Zügellose Kiez-Folklore

Das ZDF stellt sich vor, wie es wohl auf Sankt Pauli zugeht

Die berühmtesten Straßen Hamburgs liegen auf St. Pauli: Reeperbahn, Hafenstraße, Herbertstraße - und nicht zuletzt jene, die durch den Hans-Albers-Film "Große Freiheit Nr. 7" bekannt wurde, obwohl der größte Teil davon nicht auf dem Kiez, sondern in Babelsberg entstand. Der Name der Straße, die bis 1939 noch zum Nachbarstadtteil Altona gehörte, führt viele ihrer Besucher in die Irre: Er spielt nicht auf zügelloses Vergnügen an. Vielmehr erinnert er an die Religions- und Zunftfreiheit, die das eigenständige Altona hier Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts mennonitischen und jüdischen Flüchtlingen gewährte.

Der Regisseur und Autor Christian Görlitz ist fasziniert von der "Straße, die abends ab 20 Uhr für Autos gesperrt ist. Man hat das Gefühl, auf einer Theaterbühne zu stehen. Das gibt es nirgendwo sonst auf der Welt." Also hat er seine neue achtteilige Krimiserie, die auf St. Pauli spielt und seit dem 28. Oktober dienstags um 22.45 Uhr im ZDF läuft, nach der Großen Freiheit benannt. Seltsamerweise kommt die Straße in der ersten Folge gar nicht vor, und in der zweiten setzt Görlitz für den Mörder einer Prostituierten die erwähnte Straßensperre gleich außer Kraft, weil das Auto eine wichtige Rolle bei der Lösung des Falls spielt.

Wie Görlitz' Metaphorik ("Theaterbühne") macht auch der Waschzettel des ZDF deutlich, daß es es in "Große Freiheit" nicht um das wirkliche St. Pauli geht: Die beiden Serienhelden, der vom vorzeitigen Ruhestand bedrohte Kommissar Leo Kollberg sowie der junge Buchhändler und hobbymäßige Kriminalist Max Kaminski, befänden sich "im Kampf gegen das Verbrechen, das ihnen in den Kaschemmen und Hinterhöfen, Spielhöllen, Stripbars, Szenediskos und Nachtcafés überall begegnet". Kurz gesagt: In "Große Freiheit" geht es zu wie in fast allen anderen Serien und Filmen, die auf dem Kiez spielen.

Deren Regisseure stellen St. Pauli gemeinhin als verruchtes, aber letztlich doch idyllisches, geradezu puppenstubenähnliches Dorf dar. Und spätestens seit der notorische Berufs-St. Paulianer Jürgen Roland 1964 den prototypischen Film "Die Davidwache" drehte, hat dieses Dorf einen Mittelpunkt: das Polizeirevier. Natürlich mag auch Görlitz auf die Davidwache nicht verzichten, aber immerhin kommt er zumindest in den ersten beiden Folgen ohne die sattsam bekannten Szenen aus, die sonst gern im Eingangsbereich der Wache gedreht werden. Keine Prostituierte beschwert sich über einen rüden Beamten, kein Freier beschwert sich über eine Prostituierte, die ihm gerade die Brieftasche gestohlen hat, und kein Betrunkener wird handgreiflich. Es kommt der Serie gewiß zugute, daß die auf der Davidwache spielenden Szenen, in denen sich Kollberg (Peter Striebeck) mit seinem eher gangsterähnlich wirkenden Vorgesetzten Stefan Reimann (Simon Licht) Rededuelle liefert, nicht dort gedreht wurden.

Auch in "Große Freiheit" ist St. Pauli ein Dorf, auf dieser Konstruktion basiert die gesamte Handlung. Sonst könnte Peter Striebeck nicht einen Bullen spielen, der nicht nur jeden auf dem Kiez kennt, sondern auch noch zu allen einen guten, wenn nicht gar freundschaftlichen Draht hat - sogar zu lokalen Gangster-Größen.

Das alles wäre locker zu verkraften, wenn der Krimi-Plot zünden würde. Wie also ist es um den bestellt? In der ersten Folge läßt ein einst ehrbarer Transportunternehmer, der sich mit Drogendealern eingelassen hat, um sich und seiner schwer krebskranken Frau einen Lebensabend auf den Bahamas zu finanzieren, einen Koffer mit Heroin im Krankenhaus stehen. Keineswegs versehentlich. Seine Frau ist gerade gestorben, und deshalb braucht er das Zeug, das 1,5 Millionen Mark wert ist, sowieso nicht mehr. Zumal er konkrete Selbstmordabsichten hat. Jetzt kommt der Chefarzt ins Spiel, der natürlich nicht weiß, was er mit dem brisanten Gepäckstück anfangen soll. Wie praktisch, daß er immer noch gut mit Leo Kolberg befreundet ist, obwohl er doch mit ihm und dessen Frau in einer kaputten Dreiecksbeziehung lebt. Also sucht der Mediziner inoffiziell Rat bei dem Polizisten.

So weit, so aufschlußreich. Haariger wird's noch, als Kaminski (Dominique Horvitz) den suizidgefährdeten Witwer in einer Eckkneipe aufgabelt - zufällig, denn Kolbergs offensichtlich multitalentierter Partner spielt dort gerade Akkordeon für die Heilsarmee.

In "Pünktlich zum Mord", der zweiten Folge, präsentiert uns Görlitz einen Mörder, den sich Herbert Reinecker in den siebziger Jahren ausgedacht haben könnte: einen verklemmten bourgeoisen Studenten, der nicht damit klarkommt, daß sein Vater - jedenfalls glaubt Sohnemann das - zu einer Prostituierten geht. Umso mehr ist der Wirrkopf verstört, als er erfährt, daß Daddy, ein Richter am Oberlandesgericht, ein noch viel wilderes Doppelleben führt: Tagsüber spricht er im Namen des Volkes, nachts zieht er sich Frauenkleider an und singt in einer Transvestiten-Bar Rolling Stones-Balladen. Ja, ja, so ist sie, die Hamburger Oberschicht: Wenn der Tag schon nur 24 Stunden hat, soll man möglichst keine ungenutzt verstreichen lassen.

Das klingt alles ziemlich gruselig, und das ist es auch. Daß die Kiez-Folklore in der zweiten Folge noch penetranter rüberkommt als in der ersten, läßt für die restlichen sechs Schlimmes ahnen. Wer "Große Freiheit" mögen wird? Vielleicht Menschen, die es lustig finden, wenn ein Mann zu einem anderen sagt: "Du kriegst was in die Fresse, daß dein Spatzenhirn bis Mallorca fliegt."