Erst das Land, dann die Partei

Keiner will beim Streit um Renten und Steuern als Blockierer dastehen

Zwei Zahlen hielten die bundesdeutsche Politik in der letzten Woche auf Trab: Die gegenüber Mai um insgesamt 39,7 Milliarden Mark nach unten korrigierten Steuerschätzungen für 1997 und 1998 und die schon in der vorvergangen Woche beschlossene Erhöhung des Rentenbeitrags auf 21 Prozent im Januar 1998.

Die Steuerschätzer mußten mit ihren jüngsten Zahlen zum fünften Mal in Folge die eigenen Prognosen um Milliardenbeträge nach unten korrigieren. Und beim Rentenbeitrag war noch im Sommer lediglich ein Anstieg auf 20,6 Prozent angekündigt worden. Mit den prognostischen Fähigkeiten der Fachleute scheint es nicht mehr weit her zu sein. Dabei sind die unmittelbaren Ursachen der Löcher in der Rentenkasse und im Staatshaushalt weitgehend unumstritten und auch schon länger bekannt. Die Gelder in den Rentenkassen bleiben vor allem wegen der anhaltenden Arbeitslosigkeit aus, aber auch wegen der niedrigeren Einkommen der Lohnabhängigen. Diese wurden unter anderem geschmälert durch das letztes Jahr von der Regierungskoalition durchgesetzte Lohnfortzahlungsgesetz: Wer bei Krankheit den Lohn gekürzt bekommt, zahlt auch weniger in die Rentenversicherung ein.

Die unerwarteten Steuerausfälle gehen nur zum kleineren Teil auf die höhere Arbeitslosigkeit zurück. Es sind vor allem die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten, die zu dem Einbruch führen. So nahm der Staat 1992 noch 41,5 Milliarden an veranlagter Einkommenssteuer ein. Für 1997 wird jetzt nur noch mit Einnahmen von fünf Milliarden aus dieser Steuer, die von Selbständigen und Freiberuflern gezahlt wird, gerechnet. Ganz nach der neoliberalen Ideologie, nach der Investitionen um jeden Preis erleichtert werden müssten, schuf die Regierung die Abschreibungsmöglichkeiten, vor allem für Projekte im Anschlußgebiet. Und wie gewünscht investierten die Besserverdienenden - und sparten Steuern. Um so eigenartiger klingt es, wenn jetzt Waigel und selbst die FDP über "Steuerschlupflöcher" klagen und die Steuerausfälle als Beweis für die Notwendigkeit ihrer Steuerreform anführen. Schließlich sollte dieses Gesetzeswerk gerade die Investoren von Steuern entlasten. Diese haben ihre Steuerentlastung inzwischen schon im Selbstbedienungsverfahren durchgesetzt. Daß der von der neoliberalen Propaganda versprochene Arbeitsplatzeffekt nicht eingetreten ist, kann die Regierung ihnen schlecht vorwerfen. Investiert wurde vor allem in Ost-Immobilien, Geld in Ost-Firmen zu pumpen, war vielen zu unsicher.

Finanzminister Waigel steckte die Steuerausfälle relativ locker weg. Schon am 12. November, als die Steuerschätzung offiziell bekannt gegeben wurde, konnte er mit Rückendeckung der Koalition ein Konzept präsentieren, mit dem die neuen Lücken im Bundeshaushalt zu schließen seien. "Waigel zaubert Maastricht-konformen Bundeshaushalt '98 aus dem Hut", meldete die PDS fast schon bewundernd, wies freilich gleichzeitig darauf hin, daß die "Ziffern auf Sand gebaut" seien. Waigel fand elegante Wege, seine Haushalte für 1997 und 1998 zu gestalten. Während die Koalition noch letztes Jahr mit einem "Katalog der Grausamkeiten" Sozialleistungen zusammenstrich, kommt sie ein Jahr vor der Wahl völlig ohne neue Kürzungen aus. Als Joker für dieses Jahr dient erneut der Erblastentilgungsfonds. Schon für die Soliabsenkung 1998 hatte die Regierung die Rückzahlung der in diesem Fonds geparkten DDR-Schulden gekürzt, jetzt werden auch 1997 sechs Milliarden weniger dieser Schulden getilgt. Außerdem entdeckte Waigel, daß durch die zunehmende Langzeitarbeitslosigkeit mehr Menschen vom Arbeitslosengeld in die Arbeitslosenhilfe rutschen: Schon wieder vier Milliarden gespart. Die Lücke für 1998 soll vor allem durch den Verkauf von Telekom-Aktien geschlossen werden. Außerdem kommen noch kleinere Finanztricks zum Einsatz wie der Verkauf der Bundesanteile an der Deutschen Ausgleichsbank an die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau oder der Umtausch langfristiger Anleihen mit hohen Schuldzinsen gegen kurzfristige Bankenkredite.

Die Devise lautet: keine spürbaren Kürzungen vor der Wahl. Deshalb wollte die Union insgesamt und besonders die CSU keine Rentenkürzung, sondern nimmt statt dessen lieber den Anstieg der Rentenbeiträge auf 21 Prozent im Januar 1998 in Kauf. So weit, so klar. Doch die politische Inszenierung verlangte mehr. "Reformstau" ist schon seit längerem die Lieblingsvokabel vieler Kommentatoren, wenn sie Regierung und Opposition auffordern wollen, von Parteiengezänk abzusehen und gemeinsam konstruktive Lösungen für "die Bürger" zu finden. Populist Gerhard Schröder griff diesen Diskurs auf und spitzte noch weiter zu: "Für mich galt und gilt der Wahlspruch: Erst das Land, dann die Partei", erklärte er bei seiner Antrittsrede als Bundesratspräsident am 7. November und bot der Regierung Verhandlungen zur Abwendung der 21 Prozent an.

Es wird zwar kaum zu einer Einigung kommen, entsprechende Gesetze ließen sich auch kaum mehr rechtzeitig verabschieden. Aber Schröder gab das Signal, und seither bemühen sich alle Parteien um den Anschein der Kompromißfähigkeit - keiner möchte bei der nationalen Konsenssuche als schlechter Patriot dastehen. Ein hektische Abfolge von Kompromißangeboten begann. Schröder schlug die Anhebung der Mehrwertsteuer zur Stabilisierung des Rentenbeitrags vor, sprach sich aber gegen eine höhere Mineralölsteuer aus. Gegen eine Mineralölsteuererhöhung war auch Edmund Stoiber (CSU), der aber eine Einigung mit der SPD für möglich hielt. Die FDP wiederum wollte einer Mehrwertsteuererhöhung zustimmen, aber nur, wenn mit der Rentenreform, das heißt einer Rentenabsenkung, schon 1998 begonnen werde. Alle waren sich einig: ein Rekord-Rentenbeitrag von 21 Prozent sei "nicht akzeptabel" (Kohl). Rudolf Scharping griff einen alten Vorschlag von Wolfgang Schäuble auf und forderte eine Erhöhung der Mineralölsteuer. Auch Waigel erklärte, man dürfe eine Mineralölsteuererhöhung "nicht völlig tabuisieren". CDU und FDP einigten sich auf den Vorschlag, die Rentenkürzungen auf 1998 vorzuziehen, sehr zum Ärger der CSU. Am 12. November, nach der Vorstellung der Steuerschätzung, ging dann Waigel in die Offensive und bot der SPD nun auch Gespräche über eine Steuerreform an. Doch Lafontaine war das Verhandlungsangebot zu unkonkret: "Wir brauchen ein sachliches Angebot und wollen keine weiteren Show-Veranstaltungen." Diesmal gab sich FDP-Fraktionschef Solms versöhnlich: Auch die FDP wisse, daß ein Kompromiß nicht darin bestehen könne, das Konzept der Koalition in vollem Umfang durchzusetzen.

Zu wirklich ungewohnten Konstellation aber führten die Bemühungen um die Abwendung des 21-Prozent-Übels nicht in der Parteipolitik, sondern bei den "Tarifpartnern": Gemeinsam schrieben die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der Deutsche Gewerkschaftsbund (DBG) und die Deutsche Angestellten Gewerkschaft (DAG) einen Brief an die Politik. Darin forderten sie eine Mehrwertsteuer-Erhöhung, um den Anstieg der Rentenbeiträge auf 21 Prozent zu verhindern. Und handelten sich prompt einen Rüffel vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ein. BDI-Chef Hans-Olaf Henkel warf dem BDA-Präsidenten vor, hinter dem Rücken der anderen Wirtschaftsverbände gemeinsame Sache mit den Gewerkschaften zu machen. Ohne Not rede das deutsche Tarifkartell einer Mehrwertsteuer-Erhöhung das Wort, schimpfte Henkel. Statt dessen solle die Rentenreform vorgezogen und schleunigst eine Steuerreform in Angriff genommen werden.