»Sie beleidigen uns«

Interview mit der ehemaligen Siemens-Zwangsarbeiterin Waltraud Blass, deren Klage auf Entschädigung 1991 abgewiesen wurde

Sie haben 1990 vor dem Münchner Oberlandesgericht einen Prozeß gegen die Firma Siemens angestrengt ...

Es ging um Entschädigung für unsere Arbeit im Krieg- der Lohn wurde uns ja vorenthalten - und Schmerzensgeld. Außerdem habe ich eine Pauschale für entgangene Rentenansprüche gefordert. Zunächst mußte ich Geld auftreiben, um den Prozeß überhaupt führen zu können.

Siemens behauptet seit 1945, daß der Firma von den Nazis die Arbeitskräfte aus dem Konzentrationslagern aufgezwungen worden seien. Welche Rolle spielte die Behauptung im Prozeß?

Als ich 1990 und 1991 den Prozeß anstrengte, hat die Verteidigung von Siemens das anfangs auch noch behauptet. Mit neuen Dokumenten konnten wir aber das Gegenteil beweisen, obwohl Siemens das Archiv unter Verschluß hält. Eindeutig sind die Dokumente von hohen Siemens-Managern an den "Sehr geehrten Herrn Reichsführer SS Himmler", in denen Häftlinge als billige Arbeitskräfte angefordert werden. Die Lohnsummen, die Siemens an die SS abführen mußte, waren nicht sehr hoch. Wir haben davon jedoch nichts gesehen.

Aber Sie haben doch auch selbst miterlebt, wie Siemens-Mitarbeiter unter den gefangenen Frauen im KZ Ravensbrück auswählten und Eignungstests durchführten?

Unsere Stubenälteste wies einzelne von uns an, in eine leere Baracke mit einer Aufseherin zu gehen. Wir mußten in Reihen antreten. Dort waren die Ingenieure von Siemens. Sie begutachteten uns, ob wir noch kräftig genug waren, sahen sich unsere Hände an und fragten, was wir gearbeitet hätten. Ich hatte in meiner Heimatstadt zuletzt in einem Kabelwerk, einem Rüstungsbetrieb, gearbeitet. Ich bekam etwas Draht und mußte zeigen, ob ich damit umgehen konnte. Nach meiner Erfahrung im Umgang mit Schnüren im Kabelwerk hatte ich eine gewisse Fingerfertigkeit und wurde gleich genommen. Ich wurde in der Baracke eingesetzt, in der Siemens den ganz dünnen Kupferdraht auf Röllchen drehte. Das war eine knifflige Arbeit. Weil ich etwas Erfahrung aus der Zeit im Kabelwerk hatte, konnte ich mein Pensum schaffen.

Wie war Ihr Verhältnis zu den anderen Frauen im Lager?

Neben mir saßen zwei Jugoslawinnen und auf der anderen Seite eine Französin. Ich war als Deutsche mittendrin alleine. Eine junge Französin konnte etwas Deutsch und wollte mir Französisch beibringen. Aber ausgehungert kann man nicht lernen. Die Jugoslawinnen fragten mich in gebrochenem Deutsch, warum ich so schnell arbeiten würde. Wie sollte ich das erklären. Die Häftlinge konnten sich nur bei Siemens halten, wenn sie ihr Pensum schafften. Ich riet ihnen: "Macht so gut ihr könnt, sonst kommt ihr hier wieder weg. Wer weiß, wohin ihr dann kommt." Ich habe so gut wie ich konnte gearbeitet und ihnen in Augenblicken, wenn die Aufseherinnen nicht hinsahen, schon einmal einige Röllchen hingeschoben, damit sie etwas mehr hatten. Eines Tages war Lena, eine der Jugoslawinnen, nicht mehr da. Keiner wußte, wohin sie verschwunden war. Eines Sonntags traf ich sie auf der Lagerstraße wieder. Sonntags konnten wir, wenn die Sirene ging, für eine oder zwei Stunden den Block verlassen. Lena hatte Krücken. Ich fragte sie, was geschehen sei. Sie hob ihr Kleid ein wenig und zeigte mir ihre Narben am Schienenbein. Sie war für medizinische Versuche mißbraucht worden.

Um noch mehr Arbeitsleistung aus den Zwangsarbeiterinnen zu pressen, führte Siemens ein Prämiensystem ein. Welche Auswirkungen hatte dies?

Einmal bekam ich einen Prämienschein in Höhe von etwa einer Mark von Siemens. Dafür konnte ich im Lager etwas einkaufen. Doch dort war alles Schund. Uns wurde das Geld auf diesem Weg gleich wieder abgenommen für Schund. Ich kaufte mir ein Döschen mit Creme, weil meine Hände von dem Drahtwickeln ziemlich mitgenommen waren. Für die Haut war das, was ich als Creme verkauft bekam, zu schlecht. Ich habe dann die Lederriemen meiner Holzschuhe damit eingefettet, damit sie sich etwas weiteten und nicht mehr so eng drückten und scheuerten. Etwas anderes konnte ich damit nicht machen.

Wie war die Situation am Arbeitsplatz ?

Die Tische mit den Wickelapparaten standen vor einer langen weißen Wand. Das Licht kam von oben. Es war zwar nicht so kalt wie draußen bei der Arbeit im Winter, aber wir wurden ständig überwacht. Sobald wir uns umguckten oder versuchten, ein paar Worte miteinander zu sprechen, brüllten die Aufseherinnen: "Ruhe! Schnabel halten! Arbeiten!" Nur wenn sie mal rausmußten, konnten wir uns bewegen und ein wenig austauschen. Es gab Aufseherinnen aus dem Lager und die von Siemens. Die Ingenieure von Siemens prüften die Drahtröllchen. Diese Arbeit konnte einen verrückt machen. Wir mußten immer dasselbe machen. Ich bekam Schwindelanfälle. Man war so isoliert an seinem Arbeitsplatz. Die körperliche Arbeit vorher im Lager hat mich mitgenommen, aber diese Arbeit bei Siemens auch.

Wie ging der Prozeß aus?

Die Verteidigung von Siemens hat sich auf den Standpunkt gestellt, daß die Ansprüche verjährt seien. Wir hätten, wurde uns vorgeworfen, schon viel eher klagen müssen. Siemens hat den Prozeß gewonnen. Das Gericht entschied, daß die Ansprüche verjährt seien. Dabei ist das Gericht auch 1991 bei der Revision geblieben. Der Richter hätte sich anders entscheiden können, aber er hat in dasselbe Horn geblasen wie die Rechtsanwälte von Siemens und Siemens vor Ansprüchen geschützt. Ich bin mir im Gerichtssaal vorgekommen wie eine Angeklagte, nicht wie eine Klägerin.

Am 11. und 12. Oktober begeht Siemens mit einer Führungskräftetagung und einem Festakt sein 150jähriges Bestehen. Sie werden auf einer Anti-Siemens-Demonstration am 11. Oktober eine Rede halten und am 12. Oktober an einer Protest- und Gedenkveranstaltung in Berlin teilnehmen ...

Politisch geht es mir, zusammen mit anderen Frauen, die als KZ-Häftlinge bei Siemens gearbeitet haben, darum, daß Siemens endlich bekennen soll, welches Unrecht das Unternehmen begangen hat. Aber sie stehen immer noch auf demselben Standpunkt wie die alten Manager. Zweitens sollen sie uns entschädigen. Bei den Profiten, die Siemens macht, sollten sie sich schämen, daß es darum überhaupt eine Diskussion gibt. Sie beleidigen uns damit.