motive der Weltflucht und der spirituellen Fühligkeit bereits vergessen. Ja, er "bestaunt" seine Welt, und vom Staunen nimmt Philosophie ihren Ausgang.

Konträr zur Weisheit verhält sich noch immer die Torheit. Als Tor und Prahlhans ohnegleichen lernen wir Reinhold Messner (technisch klar ein anerkannt singulärer Hangler und Gratwanderer) in diversen wild redundanten Erlebnisberichten und Bildbänden kennen. Sein Îuvre "Mein Weg. Bilanz eines Bergsteigers ohnegleichen" (München 1982) läßt selbst den legendären Alpinismusstreit zwischen Andreas Heckmair (Eiger-Nordwand 1938 in 3,5 Tagen) und Thomas Bubendorfer (Eiger-Nordwand 1983 in freigekletterten 4 Stunden und 50 Minuten; vgl. Sports 11/1988) vergessen; da rumpelt sämtliche Volxküchenfilosofie durch den Bauernbubenkopf, der ja, Messners eigenen planen entwicklungspsychologischen Erzählungen und paraalpinistischen Mythos-Modellen zum Trotz, nie erwachsen wurde und früh wie spät seine außergewöhnliche und steilwandhoch über dem "Normalbürger"-Maß angesiedelte "Ich-Stärke" stolz ins Spiel brachte. Und bringt. Darob greift er, der jahrelang das Direktklettern unter Zuhilfenahme von Haken, Ösen und Bohrern (den sog. Eroberungsalpinismus) und das Müllabladen auf dem Himalaja scharf bekämpfte, zu schwindelerregenden Platitüden: Kräfte, Grenzen, Ängste überwinden, sich selbst finden, Schwurbel-Pantheismus ("Ich bin auch Gott"), Liebe zur Linie, der "Berg in mir". Andersherum gilt: "Bergsteigen liegt außerhalb der moralischen Funktion." Und doch fällt ein Brocken Halb-Camus ab: "Ich bin Sisyphus, und der Stein, den ich auf den Berg rolle, ist meine eigene Psyche."

Messners Streit mit den "Bergimperialisten" scheint beendet. Zuletzt stapfte der Bartträger als "Abenteurer" durch sandige und wahlweise eisige Wüsten. Wäre er den Deutschen jedoch heute noch Vorbild, es hätte diesen Sommer wohl nicht eine annähernd so frappante Quote von deutschen Abstürzen in den benachbarten Gebirgen gegeben.

Runterwärts, darf ich den geistlosen Himmelsstürmern aus Opladen und Gelsenkirchen bescheiden raten, fährt es sich am besten mit der Wallbergbahn Rottach-Egern. Aber Achtung! "Keine Erstattung bei Sturm!"

Im Kommunismus allerdings wird's das dann eh nicht mehr geben.