Salut für Lubitsch

Vor 50 Jahren starb Ernst Lubitsch, der Meister des Andeutens und Auslassens

Um gleich zu Beginn einige populäre Irrtümer auszuräumen: Nein, er ist nicht vor den Nazis emigriert, sondern bereits 1922 in die USA gegangen; nein, er hat sich seither nicht mehr als deutscher, sondern als amerikanischer Regisseur verstanden; und nein, er hat mit dem "Lubitsch-Preis" nichts, wirklich nichts zu tun - so wenig wie die Preisträger, Sönke Wortmann z. B. oder gar Katja v. Garnier, mit ihm. Was ansonsten über ihn bekannt ist, stimmt halbwegs: Ja, er war ein Genie; ja, er war Jude (nach der Nürnberger Diktion); und ja, der "Lubitsch-Touch" hatte u. a. was mit Frivolität zu tun. Dann und wann trifft man sogar jemanden, der mal einen seiner Filme gesehen hat bzw. jemanden kennt, welcher.

Der Gemeinde seiner Bewunderer neue Mitglieder zuzuführen, wäre derzeit gute Gelegenheit. Ernst Lubitsch, am 28.1.1892 in Berlin geboren, starb am 30.11.1947 in Hollywood; aber sein 50. Todestag in dieser Woche wird von den Fernsehkanaillen, die ihm dauernd seine Zaubertricks zu klauen versuchen und sich dabei dauernd blamieren, genauso begangen, wie man es von ihnen erwarten darf, nämlich gar nicht. Einst, als sie ihn und seinen Ruf als Meister des "Schlüpfrigen" noch nötig hatten, um sich über die Verklemmtheit ihrer Fernsehräte hinwegzuretten, haben sie mehreren seiner Filme - mit drei bis vier Jahrzehnten Verspätung - zu deutschen Erstaufführungen verholfen. Heute, da das Fernsehen Sex in eine Angelegenheit verwandelt hat, die man eher meidet, weil einem dabei evtl. Beiträge aus "liebe sünde" einfallen könnten oder die Stimme von Verona Feldbusch, haben seine Stücke allenfalls noch im spätesten Nachtprogramm einen Platz.

Lubitschs Filme sind mit Erotik aufgeladen wie die Katze auf dem Velours mit Elektrizität - aber es weiß ja kaum einer mehr, was das mal bedeutet hat, Erotik. Daß es einmal Zeiten gab, in denen es aufregender war, um den heißen Brei herumzureden als ihn zu löffeln, in denen die verschlossene Tür erregender war als der Blick durchs Schlüsselloch, daran erinnert Lubitsch fortwährend. Das macht ihn so unbrauchbar fürs Fernsehen der späten Neunziger. Seine Filme stehen ein für Stil und Witz, in jeder Stellung. Das macht ihn zum Erzfeind des akuten Fernsehprogramms.

Lubitschs "Lektion in Kino" (Enno Patalas) liegt in seiner unübertroffenen Kunst des Auslassens. Eine Ehefrau betrügt ihren - ahnungslosen - Gatten mit dessen altem Kriegskameraden ("Angel"); die drei essen gemeinsam zu Abend, eine äußerst peinliche Situation - die wir nicht zu sehen bekommen. Statt dessen sehen wir die Teller, die von den Lakaien eingeholt werden: Ihrer ist unberührt; auf dem ihres Liebhabers liegt das Bratenstück ungegessen, doch in hundert Schnitzel zerlegt. Restlos blankgeleckt aber kommt der Teller des Gehörnten zurück. "Die meisten Filmemacher rechnen dem Publikum vor: 2 + 2 = 4. Lubitsch sagt 2 + 2 - und läßt das Publikum die Summe selber ziehen." (Billy Wilder)

"Im Emmentaler Lubitsch", schrieb sein Bewunderer Fran ç ois Truffaut, "ist jedes Loch genial". Die Metapher tut etwas weh, aber recht hat Truffaut vollauf. Es sind gerade die Löcher, Auslassungen, Ellipsen, von denen das Werk Ernst Lubitschs lebt. Das Hays-Office, die allmächtige Selbstkontrolle Hollywoods in den dreißiger Jahren, mußte davor kapitulieren. Man kann nicht verbieten, was ausdrücklich nicht ausgesprochen, was vielsagend verschwiegen wird. Die Kino-Lektion, die Ernst Lubitsch erteilt hat, war eine über die Sensation in effigie, das Ereignis, das nicht zu sehen ist. "Türen! Ihn interessieren nur die Türen!" klagte entnervt der größte weibliche Star des Stummfilms, Mary Pickford - nachdem sie ihn über den Atlantik gelotst und als ihren neuen Image-Verwalter inthronisiert hatte; die Zusammenarbeit war damit beendet, was freilich weniger Lubitsch als der Pickford geschadet hat.

Die Lubitsch-Kamera bewegt sich in der Regel unauffällig, in Augenhöhe - es gebe "tausend Möglichkeiten, den Fokus auszurichten", bemerkte er gelegentlich, "aber in Wahrheit gibt es nur eine". Bloß keine Mätzchen: "Es ist", sagte er einmal über den neuen Film eines Kollegen, "eine brillante Tour de force. Aber bringt es das Kino weiter?" Seine höchsteigene Extravaganz, das Hauptmerkmal seines visuellen Stils war unauffällig, bescheiden, ohne Knalleffekt: Die Großaufnahme von Möbelstücken. "Ärger im Paradies" (1932), einer seiner makellosesten Filme, beschreibt eine Affäre allein anhand von Nachttischuhren. "Die Zeit schreitet voran, ein wenig Dialog aus dem Off. Eine Verabredung zum Essen, Telefonklingeln, keiner nimmt ab, dann Lachen und zärtliche Stimmen, eine leergetrunkene Flasche Champagner neben der nächsten Uhr gegen Mitternacht, wieder Lachen" (Josef Schnelle) - und obwohl nie etwas anderes zu sehen ist als kleine Wecker in Großaufnahme, auf denen die losen Stunden im Zeitraffer vergehen, würde nur ein ganz reiner Tor nicht kapieren, was in den Betten neben den Weckern geschieht.

Die unvergleichliche Eleganz der Lubitsch-Filme, ihr Witz und Glamour sind das Resultat einer langen Gesellenzeit. 1911 nimmt Max Reinhardt den mißratenen Sohn eines Schneidermeisters ins Ensemble des Deutschen Theaters Berlin auf. Zwei Jahre später spielt Lubitsch zum ersten Mal vor einer Filmkamera und avanciert mit "Schuhpalast Pinkus" zum beliebtesten Slapstickkomiker des Reichs. Schon 1914 wird er auch als Regisseur und Autor aktiv; bis zum Ende des Ersten Weltkriegs realisiert er 24 eher derbe Komödien für die Ufa. Er wird der Hausregisseur Pola Negris: "Madame Dubarry" (1919) markiert seinen ersten Versuch im historischen Melodram und wird der Film, der die Negri als einen der größten Stummfilmstars der Ufa etabliert.

"Die Austernprinzessin", eine Groteske, die im selben Jahr entstand, ist bereits lupenreiner Lubitsch. Die gelungenste Szene hat er selbst nacherzählt: "Ein armer Mann muß in der riesigen Eingangshalle eines Multimillionärs warten. Der Parkettboden zeigt ein kompliziertes Muster. Um seine Ungeduld und seine Erniedrigung nach Stunden vergeblichen Wartens zu überwinden, beginnt der Arme, die Linien dieses sehr vertrackten Musters nachzugehen. Es ist sehr schwer, die Nuancen zu beschreiben, aber es war das erste Mal, daß für mich die Komödie in die Satire umschlug." Es ist nicht nur schwer, sondern unmöglich, diese grandiose Pantomime adäquat zu beschreiben. (Einer ihrer größten Bewunderer dürfte übrigens Samuel Beckett gewesen sein: Sein Kurzfilm "Quadrat I + II" ist eine deutliche Hommage an die "Austernprinzessin".)

Der Tonfilm befreit Lubitschs Genie vollends. Er läßt den Soundtrack völlig eigenständig werden (jene Wecker-Sequenz in "Ärger im Paradies") und gibt seinen Figuren Sätze zu sprechen, deren Komik auch nach einem halben Jahrhundert kein bißchen Moos angesetzt hat. Gary Cooper will in "Blaubarts 8. Frau" seine Gattin zum Sex überreden: "Sei doch nur ein einziges Mal vernünftig - ich meine: unvernünftig." Margaret Sullavan in "Rendezvous nach Ladenschluß": "Wie war's denn zum Beispiel bei Völdesz Brüder & Söhne? Nun, die Söhne waren nett. Aber die Brüder ..." Greta Garbo (als Parteikommissarin) in "Ninotschka": "Die Schauprozesse sind ein großer Erfolg. Es wird danach zwar weniger, aber bessere Russen geben." Sig Ruman (als Gruppenführer Erhardt) in "Sein oder Nichtsein": "Was Josef Tura mit Shakespeare gemacht hat, das machen wir heute mit Polen."

"Sein oder Nichtsein" (1942) ist Lubitschs erstaunlichstes und komischstes Stück. Raffinierter wurde noch kein Drehbuch konstruiert, komplexer und atemberaubender noch keine Filmburleske inszeniert. Es ist dem Stück, das im besetzten Warschau von 1939 spielt, immer wieder vorgeworfen worden, die Nazis zu verharmlosen, indem es sie lächerlich macht. Das Gegenteil stimmt. Daß die Mörder Mörder sind, bestreitet der Film in keiner Szene: Wir sehen die Folgen des Wehrmachtsterrors, hören ständig von Erschießungen und Deportationen, und daß die Helden des Films, eine Schauspielertruppe, buchstäblich um ihr Leben spielen, wenn sie die Besatzer narren, gerät nie außer Acht. Schon 1942 weiß der Film - in dem die Deutschen ausschließlich als gemeingefährliche Idioten oder demagogische Verräter vorkommen -, was sie selber bis heute nicht wahrhaben wollen: Daß sie alle mitgemacht haben, und zwar ohne Bedenken. "Springen Sie", befiehlt im Fluchtflugzeug der als Hitler maskierte Schauspieler Bronski den beiden Piloten, und sie springen augenblicks.

Während der Dreharbeiten zu seinem letzten Film, "Die Frau im Hermelin", starb der passionierte Zigarrenraucher an einem Herzinfarkt. "Kein Lubitsch mehr", stellte einer seiner begabtesten Schüler, der Drehbuchautor Charles Brackett, nach der Beerdigung schmerzvoll fest. Der legitime Erbe des Meisters, Billy Wilder, erwiderte: "Noch schlimmer - keine Lubitsch-Filme mehr."