Das »Meschal-Debakel«

Nach dem Anschlag auf den Chef des Hamas-Politbüros in Jordanien ist Israels Image schwer lädiert

Ein flüchtiger Leser der FAZ hätte auf den phantastischen Gedanken verfallen können, das Dokument eines demokratischen Damaskuserlebnisses in den Händen zu halten. "Leitende Politiker", hieß es da am 7. Oktober, "sollten indes sich über das emotionale Reagieren des Mannes auf der Straße auf grauenvolle Terrormorde erheben können und sich klarmachen, daß im Kampf gegen den Terrorismus die Verfechter des Rechts eine gewisse Unterlegenheit bei der Wahl der Mittel in Kauf nehmen müssen, um den ethischen Unterschied zu bewahren." Sollte etwa, zwei Jahrzehnte nach den Todesnächten von Stammheim und Stadelheim, vielleicht angeregt durch ergreifende Beiträge im nationalen Autorenwettbewerb "Zwanzig Jahre Deutscher Herbst", ein deutscher Politikberater sich zu einem späten "So aber nicht!" entschlossen haben?

Flüchtigkeit beim Lesen ist oft die Quelle gravierender Irrtümer. Natürlich war die Belehrung nicht an deutsche "leitende Politiker" gerichtet. Adressat war wieder einmal der "unbelehrbare" israelische Regierungschef Netanjahu. Der hatte sich die - gefügigeren "leitenden Politikern" andernorts selbstverständlich zugestandene - Exekutorenfreiheit genommen, einen der Urheber der in Israel verübten Massenmordanschläge durch seinen Geheimdienst beseitigen zu lassen und war damit gescheitert.

Das entscheidende Motiv für den deutschen Rüffel in Sachen "ethischer Unterschied" lag diesmal aber auch in der Person des noch einmal Davongekommenen. Chaled Meschal ist Chef des Politbüros der Hamas, die nicht nur den Staat Israel von der Landkarte tilgen möchte, sondern sich auch als autoritäre Ordnungskraft mit vermuteter Integrationsfähigkeit den konkurrierenden geostrategischen Interessen anbietet.

Unbeabsichtigt hat Netanjahu durch den Verlauf des "Meschal-Debakels" zur Stärkung der Hamas beigetragen. Dabei scheint er das Gegenteil bezweckt zu haben. Offenbar hatte die Hamas zwei Tage vor dem Debakel schriftlich einen mehrjährigen "Waffenstillstand" angeboten, wenn im Gegenzug die israelische Regierung u.a. die Besiedlung palästinensisch beanspruchten Gebiets stoppe. Wahrscheinlich hatte die Likud-Führung - unabhängig davon, wie sie post festum die Affäre beurteilen wird - dieses Angebot so interpretiert, wie es von den Absendern gemeint war: als Ausdruck politischer und militärischer Stärke, die durch die geringste Akzeptanz, aber auch durch eine offizielle Ablehnung anerkannt und befördert worden wäre.

Der Anschlag auf Meschal ging aber nicht nur im Sinne der Redewendung "nach hinten los": Israel "schoß sich nicht nur selbst in den Fuß", wie die Jerusalem Post zustimmend den Soziologen Aziz Haidar von der Al-Quds-Universität zitiert, sondern "traf ebenso Arafat". In der Tat hat gerade die überstürzte "Schadensbegrenzung", besonders in Form der Freilassung des Hamas-Mitbegründers und fanatischen Antisemiten Scheich Ahmed Yassin das ohnehin schon lädierte Image israelischer Überlegenheit angekratzt und zudem Arafats Position als "Präsident" einer nicht einmal semi-souveränen Staatsorganisation geschwächt. Yassin veranstaltete gleich nach seiner Ankunft in Amman eine Pressekonferenz, auf der er zur Fortsetzung des "bewaffneten Kampfes bis zur vollständigen Zerstörung Israels" aufrief und formulierte damit auch einen nur mühsam gebändigten Herzenswunsch vieler Arafat-Anhänger.Ob Israels Versuch, Arafats Stellung bei den unter Eindruck des "Debakels" eilends wiederaufgenommenen bilateralen Verhandlungen durch allerlei Zugeständnisse zu stärken, erfolgreich sein werden, ist mehr als zweifelhaft. "Es wird schwierig für Arafat sein, Hamas-Aktivisten weiterhin im Gefängnis zu behalten, während Netanjahu Yassin freiließ", stellt der zitierte Haidar mit Recht fest.

Arafats Bedeutung für Israel besteht in seiner relativen "Berechenbarkeit". Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation und der Durchsetzung eines international gültigen, von keinerlei politischen Ambitionen und Subventionen mehr beeinflußten Wertmaßstabes, dem ausschließlich die produktive Leistung in den kapitalistischen Zentren zugrunde liegt, sind auch die politischen Konstellationen im Nahen Osten durcheinandergewirbelt worden. Deren Neukonstitution zeigt in einer beispielhaften Preview das Schicksal der beiden wesentlichen Gesellschaftsklassen in der euphemistisch als "Neoliberalismus" bezeichneten Welt nach dem Ende der staatssozialistischen "Gegenmacht": eine zur Mehrheit anwachsende Klasse von "unproduktiven" Trägern nicht nachgefragter Arbeitskraft, daher Überflüssige auf der einen Seite, auf der anderen eine zur Minderheit schrumpfende Gruppe von "Qualifizierten" und Kapitalbesitzern unterschiedlicher Quantität, die sich noch Hoffnung auf Verwertung machen dürfen. Diese wird von Arafats Fatah repräsentiert, während die Hamas hauptsächlich die zunehmende Zahl der auf Dauer Pauperisierten repräsentiert.

Al Fatah ist die Organisation derjenigen, die von den nach dem Ende des Realsoz zur Bedeutungslosigkeit abgesunkenen palästinensischen ML-Organisationen wie PFLP etc. nicht zu Unrecht als "palästinensische Bourgeoisie" bezeichnet wurden: Kapitalbesitzer, Angehörige traditioneller Clans, die den Sprung in die "Moderne" schafften, in Europa und den USA ausgebildete Spezialisten und Technokraten. In letzter Zeit gesellten sich - wohl zwangsläufig - zunehmend Intellektuelle aus den früheren linken Organisationen und Frauen, die den Horror der vollständigen Islamisierung fürchten, zur Fatah. Für sie scheinen die von Arafat repräsentierten Strukturen ebenso "berechenbar" wie für Israel - dem trotz aller "fundamentalistischen" Tendenzen doch einzig weitgehend "westlich-säkularen" Staat der Region.

Die politische Berechenbarkeit der Fatah für Israel ergibt sich aus deren - unterstelltem - Interesse an einer ungehinderten ökonomischen Verwertung der Potentiale ihrer Klientel. Wie wenig verläßlich eine solche Spekulation allerdings ist, zeigte sich zuletzt angesichts der offenen Parteinahme Arafats für den Irak im zweiten Golfkrieg. Dennoch bleibt hier notwendigerweise ein Rest von politischer Rationalität, weil jede palästinensische Kapitalverwertung, in welcher staatlichen Form auch immer, auf den von Israel in Jahrzehnten bereiteten (Welt-)Markthintergrund angewiesen ist.

Von der Hamas hingegen ist eine solche Rationalität in keiner Weise zu erwarten. Sie rekrutiert ihre Anhängerschaft aus den vom Weltmarkt in den Stand der Hoffnungslosigkeit Gesetzten auf der Grundlage eines religiösen Gefolgschaftsprinzips. Mit diesem konnte sie in eine erfolgreiche Konkurrenz zur Fatah eintreten und ist seit längerem dabei, diese zu überrunden. In den anerkennenden Worten der FAZ vom 8. Oktober: "Die Fatah hat es versäumt, sich um die Nöte der Palästinenser zu kümmern. Hamas verteilt auch Lebensmittel an Bedürftige und vergibt Stipendien: als Gegenleistung erwartet sie eine 'islamische Lebensführung'."

Es ist dies ein genuin faschistisches Führer-Gefolgschafts-Prinzip, wie es in den kapitalistischen Krisen dieses Jahrhunderts schon wiederholt praktiziert wurde. Weder die reformistische Integration in das Bestehende noch dessen revolutionäre Aufhebung stehen zur Disposition, einzig die Zugehörigkeit zum national definierten Kollektiv und die Unterwerfung unter dessen Führung garantieren ein Überleben. Das Wirken der Ökonomie und seine Resultate, vor allem das massenhafte Elend in den kapitalistischen Verwertungskrisen, wird auf das persönliche Wollen kollektivfremder Feinde zurückgeführt.

Daß statt des nationalen Kollektivs von der Hamas ein religiöses aufgeblasen wird, macht keinen wesentlichen Unterschied. Auch der Glaube an die Nation und ihre besonderen Qualitäten ist als Glaube per definitionem religiös. Die Geschichte der bürgerlichen Nationalstaaten und ihrer latent auch in Prosperitätszeiten fortwirkenden Krisen hat als kollektiven "Anderen" den "Juden" hervorgebracht. Deutschland hat mit der Shoah exemplarisch vorgeführt, wie die reale Umsetzung einer solchen Phantasmagorie, im Massenmord zur Vollendung gebracht, ein konformes Kollektiv von Staatsbürgern schafft.

Als Antizionismus hat der Antisemitismus im Nahen Osten schon seit langem den Rang eines politischen "Arguments" eingenommen. Besonders deutlich wird dies, wenn konkurrierende arabische Staaten sich gegenseitig "Zionismus" vorwerfen oder sich bezichtigen, vom Zionismus beeinflußt zu sein oder dessen Geschäfte zu betreiben. Hamas bedient sich eines im Goldhagenschen Sinne "eliminatorischen" Antisemitismus respektive "Antizionismus". In der Gründungscharta dieser Organisation vom 18. August 1988 heißt es beispielsweise in Artikel 7: "Trotz aller Hindernisse, die von den Pro-Zionisten geschaffen wurden, wird der Tag des Gerichts kommen, und die Moslems werden die Juden bekämpfen und sie töten. Dann werden die Juden versuchen, sich hinter den Felsen und Bäumen zu verbergen, aber die Felsen und Bäume werden ausrufen: 'Oh Moslem, hinter mir verbirgt sich ein Jude, komm und töte ihn.'" Setzt man statt "Moslems" "Arier" ein und gleicht man die orientalische Prosa geringfügig deutscher Gefühligkeit an, hat man schnell ein originäres SA-Dokument in der Hand.

Wenn radikale Linke in Europa - und vor allem in Deutschland - über Netanjahus "Meschal-Debakel" zu urteilen versuchen, mögen sie dessen autoritären und arroganten Stil so viel kritisieren wie sie wollen. Falsch wird es nicht sein, außer daß in sattsam bekannter, illusionärer Art Machtlose sich als die ideell besseren Politiker aufspielen. Wenn sie aber darüber hinaus gehen, sollten sie zwei Punkte nicht vergessen: Erstens steht Hamas - wie ihre Glaubensbrüder in Algerien, Afghanistan usw. - für eine der derzeit schlimmstmöglichen Formen von Konterrevolution; innerhalb eines Schariah-Kontextes ist Emanzipation - im Sinne der größtmöglichen Befreiung der Menschen von "natürlichem" und gesellschaftlichem Zwang - nicht einmal mehr denkbar. Zweitens ist Israels staatliche Existenz solange unbedingt notwendig, wie es den Antisemitismus und seine gesellschaftlichen Voraussetzungen in Form der nationalstaatlich organisierten, kapitalistischen Warenproduktion und ihre Ideologie nationaler Homogenität gibt. Die Shoah hat bereits den größten Teil der utopischen Hoffnungen auf einen Austritt der Menschheit aus ihrer barbarischen "Vorgeschichte" (Marx) zunichte gemacht. Einen weiteren Massenmord an Juden würden neben den Opfern auch alle Hoffnungen auf eine Befreiung, die diesen Namen verdient, nicht überleben. Die Hamas aber propagiert, plant und praktiziert - vorerst rudimentär mittels sogenannter "Selbstmordattentate" - diesen Massenmord.