Die Kunst der Beschränkung

Er schätzte die Gemütlichkeit der frühen Pulps. Heutige Comics waren ihm zu wild. Ein Nachruf auf Roy Lichtenstein, der im Alter von 72 Jahren gestorben ist

Eines der großformatigen Comic-Bilder, mit denen Roy Lichtenstein Anfang der sechziger Jahre zum Chef-Maler der Pop Art aufstieg, heißt "Wartende Blondine". Es zeigt eine gelbhaarige Frau vor einem Wecker. Offensichtlich wartet sie darauf, daß die Zeit vergeht; doch ein bestimmter Gefühlsausdruck ist ihrer Mimik nicht zu entnehmen. Ihr etwas ungesund wirkender Teint ist aus regelmäßig gemalten kleinen Punkten zusammengesetzt. Was aus der Ferne wie eine indifferente Fläche wirkt, löst sich bei näherer Betrachtung in ein schwirrendes Raster auf. Konzentriert sich der Blick auf die einzelnen Punkte, entgleitet ihm die Übersicht übers Bildganze, so daß die Formen und Linien, aus denen das Frauengesicht zusammengesetzt ist, ihre mimetischen Qualitäten verlieren.

Halbmetaphysische Mädchengesichter im Punktraster sind typisch für den frühen Lichtenstein: gemalt sind sie ausnahmslos nach Vorlagen aus den "Girls' Romances"-Comics, einer populären Serie für pubertierende Mädchen, die sogar innerhalb des eigenen Genres wegen ihrer Stumpfheit berüchtigt war. Genau genommen war sie so dermaßen stumpf, daß selbst die Zeichner ihre schlechten Geschichten nur mit einer gewissen Selbstironie ertragen konnten. Sie verengten das Ausdrucksrepertoire ihrer Figuren auf eine simple, leicht zu beherrschende Standardgrammatik - und trieben die Schematik bis knapp an die Grenze zur Abstraktion.

Dieser Abruzzo-Stil, benannt nach dem Chefzeichner der Serie, Tony Abruzzo, beeinflußte nicht nur eine ganze Generation von Mainstream-Comic-Zeichnern, weil er die Zeichentechnik angenehm rationalisierte. Wer - wie Lichtenstein - von der erzählten Geschichte absah und sich auf einzelne, isolierte Bilder konzentrierte, der entdeckte in den typisierten Konstruktionen eine eigenartige Unentschiedenheit zwischen banaler Oberflächlichkeit und unergründlicher Tiefe. Die Indifferenz der Mimik ließ beliebige Deutungen zu. Auf der Suche nach einem "authentischen" Ausdruck irrte der Blick des Betrachters solange auf der Oberfläche der Zeichen umher, bis sich die Bezüge zwischen den verschiedenen Formen auflösten. Fast zwangsläufig zog ihn die Starrheit der Konturen auf die elementare Ebene der Rasterpunkte - die Lichtenstein in seinen großformatigen Doubletten nun vergrößerte und energisch betonte.

Das eigenartige Bildprogramm, das auf diese Weise entstand, fügte sich bruchlos in Lichtensteins ästhetische Absichten. Kurz bevor er die Comics von Abruzzo und Kollegen entdeckte, hatte er begonnen, die zeitgenössische Op-Art zu veralbern: Deren Protagonisten, wie etwa Victor Vasarely, wurden nicht müde, mit strengen geometrischen Formen die Autonomie des Kunstwerks zu beschwören, gegen die Beliebigkeiten und den "visuellen Terror" der Alltagskultur. Lichtenstein antwortete, indem er Autoreifen und Turnschuhe malte, deren grobe Profile aber den geometrischen Figuren Vasarelys in verblüffender Weise ähnelten. Die angebliche Autonomie der abstrakten Form, sollte das heißen, war ihrerseits bloß geklaut aus der Welt der unästhetischen Dinge.

In den "Girls' Romances"-Comics fand Lichtenstein nun eine komplette "triviale" Ästhetik, in der Abstraktion und Gegenständlichkeit, ästhetische Autonomie und totale Entfremdung immer schon ineinander verschränkt schienen - wenn man nur genau genug hinsah. Auf dem Umweg über diese "geheimen Modernismen" der Massenkultur kehrte er so zugleich zu einem frühmodernen Verständnis von Abstraktion zurück, das die Kritik mimetischer Darstellungsweisen aus dem unentscheidbaren Verhältnis der Bilder zum Blick des Betrachters begründete - und nicht aus der angeblich autonomen Gestik authentischer Künstler. Der damals noch dominierenden Selbstverwirklichungskunst der Abstrakten Expressionisten galt Lichtensteins besonderer Haß.

Statt dem Pinselstrich freien Lauf zu lassen, brach Lichtenstein seinen individuellen Ausdruck an den Standardisierungen der industriellen Produktionsweise. Das grobe Punktraster des Vierfarbdrucks simulierte er ebenso liebevoll mit dem Pinsel, wie er die in den Comic-Books maschinell gesetzten Sprechblasentexte von Hand nachzog. Kopieren, verdichten, monumentalisieren: Die besondere Technik, mit der er einzelne Comic-Panels zu Gemälden verarbeitete, pflegte Lichtenstein fortan als persönliches Markenzeichen, trotz aller Kritik am Phantasma vom autonomen Künstler.

Doch anders als gerne behauptet wird, nahm sich Lichtenstein niemals "die" Comics zum Gegenstand, um die Barrieren zwischen hoher und niedriger Kunst zu überwinden. Immer hat er sich auf jenen halbironischen Trivialstil beschränkt, den Tony Abruzzo und die "Girls' Romances"-Zeichner prägten: Nur hier fand er jenen "naiven" minimalistischen Glamour, der ihn als Schnittstelle zwischen simpler Figuration und ironischer Abstraktion faszinierte. In späteren Interviews beklagte er sich gelegentlich darüber, die neuen Comics seien ihm zu "wild", ihnen fehle die gemütliche Einförmigkeit der Fünfziger-Jahre-Pulps.

Tatsächlich hat er, nachdem seine kurze kreative Phase zirka 1965 zu Ende ging, das einmal gefunden Verfahren fortan bloß noch reproduziert. Auch in der Wahl seiner Produktionsmethoden adaptierte er gewissermaßen die Gepflogenheiten des Comic-Geschäfts: Ungezählt sind die Punktraster-Doubletten vorgegebener Bilder, die er, von einem Assistenten unterstützt, in seinem Atelier wie an einem Fließband fertigte.

Nach einer längeren Schaffenskrise, in der Lichtenstein eine Zeit lang bloß noch Spiegel malte - als Zeichen für die Inhaltslosigkeit der Kunst als solcher - , begann er schließlich, in seinem Punkt-raster-Stil auch Werke der klassischen Moderne zu reproduzieren: Mondrian, Picasso, Kandinsky. Beim Rückgriff auf die eigenen Wurzeln wurde die Kopie des Originals, die gern selbst Original sein wollte, wieder zur Kopie: So drehte sich sein Konzept um sich selbst, bis es sich - in den letzten zehn Jahren - immer weiter dem Stillstand näherte.

Nun ist Roy Lichtenstein, im Alter von 73 Jahren, an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben.