freier Journalist und Autor

Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?

Als das Sparwasser-Tor fiel, war ich in der Hölle. Ich ließ alle Hoffnungen fahren - auf die Fußballweltmeisterschaft für uns und auf ein menschenwürdiges Dasein für mich. Ich wußte, was ich von einem Sieg der DDR zu halten hatte. Ich hatte eine Tante in Magdeburg, eine unglaublich fette Person, die uns zu Weihnachten völlig indiskutable Geschenke zu schicken pflegte. Und ich hatte mich einmal mit einem entfernten Verwandten in Ost-Berlin fast geprügelt, weil er behauptet hatte, daß unsere Nachrichtensprecher notorisch lügen. Das war, wußte ich, völliger Quatsch, denn denen ihre Nachrichtensprecher logen, daß sich die Balken bogen. Deshalb war bei uns zu Hause der vierte Knopf am Fernseher, hinter dem sich das DDR-Programm verbarg, strikt tabu - ob für Nachrichten oder für Sportübertragungen.

Die Niederlage gegen die DDR ("DDR"!) war also eine Schmach, von der ich mich erst am Tage des Endspiels zu erholen anfing. Allerdings war im Endspiel die erste Minute eine echte Belastungsprobe, als Neeskens den Elfmeter ... aber das waren Holländer, während Sparwasser und seine Leute doch recht eigentlich Deutsche waren. An das Spiel gegen die DDR im Volksparkstadion habe ich keine Erinnerung bewahrt, nicht einmal an das Tor - ich weiß nur mein grenzenloses Entsetzen, als Sparwasser (allein schon der Name!) jubelnd abdrehte (allein schon diese Trikots!).

Mein Vater, der von Fußball keine Ahnung hatte, murmelte noch: "Das kann doch nicht wahr sein". Mir aber war sofort klar, daß unsere Männer das Spiel nicht mehr würden herumreißen können, nicht an diesem Abend. Natürlich habe ich - auch wenn ich wußte, daß es albern war - tags darauf, über den Sportteil der Lüneburger Landeszeitung gebeugt, heimlich versucht, den Ball auf dem Foto doch noch irgendwie aufzuhalten auf seinem Weg ins Tor.

Als zehnjähriger Fußballfan hatte ich einfach noch nicht die Schutzmechanismen entwickelt, mit denen man solch brennende Scham lindern konnte. Nein, ich schlug mich im Ernst mit der Überlegung herum, was aus uns würde, ja aus uns, unserer Nation, unserer Welt - wenn die DDR den Weltmeistertitel erringen würde. Es lag doch auf der flachen Hand, daß, wer uns schlagen konnte, logischerweise auch jede andere Mannschaft schlagen konnte. Meine damalige seelische Befindlichkeit jedenfalls wird durch die Begriffe "Erniedrigung" und "Demütigung" nur unzureichend wiedergegeben.

Meinen Glauben an unsere Elf hatte ich völlig verloren; die Eskapaden in Malente nahm ich nur mit Leichenbittermiene zur Kenntnis. Mag ja sein, daß jene Ausbrüche aus dem Lager erst die wundersame Wandlung ermöglichten. Ich wurde - nach dem Arbeitssieg gegen die Jugos - erst versöhnt, als gegen Schweden der große Sieg in der Verlängerung gelang, und als dann die wundervolle erste Halbzeit gegen die Holländer lief. Und seither bin ich ein wissender Verfechter all jener spirituellen Lehren, die den Ich-Tod auf dem Weg zur Erleuchtung zwingend voraussetzen.