Mörder sind Rentner

Mit Rentenentzug für NS-Kriegsverbrecher will die BRD zeigen, daß sie die Vergangenheit bewältigt hat. Die Opfer warten weiter auf Entschädigung

Wolfgang Lehnigk-Emden ist ein verurteilter Massenmörder. Als Leutnant der Wehrmacht tötete er am 13. Oktober 1943 nahe der italienischen Kleinstadt Caiazzo, 80 Kilometer nördlich von Napoli, zusammen mit den Soldaten, die ihm unterstellt waren, 22 Zivilisten. Die Deutschen benutzten Handgranaten, Bajonette und Maschinengewehre. Unter den Opfern waren eine schwangere Frau und neun Kinder, das jüngste davon ein dreijähriges Mädchen. Der damals 20jährige Lehnigk-Emden, der die Aktion geleitet hatte, wurde 24 Stunden danach von den vorrückenden US-Truppen identifiziert. Wenig später kam er in alliierte Kriegsgefangenschaft und wurde in ein Lager in Algerien verlegt. Bei einem Fluchtversuch wurde er angeschossen; seitdem ist er gehbehindert. Im Oktober 1994 verurteilte ihn das Gericht von Santa Maria Capua Vetere zu einer lebenslangen Haftstrafe wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit.

Wolfgang Lehnigk-Emden ist ein Kriegsopfer. Nach der Gründung der Bundesrepublik konnte er, der nur wegen eines Irrtums aus britischer Kriegsgefangenschaft freigekommen war, sich eine respektable bürgerliche Existenz in dem Eifel-Ort Ochtendung aufbauen. Er arbeitete als Architekt, trat der SPD bei, die er auch im Gemeinderat vertrat. Er rückte in die Spitze der örtlichen Nomenklatura auf und wurde sogar Präsident der Großen Ochtendunger Karnevalsgesellschaft. Ein Zubrot von 708 Mark monatlich brachte ihm die Verletzung ein, die er sich bei dem Fluchtversuch zugezogen hatte: Wolfgang Lehnigk-Emden, der Massenmörder, hat sich als Kriegsopfer eine Rente nach

dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) redlich verdient.

Nach bundesdeutschem Recht kann der heute 74jährige nicht mehr verurteilt werden. Das entschied der Bundesgerichtshof am 1. März 1995 - ein halbes Jahr nach dem italienischen Schuldspruch. In Italien wurde das Urteil als Skandal empfunden. Doch nun sieht es so aus, als ob Lehnigk-Emden wenigstens seine Rente verlieren könnte. Und daran ist wieder der Bundesgerichtshof schuld: Als einige Redakteure der WDR-Sendung Monitor im Zusammenhang mit dem Verfahren Lehnigk-Emdens Einkommensverhältnisse recherchierten, stießen sie auf jene 708 Mark, die das Versorgungsamt monatlich überwies. Sie gingen der Sache nach und stellten fest, daß alles seine Ordnung hatte: Nach dem BVG hat Anspruch auf Versorgungsleistungen, wer gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schaden genommen hat durch "eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung", Unfälle während dieses Dienstes, Kriegsgefangenschaft oder Gewaltakte von Angehörigen der Besatzungsmächte. Daß die Angehörigen von Lehnigk-Emdens Opfern nach dem Gesetz nicht anspruchsberechtigt sind, ergibt sich daraus ebenso selbstverständlich.

Paragraph 64 des BVG bestimmt zwar, daß Versorgungszahlungen gestrichen werden können, wenn durch die Gewährung "Belange der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt" würden. Damit haben die Versorgungsämter bislang argumentiert, wenn ein Weltkriegsveteran offensichtlich Kriegsverbrecher war. Doch die Ausschlußklausel gilt - Deutsche waren nun einmal nach deutschem Verständnis in erster Linie Opfer - nur für ausländische oder im Ausland lebende Angehörige von Einheiten, die der Wehrmachtsführung unterstellt waren. Die wesentlich zahlreicheren deutschen Kriegsverbrecher erhielten bislang prinzipiell weiter ihre Renten. Der Historiker Gerhard Schreiber vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr schätzt, daß unter den knapp 1,1 Millionen Empfängern von Kriegsopferrenten rund 50 000 Kriegsverbrecher sind.

Doch aller Voraussicht nach wird der Großteil von ihnen seine Rente behalten, auch wenn die am 13. November mit Stimmen aus allen Bundestagsfraktionen beschlossene und wenig verbindliche Willensbekundung wie angekündigt irgendwann Gesetz werden sollte. Auch bei ausländischen Rentenempfängern, bei denen es diese Möglichkeit schon bisher ohne weiteres gegeben hätte, wurde bislang von einer Unschuldsvermutung ausgegangen, selbst wenn sie sich freiwillig etwa zur Waffen-SS gemeldet hatten. Das Versorgungsrecht - argumentierte vor allem die SPD, die solche Skrupel im Zusammenhang mit DDR-Funktionären kaum hatte - dürfe nicht zu einem Ersatz fürs Strafrecht verkommen. Erst einen Tag vor der Abstimmung ließen sich die Sozialdemokraten im Rechtsausschuß des Bundestags dazu breitschlagen, sich dem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, FDP und Bündnis 90 / Die Grünen anzuschließen, dessen Tenor ist, es sei "nicht länger hinnehmbar", NS-Tätern Opferrenten zu bezahlen.

Hat die Regierungskoalition nun den Antifaschismus als Geschütz gegen die Sozialdemokratie entdeckt? Das dürfte kaum der Fall sein: Der nun verabschiedete Antrag zum Leistungsentzug für Kriegsverbrecher geht auf einen Vorstoß der Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble (CDU) und Hermann-Otto Solms (FDP) sowie des CSU-Landesgruppenchefs Michael Glos vom 25. Februar dieses Jahres zurück. Gut zwei Wochen später - am 13. März - setzten die drei Herren ihre Namen unter einen neuen Antrag, dessen Kernpunkt die Ablehnung einer "einseitigen und pauschalen Verurteilung" früherer Wehrmachtssoldaten war. "Teile der Wehrmacht", hieß es, hätten zwar Verbrechen begangen, für die Mehrzahl der Soldaten seien solche Vorwürfe aber "unbegründet". Am 1. März hatten in München 5 000 Neonazis "für die Ehre unserer Väter und Großväter" und gegen jene Ausstellung demonstriert, die die Kriegsverbrechen der Wehrmacht zum Gegenstand hatte.

Seinem eigenen Anspruch wird der Antrag ohnehin nicht gerecht werden. Wer "während der Herrschaft des Nationalsozialismus gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen" hat, so heißt es dort, soll vom Leistungsbezug ausgenommen werden. Das wäre, sollte die Formulierung ernst genommen werden, ein für bundesdeutsche Verhältnisse außerordentlich weit gefaßter Personenkreis; mit Sicherheit mehr als die von Schreiber geschätzten 50 000 Kriegsverbrecher. Doch wie bei den ausländischen Tätern soll die freiwillige Zugehörigkeit zu verbrecherischen Vereinigungen wie der Waffen-SS noch kein Grund für den Leistungsentzug sein; ein entsprechender Entwurf der Bündnisgrünen fand keine Mehrheit. Immerhin soll nun der entsprechende Personenkreis besonders aufmerksam geprüft werden. Doch diese Überprüfungen brauchen Zeit, in den zuständigen Behörden - nämlich den Versorgungsämtern - gibt es kaum Historiker-Personal, das die Überprüfungen vornehmen könnte. Der größte Teil der potentiellen Kriegsverbrecher hat seine biologische Lebenserwartung ohnehin schon überschritten, so daß sich das Problem im Laufe weniger Jahre von selbst lösen wird - auf dieselbe Weise, in der sich auch das Problem der osteuropäischen NS-Opfer selbst löst.