Die Models der Neunziger und die damaligen Schlankheitsideale kehren zurück

Die Rückkehr der Mager-Models

Für die Mailänder Fashion Week kehrten Naomi Campbell und Claudia Schiffer auf den Laufsteg zurück. Die Supermodels der Neunziger prägten ein extremes Schlankheitsideal, welches, wie Daten zeigen, ungeachtet der Diskussionen über »body positivity« wieder an Popularität gewinnt.

Es war einer der Höhepunkte der Mailänder Fashion Week, die vom 19. bis 25. September stattfand: Das frühere Supermodel Naomi Campbell, 53 Jahre alt, kam für die Frühjahr/Sommer-Kollektion 2024 von Dolce & Gabbana zurück auf den Laufsteg und begeisterte in schwarzem Lingerie-Outfit Presse und Publikum. Am Abend zuvor hatte Versace mit Claudia Schiffer (53) bereits ein anderes Topmodel aus den neun­ziger Jahren laufen lassen, während zwei weitere Berühmtheiten aus jener Zeit, Linda Evangelista (58) und Kate Moss (49), bei den angesagtesten Shows der Mailänder Modewoche in der ersten Reihe saßen und mindestens ähnlich viel Aufmerksamkeit wie die Models auf dem Laufsteg bekamen.

Kurz vorher waren Campbell, Evangelista, Cindy Crawford und Christy ­Turlington – die »Fab Four«, wie sie damals in der Fashion-Szene genannt wurden – gemeinsam bei der Veranstaltung »Vogue World« in London auf dem Laufsteg. Was diese Frauen zu den Ikonen machte, die sie heute noch sind, zeigt derzeit die Doku-Serie »The Supermodels« auf dem Streaming-Dienst von Apple, die seit dem 20. September verfügbar ist.

All diese Frauen prägten damals die Modewelt, weil sie nicht nur von Stardesignern entworfene Outfits präsentierten, sondern auch Popstars wurden, die Maßstäbe setzten, und zwar nicht nur für die Branche, in der sie tätig waren. Ihre als perfekt geltenden Körper wurden zu einem Ideal von weiblicher Schönheit, das heute noch gilt – und zwar auch abseits des Laufstegs.

»Heroin chic« nannte eine britische Zeitschrift 1992 den Stil zum ersten Mal und bezog sich auf Kate Moss, die für ihren aus­gemergelten Körper und ihre androgyne Aus­strahlung gefeiert wurde.

Es waren die Jahre von »size zero« (Größe null), was damals viel mehr war als eine technische Bezeichnung für die kleinste Konfektionsgröße, die in der Modeindustrie angeboten wird: Es war ein Lebensstil. Kleiderstücke in diesem Größenbereich – in Europa sind es die Kleidergrößen 30 bis 34 beziehungsweise XS bis XXS – sind eigentlich für Jugendliche gedacht, doch die weltweit berühmten Supermodels beziehungsweise die Marken, für die sie arbeiteten, machten diese Kleidergröße in den Neunzigern zum Symbol eines neuen weiblichen Schönheitsideals: extrem dünn, zerbrechlich, androgyn.

»Heroin chic« nannte eine britische Zeitschrift 1992 diesen Stil zum ersten Mal und bezog sich dabei auf Kate Moss, die damals für ihren ausgemergelten Körper und ihre androgyne Ausstrahlung gefeiert wurde. Der Begriff »hero­in chic« wurde schnell populär und beschrieb eine Reihe von nicht nur weib­lichen Prominenten, die mit Drogenkonsum in Verbindung gebracht wurden. Der Gitarrist der Rolling Stones, Keith Richards, hatte dieser Ästhetik schon vorher den Weg bereitet.

In den Neunzigern, und noch lange danach, wäre es unmöglich gewesen, sich Models mit anderen Körperformen auf einem Laufsteg vorzustellen. Es dauerte lange, bis zu den zehner Jahren des neuen Jahrtausends, bis die Modebranche ihre Vorgaben aufweichte und inklusiver wurde, beziehungsweise sich einem Markt öffnete, den es zwar schon immer gegeben hatte, den man allerdings nicht zeigen durfte. Und so begann – bezeichnenderweise mit dem Aufstieg der sozialen Medien, insbesondere Instagram – der Hype um sogenannten curvy models: Ashley Graham, Tara Lynn, Iskra Lawrence, Tess Holliday, um nur einige zu nennen, die in den vergangenen zehn Jahren mit ihren eher ausladenden sogenannten Plus-Size-Körpern Karriere machten. Die Diskussionen über weibliche Körperideale schienen sich zu öffnen, vor allem dadurch, dass immer mehr unterschiedliche Körperformen medial präsentiert wurden, die für die Modeindustrie bis dahin tabu gewesen waren. Auf den Laufstegen ging es inklusiver zu und eine Modelkarriere war nicht mehr nur eine Frage möglichst geringen Gewichts.

Damit scheint es nun vorbei zu sein. Die weltbekannten Modezeitschriften sind sich seit einiger Zeit einig: »Size zero« ist zurück auf den Modeschauen – und das ist keine gute Nachricht. Es gibt konkrete Daten, die belegen, wie wenig »plus size« bei den internationalen Fashion Weeks des vergangenen Jahres zu sehen war. Laut dem »Size Inclusivity Report« des US-amerikanischen Branchenmagazins Vogue Business waren von insgesamt 9.137 Looks auf den 219 Schauen im Herbst und Winter 2023 in New York, London, Mailand und Paris (Frauenmode) 0,6 Prozent »plus size« (US-Größe 14 und mehr) und 3,8 Prozent »mid size« (US-Größen 6 bis 12). Das bedeutet, dass 95,6 Prozent der für Herbst/Winter-Kollektionen präsentierten Bekleidung in den US-Größen 0 bis 4 gehalten war.

Diese Zahlen seien besorgniserregend, so Vogue, »da sie darauf hindeuten, dass die Modebranche immer noch sehr einheitlich ist«. Die meisten Models, die auf dem Laufsteg zu sehen sind, seien »schlank und weiß, was dazu führen kann, dass sich Menschen, die nicht in diese Kategorie fallen, unsichtbar oder ausgeschlossen fühlen«. Doch die Repräsentation von Diversität ist nur ein Aspekt des Problems.

Während bei der Vogue-Studie der Aspekt der Inklusion im Fokus steht – nicht zufällig ist dort von »size inclusivity« die Rede –, wurden in den vergangenen Jahren in Europa sogar die Regierungen aktiv, um das Phänomen der extremen Schlankheit in der Modeindustrie zu bekämpfen. Wegweisend war dabei die »loi mannequin« (Model-Gesetz), die das französische Parlament 2015 zur Regulierung der Maße in der Modebranche beschloss. Die französische Regierung sah damals den Trend extrem dünner Models auf den Laufstegen als gesundheitspolitisches und kulturelles Problem, das es anzugehen galt – vor allem wegen der negativen Auswirkungen, die der Magerwahn auf die körperliche und psychische Gesundheit junger Menschen haben kann.

Das Gesetz zielt darauf ab, die Gesundheit und den Schutz von Models zu gewährleisten und ein realistischeres Schönheitsideal zu fördern. Es verpflichtet Model-Agenturen und Modeunternehmen, nur Models einzustellen, die mit einem medizinischen Attest einen Body-Mass-Index belegen können, mit dem sie noch nicht als untergewichtig gelten. Darüber hinaus schreibt das Gesetz vor, dass Abbildungen eines Models, die nachträglich digital bearbeitet wurden, mit einem Warnhinweis gekennzeichnet werden müssen.

Auch in anderen europäischen Ländern gibt es mittlerweile Maßnahmen gegen den Magerwahn auf dem Laufsteg, jedoch variieren sie von Land zu Land. Spanien und Italien haben ähnliche Vorschriften wie Frankreich eingeführt, während Deutschland und Großbritannien auf freiwillige Selbstverpflichtungen der Modelabels bauen. Die Europäische Union hat bisher ­keine einheitliche Gesetzgebung zum Thema, aber es mehren sich die Über­legungen für eine Richtlinie, die den Schutz der Gesundheit und das Wohl­ergehen von Models in der ganzen EU gewährleisten soll.

Immer häufiger wird, vor allem in der US-Debatte, davor gewarnt, dass »body positivity« toxisch sein könne, wenn es dabei darum gehe, negative Gefühle in Bezug auf das eigene Körperbild zu unterdrücken und so zu tun, als existierten sie nicht.

Das französische Gesetz wurde zu einem Zeitpunkt verabschiedet, als der Begriff »body positivity« reüssierte, aber es gab auch damals schon Kritik an ihm. Der »body positivity« wurde zunächst unterstellt, das »Dicksein« nicht nur zu akzeptieren, sondern zu feiern und sogar zu fördern. Das wurde vor allem in den USA als problematisch angesehen – dort gelten nach offiziellen Angaben der Gesundheitsbehörden über 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung als übergewichtig und rund 40 Prozent als krankhaft fettleibig gelten, 2019 der dritthöchste Wert der OECD-Länder knapp hinter Mexiko und Chile. Plus-Size-Topmodels wie Tess Holliday und Ashley Graham, die auf den Titelseiten der Modemagazine und auf internationalen Modeshows Erfolge feierten, wurde vorgeworfen, die Gefahren von Adipositas zu relativieren und, ähnlich wie der »heroin chic« der neunziger Jahre, ungesunde Körper­ideale zu verbreiten.

Doch auch aus einem anderen Grund wurde der Trend immer stärker kritisiert – auch von vielen, die ihn zunächst begrüßt hatten. Jessi Kneeland, die Autorin des Buchs »Body Neutral: A Revolutionary Guide to Overcoming Body Image Issues«, bringt das in einem Artikel im Time Magazine auf den Punkt: »Es ist nichts falsch daran, uns selbst oder unseren Körper zu lieben, wenn wir realistisch dabei sind, was ›Liebe‹ bedeutet«, schreibt sie, »aber ich wehre mich gegen die Vorstellung, dass wir einen ständigen Strom von Glücksgefühlen und liebevoller Dankbarkeit für unseren Körper empfinden sollten. Das ist weder realistisch noch notwendig.«

Immer häufiger wird, vor allem in der US-Debatte, davor gewarnt, dass »body positivity« toxisch sein könne, wenn es dabei darum gehe, negative Gefühle in Bezug auf das eigene Körperbild zu unterdrücken und so zu tun, als existierten sie nicht. Die Kritik an der »body positivity« als uneingeschränkter Forderung – »Liebe deinen Körper immer und überall« – wurde immer lauter, denn auch dieses Ideal entpuppt sich für die meisten Menschen als unerreichbar: »Entweder du liebst deinen Körper ohne Wenn und Aber, oder du bist ein Versager, weil du dazu nicht in der Lage bist«, schreibt Kneeland.

Daher plädieren einige inzwischen für »body neutrality« (Körperneutralität). Ob dieser Vorstoß die Welt der Models beeinflussen kann, wird sich zeigen. Die Zahlen zu den derzeit laufenden Fashion Weeks will Vogue Business in einem neuen »Fashion Report« vorlegen. Darin wird auch zu lesen seien, wie viel »plus size« die Frühjahr/Sommer-Kollektionen für 2024 anzubieten hatten. Der Report über die Frühjahr/Sommer-Kollektionen 2024 für Männer zeigt jedenfalls einen klaren Trend: »Die Berücksichtigung von Plus-Size in der Männermode ist rückläufig. Bei 72 Schauen und den Schauen in Mailand und Paris gab es nur sechs männliche Plus-Size-Models, weniger als in der letzten Saison«, ist dort zu lesen.

Dass die Supermodels der neunziger Jahre in Mailand vor allem dafür gefeiert wurden, dass sie trotz fortgeschrittenen Alters »fast genau wie damals« aussehen, zeigt, dass der Weg zur »Körperneutralität« noch lang ist.