Liberale Steinigungen

Irans zweite islamische Republik unter Khatami brachte nach hundert Tagen erste greifbare Ergebnisse - vor allem in Sachen Repression

Seit dem Amtsantritt von Präsident Khatami, der als Vertreter einer "liberalen" Mullah-Linie gehandelt wird, sind nun rund 100 Tage verstrichen. Wie Ayatollah Khamenei, der islamische "Führer" und "Vertreter Gottes" wiederholt betont hat, kann und darf sich am Wesen der islamischen Ordnung nichts verändern: "Manche glauben, die Epoche des Imam sei vorbei. Nein, die Personen wurden ausgetauscht, aber die Linie und der revolutionäre Weg bleiben dieselben." Die Gesellschaft hat sich bewegt, im iranischen Gottesstaat herrschen jedoch die Mullahs mit eiserner Hand.

Eine Bilanz der ersten 100 Amtstage von Khatami: Schon in den ersten Tagen seiner Herrschaft wurden der 70jährige Dr. Mohammad Assadi und Sijawosch Bajani hingerichtet. Dem ersten warfen die Geistlichen einen Putschversuch im Jahre 1981 vor, dem zweiten Spionage für die USA. Zolikha Kadkhoda wurde in einem Dorf, Kanie Rosh/Bukan, gesteinigt. Sie hatte "Ehebruch" begangen. Die iranische Geistlichkeit hat ein Strafgesetzbuch eingeführt, das sogar die Größe der Steine festlegt, die bei der Steinigung von sogenannten Ehebrechern benutzt werden. Auch Zolikha Kadkhoda wurde bis zur Brust in die Erde eingegraben. Nach dem Gesetz soll der Stein, der sie trifft, weder zu klein sein noch zu groß, damit die zum Tode Verurteilte auch die Strafe spürt. Die als "liberal" gefeierte Umweltbeauftragte - gleichzeitig eine der sechs Vizepräsidenten -, Massumeh Ebtekar, verharmloste in einem Interview (taz, 18./19. Oktober) die Rechtsprechung der Geistlichkeit, indem sie verlautbarte, Steinigen sei "nicht mehr die Norm". Tatsächlich ist das Gesetz zur Steinigung von Ehebrecherinnen in der "zweiten islamischen Republik" unter Khatami weiter in Kraft. Massumeh Ebtekar plädierte auch nicht für die Aufhebung dieses Gesetzes, sondern konterte mit Vorhaltungen über die "moralische Entartung" in Europa und den Verfall der Normen des Familienrechts.

Am 26. Oktober berichtete die im Iran legal erscheinende Zeitung Salam von weiteren drei Frauen und drei Männern, die in der Stadt Sari gesteinigt wurden. Das Berliner "Komitee zur Verteidigung von politischen Gefangenen im Iran" veröffentlichte ihre Namen: Fatane Danesch, Massumeje Eyni, Marzieh Fallah, Kheirollah Djavanmard, Ali Mochtarpur und Parvin Hassanzadeh. Trotz der erfolgreichen Karriere von Frau Ebtekar sollte auch nicht in Vergessenheit geraten, daß der Verschleierungszwang weiter ein Symbol der Entmündigung der iranischen Frau darstellt.

Die politischen Gefangenen, die aus der weitgehend zerschlagenen Arbeiterbewegung in der Ölindustrie - in der seit Jahresbeginn vermehrt Streiks aufflammten - in den letzten Monaten verhaftet wurden, befinden sich weiter im Gefängnis. Unter Khatamis Präsidentschaft wurden zudem zirka 20 Familienangehörige der verhafteten Ölarbeiter festgenommen. 36 ehemalige politische Gefangene wurden in den letzten Wochen erneut verhaftet. 64 Freunde und Verwandte der Gefangenen unternahmen in Teheran eine Protestaktion und wurden daraufhin in den Kerker geworfen. In den Gefängnissen wird weiterhin gefoltert, und Hungerstreiks, bei denen kurz vor der Präsidentschaft Khatamis zwei Menschen ums Leben kamen, gehören angesichts der überaus harten Haftbedingungen weiter zum Gefängnisalltag. Alle säkularen Parteien und Organisationen sind verboten. Nationale und religiöse Minderheiten werden weiter diskriminiert und verfolgt.

Am 14. August wurden Galeb Alizadeh und Amdjad Molaie in Suliemanieh im Irak durch iranische Killerkommandos aus den Reihen der Pasdaran (Revolutionswächter) hingerichtet. Sie waren aktive Mitglieder der "Demokratischen Partei Kurdistans Iran".

Die Wahl Khatamis wurde allgemein als eine Art Protestwahl gegen die alten "Hardliner" unter den Mullahs gewertet, für die stellvertretend Nadeq-Nuri, Khatamis Gegenkandidat bei den Präsidentschaftswahlen stand. Allein der Versuch, die sich nicht immer grünen Mullahs in liberal und fundamentalistisch einzuteilen, führt zur Fiktion der islamischen Demokratie. Unterschiedliche Mullah-Clans oder -Stämme, wie sie im Iran bezeichnet werden, mögen verschiedene Akzente in ihrer Politik setzen, aber ihr Konsens wird nicht nur über die Scharia und Figh, das islamische Recht definiert, sondern von totalitären staatlichen Organen geregelt.

Schon der zwölfköpfige Wächterrat, der zur Hälfte vom geistlichen "Führer" Khamenei bestimmt wird, hat entscheidenden Einfluß auf die Vorauswahl der Präsidentschaftskandidaten: Er muß ihre Kandidatur zunächst absegnen. Zudem hat er die Kompetenz, parlamentarisch beschlossene Gesetze auf Übereinstimmung mit Verfassung und islamischem Recht abzuklopfen und sie gegebenenfalls abzulehnen. Eine weitere staatliches Institution, das eine weit größere Macht besitzt als Präsident Khatami, ist das "Organ zur Erkennung der Interessen der Staatsordnung". Dieses Organ wird nicht von der Bevölkerung gewählt und findet noch nicht einmal in der Verfassung eine Erwähnung. Kurz vor der Wahl wurde es personell aufgestockt. Haschemi Rafsandjani, der frühere Präsident, wurde der Vorsitzende dieses Organs, dem Vertreter der islamischen Richter, des Wächterrates und einzelne Geistliche angehören - allesamt vom "Führer" Khamenei persönlich ausgewählt. Zu den Aufgaben dieser Institution gehören "die Bestimmung der allgemeinen Politik der Staatsordnung", "die Entscheidung über Krieg und Frieden" und "die Absetzung des Präsidenten". Die Mitglieder dieses Organs beeinflussen die Gesetzgebung des Parlaments und können de facto als außerparlamentarische Legislative bezeichnet werden. Während der Wächterrat als Sittenpolizei für die Einhaltung der islamischen Gesetzgebung zuständig ist, schreitet das "Organ zur Erkennung der Interessen der Staatsordnung" ein, wenn das "Parlament" es wagen sollte, vom vorgegebenen Kurs abzuweichen. Womit der Spielraum Khatamis institutionell ausreichend umrissen ist.

Während die sogenannten liberalen Mullahs stärker moderne Technologien und Marktöffnung befördern, wittern die "Radikalen" überall die Gefahr der "Verwestlichung". Gemeinsam schaffen sie aber sehr wohl die politischen Voraussetzungen für einen industriell runderneuerten, kulturell nach außen weithin abgeschotteten islamischen Staat. Dem stehen gewisse Bemühungen um internationale Anerkennung nicht entgegen. Denn einen wirtschaftlichen Alleingang kann sich die Islamische Republik nicht leisten. Schon Ayatollah Khomeini empfahl jedenfalls, mit dem "Teufel zu verhandeln", um die Interessen der nationalen Industrie durchzusetzen.