Poeten und Ingenieure

H.C. Artmann und die Wiener Gruppe. Eine Betrachtung anläßlich der Verleihung des Büchner-Preises an den österreichischen Dichter.

Auch die Ausgeburten der Phantasie tragen Muttermale. Soweit sie sich auch von dem entfernt haben, was der sie sich auch von dem entfernt haben, was der Gesetzesgläubige "Wirklichkeit" nennt, ist doch sowohl den "Offenbarungen des Johannes" als auch den Gesichten von Samuel Taylor Coleridge ("In Xanadu did Kubla Khan / A stately pleasure-dome decree") anzumerken, wo und wann sie entstanden sind.

Spätestens seit Mitte dieses Jahrhunderts ist auch bekannt, welcher Apparat dafür sorgt, daß wir uns noch in unseren kühnsten Entwürfen, noch in unseren wildesten Alpträumen in den Bahnen von Gesellschaft und Kultur bewegen: Es ist die Sprache selbst. Der Sprache etwas Neues abzutrotzen war seither das Programm der fortschrittlichen Dichter. Die erstaunlichsten Ergebnisse erzielte in den fünfziger Jahren die Wiener Gruppe, eine Dichter- und Künstler-Vereinigung, der Konrad Bayer, Gerhard Rühm, Oswald Wiener, Friedrich Achleitner angehörten - und H.C. Artmann, der in diesen Tagen den Büchner-Preis erhalten hat. Sie ersannen eine Vielzahl von sprach- und kommunikationszerstörenden Mitteln, Maschinen und Manieren: Ihre Arbeiten reichen von Montagen vorgefundenen Wortmaterials bis zu aufsehenerregenden Happenings ("literarisches cabaret").

Artmann war in dieser Versammlung außergewöhnlicher Begabungen selbst eine Ausnahme: Er war nicht nur älter als die anderen, hatte als erster einen kleinen Erfolg (mit dem schwarzromantischen Zyklus "med ana schwoazzn dintn", Salzburg 1958) und verließ als erster die Wiener Gruppe. Auch seine poetische Methode unterschied sich grundsätzlich von der der anderen Mitglieder der Gruppe. Wenn auch die Texte der frühen Jahre einander ähnlich waren, schien er doch immer auf Intuition zu setzen, wo die anderen auf Kalküle vertrauten. (Artmann habe die "damals gemeinsam erarbeiteten methoden (...) häufig recht intuitiv" auf "seine arbeit angewendet", analysiert etwa Reinhard Priessnitz in "hans carl artmann"; s. R. Priessnitz, "literatur, gesellschaft etc.", edition neue texte, Linz/Wien 1990)

Oswald Wiener hat in seinem Aufsatz "das 'literarische cabaret' der wiener gruppe" den Unterschied genauer zu bestimmen versucht: Artmanns Technik bestehe darin, "durch konfrontationen überkommener und teilweise verschollener klischees in einer art von kollision eine stimmung hervorzurufen, die mit dem gefühl einer erkenntnis verwandt war. jedoch war seine methode immer eine 'rein-literarische' geblieben und gipfelte konsequenterweise in einer antididaktischen 'poetik', welche nie von primären sinnlichen wahrnehmungen ausging, obwohl sie im effekt stark sinnlich wirkte. wenn wir anderen uns im gegensatz dazu als sprachingenieure, sprachpragmatiker, sahen, benutzten wir die worte im sinne wittgensteins als werkzeuge (allerdings in erweiterter bedeutung) und waren nicht nur am verhalten der worte in bestimmten situationen ('konstellationen') interessiert (Ö), sondern auch an der steuerung konkreter situationen durch den sprachgebrauch."

In gewissem Gegensatz dazu steht das berühmte Postulat Artmanns in der "Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes" (1953): "Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der, daß man Dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben." Die angeblich "rein-literarische" Methode Artmanns sollte sich also nicht nur nicht in Literatur erschöpfen, sondern legte das Gewicht gerade auf das Außer-Literarische, das Poetische, ein freilich schwer faßbares Moment, das Wiener als "selten schwankendes lebensgefühl" charakterisiert. Artmann, schreibt Wiener, habe nicht an der Sprache gezweifelt, er sei auch gar nicht an der Klärung seines "standpunktes" interessiert gewesen. Das ist abermals widersprüchlich: Warum sollte einer, der an der Sprache zweifelt, gerade an der - doch gewiß sprachlichen - Formulierung seines Standpunktes interessiert sein?

H.C. Artmanns Dandytum schloß Selbst-Definitionen aus, es bedingte im Gegenteil ein starkes Interesse am Verwischen von Herkunft, Identität und selbst von (methodischer) Reflexion: "ich bin h.c. artmann, den man auch john adderley bancroft alias lord lister alias david blennerhasset alias martimer grizzleymold de vere &c. &c. nennt!" Der Phantasie zum Sieg zu verhelfen, sollten ihre Muttermale getilgt werden; die wüsten Einfälle eines artifiziellen Barock ("Der aeronautische Sindtbart") gingen in die kristallinen Strukturen eines geläuterten Surrealismus ("persische quatrainen") oder in die einer überspannten Trivial- und Pop-Art-Montage ("Frankenstein in Sussex") über. Wer Artmann ist, wie Artmann denkt, darauf gab Artmann soviele Antworten, wie er Texte schrieb. Sein Werk ist von derart verwirrendem Erfindungsreichtum, daß man nicht glauben mag, es stecke nur ein einzelner dahinter. Man vermutet, daß auch seine angebliche Intuition ein Kalkül sein muß, sie fördert Neues, Unerwartetes aus Abgelegtem, reichlich Konventionellem.

Artmanns poetische Alchemie ist darauf eingerichtet, daß Sprache und damit die poetischen Formen immer schon vorhanden sind: "artistik wird zur unterlage von emotion, präsenz einer stimmung. die grammatische form erst begründet den inhalt, die bedeutung erhält ihre funktion durch das vorgefundene muster - in hinblick auf den sie festlegenden effekt." (Priessnitz)

Nun hatte Wiener selbst in seinem "coolen manifest" (1954) "die enthaltung von stellungnahmen jeder art" gefordert. Artmann hielt sich als einziger der Gruppe strikt daran; die wenigen Stellungnahmen, die er im Lauf der Jahre abgegeben hat, sind offensichtliche Ablenkungsmanöver. Was ihn von den anderen trennte, war, daß er sich den rein theoretischen Arbeiten verschloß, sie hätten Selbst-Bestimmungen, womöglich Entblößungen gefordert, deren ein Dandy sich stets enthält. Artmann ist - "poesie als weltanschauung" (Konrad Bayer) - immer mehr als ein Dichter gewesen, aber es war ihm, anders als zu verschiedenen Zeiten den anderen Mitgliedern der Wiener Gruppe, nie darum zu tun, das poetische Habit selbst abzulegen.

Die Werke von H.C. Artmann sind u.a. im Residenz und im Renner Verlag erschienen. Zur Wiener Gruppe: Gerhard Rühm, Hg.: Die Wiener Gruppe. Rowohlt, Reinbek 1985. Walter Buchebner Literaturprojekt: die wiener gruppe. Böhlau, Wien/Köln/Graz 1987