Atommüll ins Erdbebengebiet

Am US-mexikanischen Grenzfluß Rio Bravo soll ein Endlager für radioaktive Abfälle entstehen. Mexikanische Umweltgruppen werfen den USA "Umweltrassismus" vor

Wenn es nach dem Willen der Regierung des US-Bundesstaates Texas geht, dann wird Anfang nächstes Jahr mit einem erste Spatenstich der Bau eines Endlagers für radioaktive Abfälle in der Sierra Nevada begonnen. Treffenderweise liegt der Bauplatz in einem erdbebengefährdeten Gebiet, bei Austritt von Radioaktivität könnte das Trinkwasser von zwei Millionen Menschen vergiftet werden. Politische Brisanz gewinnt das Projekt außerdem dadurch, daß das Endlager nur 32 Kilometer nördlich der Grenze zu Mexiko entstehen soll. In einer verarmten Region, die zu zwei Dritteln von US-Mexikanern bewohnt wird und bereits jetzt als Müllkippe für vergifteten Schlamm dient. Mexikanische Oppositionsgruppen sprechen von "Umweltrassismus".

Die Anlage in Hupsteh soll den Kopfschmerzen der Betreiber von Atomanlagen in den USA ein Ende bereiten. Seit Jahren sammeln sich nämlich radioaktive Abfälle in den 109 Kernkraftwerken sowie zahlreichen Krankenhäusern, Industrieanlagen und Forschungszentren an, während das Problem der Entsorgung, wie in den meisten Ländern, ungelöst bleibt. Seit 1971 wurden in den USA von ursprünglich sechs Endlagerstätten für sogenannte "niedrig strahlende Abfälle" vier aufgrund von Umweltproblemen, Anwohnerprotesten oder Auslastung geschlossen. Die Kapazitäten der beiden übriggebliebenen in Richland (Washington) und Bamwell (South Carolina) reichen längst nicht mehr aus. Abhilfe soll nun das Atomklo in der Sierra Nevada schaffen. Dafür hat nicht zuletzt die texanische Regierung gesorgt, die an den beträchtlichen Einnahmen durch die Müllkippe interessiert ist und am 7. Oktober vom Kongreß grünes Licht bekommen hat. Beobachter gehen nun davon aus, daß Abfälle aus den gesamten USA dort gelagert werden.

Die Kategorie "niedrig strahlende radioaktive Abfälle" hört sich glimpflich an, ist es aber keinesfalls. Sie bezeichnet nämlich nicht, wie man fälschlicherweise vermuten könnte, den Grad der Strahlung, sondern vielmehr die Herkunft des Abfalls. Als "stark strahlend" werden nur Substanzen bezeichnet, die direkt aus einem Reaktorkern stammen. Der gesamte Rest wird unter "niedrig strahlend" zusammengefaßt, obwohl sich darunter Substanzen befinden, die eine Halbwertzeit von mehreren Hunderttausend Jahren haben und somit eine strahlende Zeitbombe darstellen. Laut einer Studie des Institute for Energy and Environmental Research ist die durchschnittliche Radioaktivität des Großteils der kommerziellen Abfälle der Kategorie "niedrig strahlend" gar dreimal so hoch wie die der Abfälle aus der Produktion von Nuklearwaffen, die als "stark strahlend" gelten. Es ist eben nicht immer drin, was draufsteht.

Atomare Abfälle zählen zweifellos zu den unbeliebtesten Errungenschaften des technischen Fortschritts, weshalb sie meist weit ab von den Zentren der Macht in grenznahen, strukturschwachen oder zumindest bevölkerungsarmen Gebieten endgelagert werden. Bei der Auswahl des Standortes in der Sierra Nevada scheinen hauptsächlich die politischen Faktoren den Ausschlag gegeben zu haben, denn alle anderen Faktoren sprechen alarmierend gegen das Projekt. Obwohl der Bau von atomaren Endlagern in Regionen, die durch Erdbeben, geologische Verwerfungen oder Erosion durch Wind und Regen gefährdet sind, auch nach texanischem Recht verboten ist, weist der Standort in der Sierra Nevada genau diese Charakeristika auf. Am 13. April 1995 erschütterte das stärkste Erdbeben seit 60 Jahren den Bundesstaat, das Epizentrum lag mit 5,6 Grad auf der Richterskala in der Sierra Nevada. Zwischen 1923 und 1993 wurden insgesamt 64 Erdbeben mit mehr als drei Grad im Umkreis des zukünftigen Endlagers registriert. Forscher der Radioactive Waste Management Association (RWMA) haben außerdem vor zwei Jahren in einem Bericht festgestellt, daß die Sierra Nevada geologische Verwerfungen und Erosionsprobleme birgt und daher das Risiko atomarer Vergiftung des Rio Grande und damit von Millionen von Menschen besteht.

Doch wenn es um viel Geld und die Interessen der mächtigen Atomindustrie geht, kümmern die betroffenen Menschen wenig, und noch weniger, wenn es sich, wie im Fall Sierra Nevada, hauptsächlich um Mexikaner oder sogenannte Chicanos, mexikanische US-Amerikaner, handelt. Im Süden der USA systematischen rassistischen Schikanen ausgesetzt, sind diese für viele der bleichgesichtigen Wohlstandsgringos ohnehin nicht mehr als menschlicher Abfall. Selbst bilaterale Abkommen werden in diesem Fall mißachtet: So unterzeichneten beispielsweise am 14. August 1983 Mexiko und die USA einen Vertrag, dessen Artikel zwei vorschreibt: "Die beiden Parteien verpflichten sich, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um Umweltverschmutzungen vorzubeugen, zu reduzieren und zu beseitigen, die das Grenzgebiet des jeweilig anderen betreffen könnten." Als Grenzgebiet wird in Artikel vier eine Zone von 100 Kilometern beiderseits der Grenze festgesetzt.

Angesichts des drohenden Krisenszenarios regen sich in den letzten Monaten wachsende Proteste gegen das Projekt. Nicht nur Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace und andere Nichtregierungsorganisationen, auch der Gouverneur des nordmexikanischen Bundesstaates Chihuahua, der Kongreß von Chihuahua und des angrenzenden Bundesstaates Coahuila, der Präsident der Umweltkommission des Senates der mexikanischen Bundesrepublik sowie einige Abgeordnete des US-Parlaments haben sich gegen den Bau des Endlagers ausgesprochen.

Anfangs schickte auch das mexikanische Außenministerium diplomatische Protestnoten nach Washington. Doch die Regierung ist wenig standhaft. Die zuständige Ministerin für Umwelt, Julia Carabias, ließ gegenüber der Presse verlautbaren, daß sich die Bundesregierung zum Projekt nicht äußern könne, weil man erst die Ergebnisse einer Studie abwarten müsse. Greenpeace hat allerdings das Ergebnis der geheimgehaltenen Studie bereits ermitteln können. Die mexikanische Bundesregierung wird zustimmen, was nicht weiter verwundert - die Studie basiert ausschließlich auf der Grundlage von Informationen der zukünftigen Betreiber des Endlagers.