Die Weltverschwörung findet im Saale statt

OSZE-Menschenrechtskonferenz: Die Scientologen haben die Weltmacht Nummer eins instrumentalisiert und gegen Deutschland aufgehetzt

Deutschland ist das Land der Opfer, Deutschland selbst ist Opfer. Das ist nichts Neues für Deutsche. Ebensowenig wie das deutsche Bewußtsein, stellvertretend für die von Deutschen ideal repräsentierten - und von anderen sträflich vernachlässigten - Werte der Menschheit geopfert zu werden.

Deutschland, die "verfolgende Unschuld" (Tucholsky), ist bekanntlich gerade deshalb zum Opfer prädestiniert, weil seine Gegner die offene Auseinandersetzung scheuen und zum Mittel der Verschwörung greifen. Sah Deutschland sich in der ersten Hälfte des Jahrhunderts der "jüdischen Weltverschwörung" ausgesetzt und wurden seine Anstrengungen, sich dagegen zu verteidigen, ungerechterweise zum Nachteil Deutschlands ausgelegt, mußte es sich schließlich auch noch der "kommunistischen Infiltration" erwehren. Nachdem dies unversehens geglückt war und Deutschland sich der "Stasi-Krake", die bereits ein "Auschwitz der Seelen" (Jürgen Fuchs) angerichtet hatte, entledigen konnte, ist längst die nächste Verschwörung gegen Deutschland im Gange.

Auch diesmal soll das harmlose Land in der Mitte Europas nur der Anfang sein. Der hinterhältige Feind will das "Sprungbrett Deutschland" (taz) wieder einmal zur Erlangung der Weltherrschaft nutzen. Und diesem Ziel scheint die infame "Scientology Church" durch Instrumentalisierung der Weltmacht Nummer eins ein gutes Stück näher gerückt zu sein. Seit längerem wird in deutschen Medien darüber diskutiert, ob Scientologen nicht große Teile der US-amerikanischen Politik und Justiz bereits unterwandert haben.

"Amerika attackiert Deutschland" - offenbar nur unter Aufbietung größter Selbstbeherrschung vermochte es die FAZ, den Eklat vom 12. November in einen Einspalter zu zwängen. Auf der 3. Menschenrechtskonferenz der OSZE in Warschau hatte die US-amerikanische Delegation unerwartet schroff den Deutschen die Diskriminierung der Scientology-Anhänger vorgeworfen. Vorausgegangen war dem eine wenige Tage zuvor erfolgte Abstimmung im US-Repräsentantenhaus über die Behandlung von Scientologen und anderen religiösen Minderheiten in Deutschland. Ein Antrag zur Verurteilung der deutschen Praxis wurde zwar mit 308 gegen 101 Stimmen abgelehnt, dennoch steht die deutsche Hysterie in der US-amerikanischen Öffentlichkeit derzeit recht unideologisch nackt da.

In diesem Zusammenhang spielte auch das Asylersuchen einer deutschen Scientologin in Florida, dem bereits vor neun Monaten stattgegeben wurde, eine Rolle. Deutsche Stellen wollen davon erst "aus der Zeitung" erfahren haben. Die Scientologin gab bei ihrem Asylantrag unter anderem an, ihre Kinder seien wegen der religiösen Orientierung der Mutter von einer deutschen Schule geflogen. Der Sprecher der US-amerikanischen Delegation auf der Menschenrechtskonferenz knüpfte daran an. Er thematisierte die Berufsverbote für Scientologen im öffentlichen Dienst Bayerns und Baden-Württembergs und die Tatsache, daß "die großen politischen Parteien auf ähnliche Weise vorgingen, um Scientologen 'auszugrenzen'". Alles in allem war dies noch eine sehr generöse Kritik. Nicht erwähnt wurde die Praxis von deutschen Arbeits- und Gewerbeämtern, Sonderkarteien mit der Kennzeichnung "S" für "Scientologe" anzulegen und die öffentlichen Boykottaufrufe gegenüber Firmen, deren Inhaber im Verdacht der Scientology-Mitgliedschaft stehen.

Um keine Mißverständnisse über den deutsch-amerikanischen Dissens aufkommen zu lassen: Auch in den USA werden vom Mainstream abweichende religiöse Gruppierungen von der Staatsgewalt nicht verwöhnt. Im Gegenteil: Das Massaker an der Davidianer-Sekte im texanischen Waco 1993 ist da ein grauenhaftes Beispiel. Wie jedem Staat - als Souverän und Gewaltmonopolist auch der angemaßte Meister über die "religiöse Notdurft" (Marx) seiner Untertanen - ist auch dem US-amerikanischen der ideologische Eigensinn von nicht staatskirchlich Gläubigen suspekt.

Natürlich kann es aus Staatssicht nicht angehen, daß religiös motivierte Untertanen in staatspolitisch wichtigen Angelegenheiten eigensinnige Auffassungen bekunden und etwa die Erfüllung ihrer speziellen Bedürfnisse zur Voraussetzung ihres Mitmachens erklären. Erst im Juni dieses Jahres kassierte der Oberste Gerichtshof der USA deshalb ein vom Kongreß verabschiedetes Gesetz, das die Grenzen der Religionsfreiheit ausdehnen sollte und die staatliche Einflußnahme beschränkt hätte. Doch anders als hierzulande begnügt sich der US-Staat mit dem glaubhaften Bekenntnis der "Sekten" zu den Grundlagen der Herrschaft: Wer Kapitalismus und die vom Nationalstaat definierte Demokratie grundsätzlich bejaht, darf mitmachen.

Die Scientology-Kirche will nichts anderes. Wer sich einmal ihre Missionsbroschüren ansieht, findet dort nicht viel mehr als das, was er auch in den entsprechenden Veröffentlichungen des Bundesfamilienministeriums, der Staatskirchen und ökologischer bis autonomer Lebensreformer finden könnte: Der Mensch wird durch eine Reihe von Giften aus der (selbstverständlich durch Chemie) verdorbenen Umwelt an der Entfaltung seiner eigentlichen Leistungsfähigkeit gehindert. Hinzu kommt der quasi teuflische Einfluß von Drogen und Pornographie. Eine artgerechte Lebensführung, die immer Monogamie, Familie etc. einschließt, kann da aus Scientologensicht Abhilfe schaffen. Vor allem, wenn sie ständig von den scientology-spezifischen Therapiemitteln wie dem grotesken "Auditing", einer Art Beichte, die stark einem ritualisierten Verhör ähnelt, begleitet wird. Das mag dem auf der Höhe der Zeit sich Wähnenden absurd oder gar lächerlich erscheinen. Doch kriegt der ganz "normale" Mitmacher seine Entscheidungen fürs tägliche Dabeisein prinzipiell anders hin? Wohl kaum, eher dürfte er dem von der FAZ formulierten "Credo der Scientologen" voll und ganz zustimmen: "Mach Geld, mach mehr Geld, bringe andere Leute dazu zu produzieren, um Geld zu machen."

Nichts anderes meint die Rede vom "Standort Deutschland". Nur ist hier der Nutznießer ganz diesseitig und auf besondere Weise unideologisch bestimmt. Anders als in den USA glaubt der deutsche Staat nicht, daß das individuelle "Streben nach Glück" seiner Bürger notwendigerweise zur Stärkung einer Nation von Konkurrenten führen müsse. Hierzulande hat das Bekenntnis zur deutschen Sache am Anfang allen materiellen Strebens zu stehen. Selbst wenn die Scientologen dies ausdrücklich nachholen, wird es ihnen nichts nützen. Ihr Fehler, das US-amerikanische Verständnis vom allgemeinen Egoismus als Grundlage des materiellen Wohls der Nation angenommen zu haben, besiegelt ihr Scheitern in Deutschland.

Für Deutsche wird so wieder einmal staatliche Repression zum Ausdruck wirklicher Freiheit: In einem Interview mit der linkspatriotischen taz singt ein US-amerikanischer "Scientology-Aussteiger" auf seine Weise die aktuelle Version der deutschen Nationalhymne: "Es gibt derzeit mehr Freiheit in Deutschland als in den Vereinigten Staaten. Viele in den USA, die in meiner Situation sind, sind sehr froh über die Wachsamkeit, die dieser Organisation (Scientology; Red.) in Deutschland entgegengebracht wird."

Die Zeugenschaft solcher "Aussteiger" verweist freilich auf einen noch vorhandenen Unterschied zu den traditionellen deutschen Verschwörungstheorien. Noch steht nicht ein biologisch definiertes "Judentum" als Verursacher der Verschwörung im Zentrum deutscher Ermittlungen; Scientologen müssen nicht mit mehr als dem sozialen Ausschluß rechnen. Für manche kann sogar der einstige Eintritt in die dämonisierte Kirche zum Einstieg in soziale Anerkennung werden - wenn sie sich als Kronzeugen für eine deutsche Opferrolle zur Verfügung stellen.

Mit Berufsverboten und öffentlichen Boykottaufrufen begannen die Deutschen ihre Vernichtungspolitik 1933 ("Deutsche, wehrt EuchÖ"). Die Zugehörigkeit zur Scientology ist eine freiwillige und jederzeit zu beendende, insofern muß auch kein Scientologe die Aufforderung der "Sektenbeauftragten" des Berliner Senats zur "unaufgeregten Gegenwehr" (taz) als direkte physische Bedrohung interpretieren. Was seine Situation als Staatsbürger betrifft, ist das allerdings eine andere Sache. Noch einmal ganz anders sieht die Sache für radikale Linke aus. Diese stehen den obskuren marktwirtschafts-mystischen Bewältigungsstrategien der Scientologen zwar selbstverständlich verächtlich gegenüber, doch die nationale Formierung gegen diese Leute müßte sie in Alarmstimmung versetzen. Bisher schwiegen sie allerdings. Vielleicht wäre für sie eine Erinnerung an das in den siebziger Jahren häufig bemühte Zitat des durchaus fragwürdigen Pastors Martin Niemöller ganz nützlich. Es lautet ungefähr so: "Zuerst holten sie die Kommunisten.

Ich schwieg, denn ich war ja kein Kommunist. Dann holten sie die Juden. Ich schwieg, denn ich war ja kein Jude. Dann holten sie Ö, ich schwieg, denn ich war ja keinÖusw."

Eine ausführliche Analyse der deutschen Sektenparanoia und des Scientology-Syndroms hat der Autor in der Zeitschrift Bahamas (Nr. 24, 1997) veröffentlicht.