Der Skandal als bundesdeutsches Lehrstück

Werner Bergmann kommt in seiner Studie über Antisemitismus in öffentlichen Konflikten zu einem optimistischen Ergebnis: Die Gesellschaft hat aus der NS-Vergangenheit gelernt

Werner Bergmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, hat eine umfangreiche Studie über antisemitische Konflikte in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft vorgelegt. Ausgehend von einem theoretischen, an Niklas Luhmann orientierten Einleitungskapitel über öffentliche Konflikte und politische Kultur, öffentliche Meinung und Massenmedien zeichnet Bergmann die Geschichte zentraler antisemitischer Vorfälle nach, die sich in der BRD oder auch auf internationaler Ebene zu Skandalen und Konflikten entwickelt haben. Im Zentrum seines Interesses steht dabei eher die Rezeption der Ereignisse in der Öffentlichkeit und ihre Darstellung in den Medien.

Während die von Bergmann untersuchten Affären aus der Regierungszeit Helmut Kohls noch recht gut in Erinnerung sind, wie beispielsweise die Israel-Reise des deutschen Bundeskanzlers 1984 oder der Skandal um Kohls und Ronald Reagans Besuch des Soldatenfriedhofs in Bitburg, auf dem auch Angehörige der Waffen-SS begraben sind, wird mit der Analyse von Ereignissen aus den vierziger und fünfziger Jahren Material zu Geschehnissen vorgelegt, die im öffentlichen Bewußtsein der jüngeren Generation kaum mehr präsent sind. Zu nennen wäre hier beispielsweise der Fall Harlan.

Veit Harlan, Regisseur des antisemitischen Propagandafilms "Jud Süß" aus der NS-Zeit, bemühte sich nach 1945 um die Fortsetzung seiner Tätigkeit in der Filmbranche, was zu Protesten, Gerichtsverfahren und Boykottaufrufen gegen die neuen Harlan-Filme führte. Zu ergänzen wäre dabei, daß Anfang der neunziger Jahre die Diskussion über die Wirkung öffentlicher Aufführungen des "Jud Süß" wieder aufkam, und zwar hauptsächlich in der Linken (vgl. konkret, 4/1991).

Von den bereits länger zurückliegenden und heute nur mehr wenig bekannten Affären und Skandalen, sind auch - um nur einige zu nennen - die Fälle des Bundestagsabgeordneten der Deutschen Partei Wolfgang Hedler, des Friedrich Nieland oder des Studienrats Ludwig Zind erwähnenswert. Hedler machte sich Ende der vierziger Jahre öffentlich darüber Gedanken, ob der Massenmord in den Gaskammern das richtige Mittel gewesen sei oder ob es nicht auch andere Wege gegeben hätte, sich der Juden "zu entledigen"; Nieland verbreitete Ende der fünfziger Jahre eine antisemitische Broschüre; Zind drohte einem KZ-Überlebenden in einem Wirtshaus mit dem Tod und brüstete sich mit der Ermordung von Juden in der NS-Zeit. Zum einen geben diese Fälle einen Hinweis darauf, daß ein eliminatorischer Antisemitismus auch noch in der deutschen Nachkriegsgesellschaft fortbestand, zum anderen kann Bergmann zeigen, in welchem Maß die Wahrnehmung dieser Vorfälle von der medialen Skandalisierung abhängt.

Vermutlich war Nielands Broschüre nicht das einzige antisemitische Machwerk jener Zeit, und ganz sicher waren die antisemitischen Äußerungen Zinds in einem Gasthaus kein Einzelfall. Daß aus diesen Vorfällen öffentliche Konflikte wurden, lag häufig an der laschen Reaktion der von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern geprägten bundesdeutschen Justiz, was für viele Zeitungen der Anlaß für die Berichterstattung über derartige Vorfälle war.

Bergmann setzt seine Darstellung fort mit der Welle antisemitischer Schmiereeien 1959/60, der Auseinandersetzungen anläßlich von Störaktionen linker Studenten und Studentinnen gegen den israelischen Botschafter Ende der sechziger Jahre, der Kontroverse um die Aufführung des Fassbinder-Stücks "Der Müll, die Stadt und der Tod" in den siebziger und achtziger Jahren, die Debatte um die Fernsehserie "Holocaust", dem Streit nach der Rede des deutschen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger zum 50. Jahrestag des Pogroms vom 9. November 1938 bis zu den Diskussionen über die richtige Einschätzung der nationalsozialistischen Vergangenheit Ende der achtziger Jahre. Immer wieder greift er dabei auch auf empirische Daten zur Einstellung der bundesdeutschen Bevölkerung zum Nationalsozialismus, zu Israel und zum Antisemitismus zurück. Aufgrund dieser Statistiken konstatiert er einen "kollektiven Lernprozeß" in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft, dessen Existenz er durch drei Sachverhalte als bewiesen ansieht. Geltend macht Bergmann "1) einen quantitativ über Umfragedaten nachweisbaren Rückgang antisemitischer Einstellungen in der Bevölkerung; 2) qualitative Veränderungen der 'Frames' hin zu einer Dominanz der Thematisierung und Anerkennung des Antisemitismus und seiner Folgen im Nationalsozialismus; und 3) programmatische Änderungen in zentralen gesellschaftlichen Institutionen."

Der These, daß es von 1945 bis 1989 einen Wandel im Bewußtsein der Mehrheit der BRD-Bürger und -Bürgerinnen und damit auch im Verhalten von Institutionen gegeben hat, kann man kaum widersprechen. Die Frage ist allerdings, wie dieser Wandel bewertet wird und ob er nicht durch die Entwicklungen nach 1989 relativiert wird. Für Bergmann hat solch eine Relativierung nicht stattgefunden. Er beendet seine Studie bewußt mit dem Jahr 1989, um die "Geschlossenheit zu wahren". Auch wenn er in seiner Vorbemerkung einräumt, daß es "in der ersten Hälfte der 90er Jahre wahrlich nicht an öffentlichen Konflikten über Antisemitismus gefehlt hat", hält er explizit daran fest, "daß die Grundthese eines kollektiven Lernprozesses nicht durch neuere Entwicklungen widerlegt worden ist." Diesen kollektiven Lernprozeß bewertet Bergmann ausschließlich positiv. Er verliert keine einzige kritische Bemerkung dazu, daß Lernen in bezug auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit in Deutschland vor allem darin besteht, daß heute sowohl Staatsführung als auch Staatsbürger und -Bürgerinnen der BRD sich klar zur Verantwortung bekennen, die ihnen aus dem Nationalsozialismus erwächst, um so endgültig aus seinem Schatten zu treten. Ausgespart bleibt eine Kritik an den staatspolitischen Berechnungen, die der neuen, scheinbar konsequent antifaschistischen Staatsmoral des wiedervereinigten Deutschland zugrunde liegen.

Werner Bergmann: Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949-1989. (Schriftenreihe des Zentrums für Antisemitismusforschung Berlin, Bd. 4), Campus, Frankfurt/M., New York 1997, 535 S., DM 98