Intifada in Brüssel

Nachdem ein angeblicher Drogendealer von der Polizei erschossen wurde, kam es zu tagelangen Krawallen

Eigentlich, so waren die Belgier bis zum vorletzten Wochenende überzeugt, gibt es in ihrer Gesellschaft kein Ausländerproblem. Hatte man nicht auf die Ermordung der kleinen Marokkanerin Loubna Bena•ssa ebenso entsetzt und mit Demonstrationen reagiert wie auf den Tod der beiden Belgierinnen Ann und Eefje? Am vorletzten Freitag jedoch hatten Anderlechter Polizeibeamte auf den 24jährigen Said Charki geschossen, den sie verdächtigten, mit Drogen zu handeln, und der sich seiner Festnahme durch Flucht entzogen hatte. Charki starb, sein Tod wurde von jungen Migranten als "bewußte Exekution" gewertet, es kam zu drei Tage andauernden Straßenschlachten in verschiedenen Brüsseler Stadtteilen. "Maskierte Teenager warfen mit Steinen nach allem, was Uniform trug", berichtete De Standaard über "die heimische Intifada", an der sich mehrere tausend Jugendliche beteiligten.

Johan Vande Lanotte, der belgische Innenminister, bewertete die Krawalle schon kurz nach ihrem Ausbruch als "nicht gegen Rassismus gerichtet", sondern eher aus purer Zerstörungswut resultierend, angeführt von "Drogenhändlern, die wütend sind, weil sie seit Oktober von der Polizei viel härter angefaßt werden." Houssein Boukhriss vom Zentrum für Chancengleichheit und Rassismusbekämpfung sprach hingegen ausdrücklich von einer "sozialen Revolte" und warnte davor, "alle Beteiligten über einen Kamm zu scheren". Die belgische Polizei reagierte auf die Äußerungen Vande Lottes mit scharfen Ausweiskontrollen. Systematisch durchsuchte sie vermutete Treffpunkte ausländischer Jugendlicher, Bars, Cafés, Imbißbuden, wer keine Papiere bei sich hatte oder sich "agressiv verhielt", wurde sofort festgenommen und für 24 Stunden in Gewahrsam genommen - am Sonntagabend wurden innerhalb weniger Stunden mehr als 100 Jugendliche verhaftet.

"Nichts ist schlimmer als das 'No-riots,-no-problems'-Syndrom, mit dem die Illusion genährt wird, daß die Integration von Migranten problemlos verläuft", schrieb der Journalist Gudo Fonteyn einige Tage nach den Krawallen von Anderlecht und erinnerte daran, daß das britische Innenministerium erst nach schweren Krawallen 1990 auf verschiedene rassistische Vorfälle bei der Polizei reagierte und Rassismus unter Strafe stellte. Johan Leman, Vorsitzender des Zentrums für Chancengleichheit und Rassismusbekämpfung, fordert ebenfalls ein Anti-Diskriminierungsgesetz.

Davon war man zu Beginn der letzten Woche noch weit entfernt. Vander Lanotte erhielt im Parlament Beifall für sein kompromißloses Handeln, er nannte Said Charki, der nach Polizeiangaben 50 Gramm Heroin bei sich trug, "jemanden, der kein Krümeldieb war, er war im kriminellen Millieu eine sehr bekannte Figur". Trotzdem, so mußte auch er einräumen, "hat die Polizei nicht das Recht, einfach so Leute umzuschießen".

Die belgische Polizei, so ergab kürzlich eine Studie, neigt in den letzten Jahren immer stärker zum Schußwaffengebrauch. Wurde 1994 vierzehn Mal zur Pistole gegriffen, so geschah dies 1996 schon in 62 Fällen. Rassistische Gründe für das Ziehen der Waffe wurden offiziell nicht genannt, "in den meisten Fällen wollten die Beamten Warnschüsse abgeben". Im Fall Charki gaben dies auch die beteiligten Polizisten an.

Vor dem Gemeindehaus von Anderlecht demonstrierten vor einer Woche mehrere hundert Mütter von jugendlichen Migranten für die Gleichstellung ihrer Kinder. Die, wie immer häufiger gefordert, auch gesetzlich zu verankern, weigerte sich der Innenminister jedoch zunächst: "Es geht doch wohl nicht an, daß Gesetzesbeschlüsse in diesem Land durch Zwischenfälle ausgelöst werden. Wir wissen jedoch, daß in Sachen Integration etwas getan werden muß, und wir haben auch schon klare Vorstellungen darüber."

Eine Einstellung, die sogar Polizeichef Paul Jacobs teilt. Er sieht die Krawalle hauptsächlich im "wirtschaftlichen Elend der Jugendlichen" begründet, die im armen Belgien keine Lehrstelle finden und kaum Chancen auf regelmäßige Verdienstmöglichkeiten haben.

Die Stadt Brüssel wird im nächsten Jahr sechs Milliarden Francs Bundesunterstützung erhalten, damit sollen zahlreiche Projekte für ausländische Jugendliche unterstützt werden.