Politik der Bilder

Michael Diers kommentiert die politische Ikonographie der Gegenwart

Damit die bürgerliche Wissenschaft an der bürgerlichen Ordnung nicht verzweifelt, zerlegt sie sich die Welt in Segmente. Dabei kommt - im universitären Bereich - eine Vielzahl von Fachrichtungen heraus; wer mehr das Ganze im Blick hat, entdeckt lauter "Sphären" (altmodisch) oder "Systeme" (modern) mit eigenen Gesetzen: die Gesellschaft, den Staat, die Wirtschaft, das Rechtswesen undsoweiter. Diese Halluzination muß teilen, wer heute Professor an einer deutschen Hochschule werden will.

Diese Halluzination ist zugleich die Grundlage für jene "interdisziplinäre Forschung", die akademische Fachvertretung seit zehn, fünfzehn Jahren verstärkt fordern und fördern. In den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften war dies ein Reflex auf die uneingestandene Tatsache, daß ein neues Gesetz nicht nur das Rechtswesen komplettiert, sondern - zum Beispiel - unmittelbaren Einfluß auf die Verteilung von Armut und Reichtum heben kann.

Michael Diers ist Professor für Kunstgeschichte an der Universität Jena und hat jüngst seine Untersuchung "Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart" vorgelegt. In Teilen ein treffliches Exempel für die Phraseologie, die entstehen kann, wenn sich der Blick über die Fachgrenzen am Vorrat bereits bestehender Platitüden orientiert.

Eine am Tag des Eintritts der DDR in die BRD veröffentlichte Benetton-Werbung zeigt eine dichtgedrängte Schafherde unter leicht bewölktem Sommerhimmel. Am Horizont eine Bildtafel, auf der ein schwarzes Jungschaf und ein weißer Wolfshund einander liebevoll beschnuppern. Hierzu schreibt Diers: "Im Reich der Waren regiert der Produzent, seine Herolde ziehen übers Land und rühren, immer auf der Suche nach offenen Ohren für ihre Botschaft beim Volk der Verbraucher, eifrig die Werbetrommel. Nach außen hin, dem veröffentlichten Selbstverständnis nach, ist das weite Feld des Marktes nicht das der Politik, aber über ein Wirtschaftsverständnis, das auf Einfluß, Absatz und folglich Expansion drängt (...), kommt es nicht selten, bisweilen auch unfreiwillig, zu Verschränkungen. Dann wird aus Reklame wieder, was sie vormals, unter altem Namen, einmal war, nämlich Propaganda."

Das ist köstlich: Ausgerechnet der wissenschaftliche Propagandist bürgerlicher Vorurteile adressiert Vorbehalte an Kollegen aus der Nachbarbranche, die weiter nichts tun, als ihren Job offen zu betreiben und die bürgerlichen Vorurteile - etwas eigenwillig - zu bestätigen.

Über jene Benettonanzeige, die unmittelbar nach dem Golfkrieg erschien und das Gräberfeld eines Soldatenfriedhofes zeigt, schreibt Diers, sie belege "den unbedingten, bis hin zur Tabuverletzung reichenden Anspruch auf Mitsprache des Unternehmens in 'rebus publicis'. (...) Benetton geht gewissermaßen 'über Leichen'". Ja, aber in einem anderen Sinn: Benetton-Anzeigen ignoriert die phantasierte Trennung von Geschäft und Moral, ein Vorgang, der nicht nur in den Feuilletons kulturpessimistische Empörung auslöste, sondern auch einem Professor für Kunstgeschichte ganz sinnlose Sätze entlocken kann: "Ihre Botschaft ist das offen politisierte Medium der Werbeanzeige (...)."

Auch in seiner "Real-" und "Symbolgeschichte" der Berliner Mauer mag Diers nicht auf den Hinweis verzichten, daß er auf der Höhe der Totalitarismustheorien ist: "Daß die üblicherweise nach außen, gegen den anstürmenden Feind gerichtete Escarpe des Berliner Bollwerks nach innen, gegen die 'Republikflüchtlinge' im eigenen Land gerichtet war, hat geholfen, über das als antifaschistisch propagierte, tatsächlich vielmehr terroristische, terrorisierende Bauwerk eines repressiven Regimes hinwegzusehen." Diese verspätete Kampfansage an die DDR kontrastiert merkwürdig mit jenen Passagen, in denen der Autor dezidiert beschreibt, wie die Mauer seit dem Tag ihrer Errichtung im Westen "zur Metapher für Einsperrung, Abriegelung und für das verantwortliche politische System insgesamt" avancierte.

Wo es um aktuelle Fragestellungen geht, mindert so die fehlende Distanz zu politisch und moralisch dominierenden Prämissen den Wert der Untersuchung. Kritik bleibt entweder immanent, oder sie duckt sich ganz professoral hinter anderen Kritikern - etwa, wenn Diers über die Installation von Kollwitz' Pietˆ-Nachbildung in der Berliner Neuen Wache vage andeutet: "Die andere Frage, warum die Errichtung so zügig und vorbei an aller Mitsprache der Öffentlichkeit und der Ausschreibung eines Wettbewerbs geschehen müsse, blieb hingegen unbeantwortet."

Mit Spaß lesen kann man dagegen jene Aufsätze, die sich - jenseits aktueller politischer Debatten - mit Trivialdenkmälern oder mit Ikonen der Pressefotografie beschäftigen. Dieser Widerspruch entspringt wohl auch methodischer Inkonsequenz: Einmal will Diers in Abgrenzung zu "diskursiver Kommunikation und kritischem Diskurs" den "genuinen Beitrag der Bilder zur Weltdarstellung" erfassen, dann "die Frage nach der Funktion von Bildern in politischen Zusammenhängen und nach den politischen Formen symbolischer Praxis" beantworten. Beides gleichzeitig geht nicht, ersteres kann als kunsthistorische Fachwissenschaft Gewinn bringen, das letztere muß man anders machen.

Michael Diers: Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart. Fischer, Frankfurt/M. 1997, 242 S., DM 24,90