Papon und sein Patron

Dem Helfer Pétains, Hitlers und de Gaulles wird der Prozeß gemacht

"Wird Papon explodieren?" fragt der französische Karikaturist Cabu im Canard encha"né am 8. Oktober und entwirft dazu eine Szene, in der der Angeklagte seinen Richtern droht: "Wenn Sie mich weiter in Schwierigkeiten bringen, schicke ich Sie mit dem nächsten Transport mit!" Seit dem 8. Oktober steht Maurice Papon in Bordeaux vor Gericht. Die Anklage wirft dem von 1942 bis 1944 amtierenden Generalsekretär der Präfektur von Bordeaux vor, die Deportation von 1580 Juden - darunter 200 Kinder - über das Zwischenlager Drancy bei Paris nach Auschwitz organisiert zu haben. Wird, wie vorgesehen, im Dezember das Urteil gefällt, so würde Papon nach Paul Touvier, dem Chef der Miliz des Vichy-Regimes, der zweite wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit verurteilte Franzose sein.

Maurice Papon ist am ersten Verhandlungstag nicht aus der Rolle gefallen. Das Gericht gab ihm keinen Anlaß. Es entließ den 87jährigen am vergangenen Freitag "wegen seines hohen Alters und schlechten Gesundheitszustandes" aus der Haft. Diese Entscheidung, die von drei Berufsrichtern und neun Geschworenen gefällt wurde, steht in der französischen Rechtstradition so gut wie einmalig da, normalerweise verbringen vor einem Geschworenengericht Angeklagte die Zeit des Verfahrens in Haft.

Arno Klarsfeld, Anwalt der Vereinigung der Söhne und Töchter jüdischer Deportierter (FFDJF), einer der Nebenklägerinnen, legte sein Mandat nieder, da nach seiner Auffassung der Prozeß keinen Sinn mehr habe. Maurice Papon wurde unterdessen in einem Schloßhotel, gelegen in einem Weinbaugebiet, untergebracht. "Eine kuriose Pension", kommentiert Le Monde, denn mache man sich wirklich Sorgen um die Herzprobleme des Angeklagten, so sei ein Gefängniskrankenhaus der geeignete Ort und nicht ein Hotel. Und weiter merkt das Blatt an: "Und reden wir nicht von den Kleinkriminellen, die seit Monaten inhaftiert sind und einmal mehr Grund haben, eine solche Zwei-Klassen-Justiz zu verfluchen."

Die Vorzugsbehandlung für Papon begründet das Gericht damit, daß die Anklagebehörde während des gesamten Verfahrens nie eine Inhaftierung Papons gefordert habe. Dieses Versäumnis verweist auf die zahlreichen Merkwürdigkeiten des Verfahrens, das seit den ersten Zivilklagen im Jahr 1981 über 15 Jahren hin konsequent verschleppt wurde. Dazu muß eine zweite Geschichte erzählt werden.

Wir schreiben Oktober 1961. Der Algerienkrieg, in dem Frankreich die drei Departements auf der anderen Seite des Mittelmeers gewaltsam zu halten versuchte, ist beinahe zu Ende. General Charles de Gaulle, 1958 über einen von Algier ausgehenden Putsch gegen die "schwächlichen" Regierungen der Vierten Republik an die Macht gekommen, hatte die Unvermeidlichkeit des Rückzugs aus dem Kolonialkrieg erkannt, der mit dem Aufstand der "Nationalen Befreiungsfront" FLN am 1. November 1954 begonnen hatte und insgesamt rund eine Million algerische und 30 000 bis 60 000 französische Opfer forderte. Die Meuterei der Militärs in Algerien, die sich der de Gaulleschen Rationalität widersetzten, und den Putsch der Generäle in Algier im April 1961 schlug der General mit den ihm 1958 durch die neue Verfassung "seiner" Fünften Republik zugestandenen quasi-diktatorischen Vollmachten nieder. Die reaktionären Kräfte an der "Heimatfront" gerieten darüber ins Kochen; die rechtsextreme Terrororganisation OAS beging ungezählte Bombenanschläge und versuchte, de Gaulle zu ermorden - ein Mitwisser, der insgeheim auf seine Nachfolge hoffte, saß mit am Kabinettstisch: der Finanzminister und spätere Staatspräsident (1974-1981) Valéry Giscard d'Estaing.

In dieser aufgeheizten Atmosphäre wagte am 17. Oktober die algerische Immigrationsbevölkerung in Paris, gegen die über sie verhängte Ausgangssperre zu protestieren. Der Polizeipräfekt von Paris hatte der muslimischen Bevölkerung "sehr energisch geraten", zwischen 20 und 5.30 Uhr nicht auf die Straße zu gehen. Um 20.15 Uhr - kurz nach Eintritt der Ausgangssperre - schoß die Polizei in die Menge. Eine unbekannte Zahl von Algeriern wurde von der Brücke Saint Michel in das eisige Wasser der Seine geworfen und Dutzende weitere in der Nacht im Hof der Polizeipräfektur ermordet. Vermutlich zwischen 200 und 600 Todesopfer forderten der 17. und 18. Oktober; noch zwei Monate später wurden in Rouen, 100 Kilometer flußabwärts, Leichen der Demonstranten angespült. 11 528 Menschen nahm die Pariser Polizei fest und internierte sie im Stadion Pierre de Coubertin. Die Ereignisse vom 17. Oktober 1961 sind noch heute in der französischen Öffentlichkeit kaum bekannt (die Archive bleiben geschlossen, nur in einem der französischen Schulbücher wird es erwähnt).

Der für das Massaker verantwortliche Polizeipräfekt wurde nicht zur Verantwortung gezogen. Man wechselte ihn erst ein Jahr später aus. Der Mann hieß Maurice Papon.

Warum Papon, der sich 1944 als Widerständler ausgegeben hatte, von der Justiz erst im März 1996 zur Anhörung vorgeladen wurde, um sich für seine Mitwirkung an Juden-Deportationen zu verantworten, läßt sich immerhin vermuten. Der Canard encha"né, der 1981 erstmals über Papons Rolle im Vichy-Frankreich berichtet hatte, veröffentlichte in der vergangenen Woche ein Papier aus "schlafenden Archiven", aus dem hervorging, daß Papon bereits 1945 als Nazi-Kollaborateur aktenkundig war und die französischen Regierungen auch zu jeder Zeit über seine Vergangenheit informiert waren.

Der Verdacht liegt daher nahe, daß de Gaulle die exekutiven Erfahrungen des Ex-Kollaborateurs nicht missen wollte, als er Papon 1958 persönlich zum Pariser Polizeipräfekten berief. Die Konservativen schätzten ihn so sehr, daß Präsident Valéry Giscard d'Estaing ihn 1978 als Budget-Minister in sein Kabinett holte. Er wie auch seine Nachfolger verstanden es bis 1996, den Nazi-Helfer vor der Justiz zu schützen.