»Alles wird gut«

Israels Außenminister tritt zurück, Armut wird zum Massenphänomen, und das Land steckt in einer tiefen Krise

Die aktuelle Regierungskrise in Israel, die mit dem Rücktritt von Außenminister David Levy am vergangenen Sonntag ihren vorläufigen Höhepunkt fand, kam nur wenige Wochen, nachdem die Netanjahu-Regierung ihre wirtschaftlichen Erfolge verkündet hatte. Mitte November erkärte man noch recht stolz, die Armut sei zurückgegangen. 1996 seien 44 000 Israelis weniger unter die Armutsgrenze gerutscht als im Vorjahr, als das Land noch von der Linkskoalition regiert wurde.

Diese Erfolgsnachricht war allerdings noch am gleichen Tag in Zeitungsmeldungen relativiert worden: Die absolute Zahl der Armen in Israel beläuft sich auf 693 000 Menschen, das sind 16,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Arbeitslosigkeit steigt weiter, 150 000 Israelis sind ohne Job, das macht 7,6 Prozent - auch eine Arbeitsstelle schützt nicht vor Armut. Für das neue Jahr prognostizierten Statistiker sogar einen Anstieg der Berufstätigen, die unter die Armutsgrenze fallen. Als "arm" werden die Haushalte definiert, die weniger als 50 Prozent des durchschnittlichen Monatseinkommens zur Verfügung haben. Davon sind besonders die kinderreichen Familien betroffen, wie Sozialminister Eli Yishai zugeben mußte.

Dem Bericht war ebenfalls zu entnehmen, daß die Zahl der Nicht-Juden, deren Einkommen unter der Armutsgrenze liegt, von 31,2 Prozent im Jahr 1995 auf 28,3 Prozent 1996 gefallen ist. Armut rückt somit immer mehr in die Mitte der israelischen Gesellschaft vor. Die linke Wochenzeitung Bibiwatch benennt zwei Hauptgründe für dieses Phänomen: "Der erste ist das Stagnieren des Friedensprozesses. Ohne realen Fortschritt in diesem Bereich, der zur Sicherheit im Nahen Osten führen könnte, gibt es auch keine neuen Investitionen. Aber selbst wenn der Friedensprozeß wieder in Gang kommt, und das ist der zweite Grund, bedeutet Israels wachsende Weltmarktintegration den Verlust an geschützten Industrien wie Textil und Lebensmittel. Wenn etwas billiger in Indonesien, Jordanien oder auch in den palästinensischen Gebieten hergestellt werden kann, bedeutet das für israelische Arbeiter den Verlust ihrer Jobs."

Hinter dem vermeintlichen Erfolg der Netanjahu-Regierung, die vom Rückgang der Armut spricht, verbirgt sich bei näherem Hinsehen eine dramatische Entwicklung, und das hat die

Koalition auch längst begriffen. In der vergangenen Woche drohte neben Außenminister Levy auch Verteidigungsminister Yitzhak Mordechai mit Rücktritt. Mordechai verwies dabei auf die "Verzögerung des Friedensprozesses" durch Teile der Regierung.

Levy, der der zum Likud-Block gehörenden Gescher-Partei vorsteht, begründete seinen Rücktritt damit, er könne es nicht länger verantworten, daß die Regierung Gelder für ultraorthodoxe Gruppierungen locker mache, aber die Armut in Israel nicht bekämpfe.

Verantwortlich für diese Haushaltspolitik ist der parteilose Finanzminister Yakov Ne'eman, dessen Etat-Entwurf in der Tat weniger wie ein Staatshaushalt denn wie ein Koalitionsrettungsprogramm aussieht. Bei einer Neuverschuldung von 1,2 Milliarden Schekel, das sind etwa 600 Millionen Mark, werden zusätzlich noch Gelder für Projekte der Koalitionsparteien ausgeschüttet. Die Einwandererpartei Yisrael Ba'aliya erhält 717 Millionen Schekel, die National-Religiöse Partei 210 Millionen, die Partei des Dritten Weges 47,5 Millionen. Und sogar die rechtsradikale Molodet-Partei, die nicht in der Regierung vertreten ist, erhält 31 Millionen, mit denen sie "soziale Projekte in der Westbank und dem Gaza- streifen" unterstützen soll, wie es der Koalitionsentwurf vorsieht. Gegen diese Haushaltspolitik wendet sich nun nicht mehr nur die Arbeitspartei und die linke Meretz-Partei - auch im Likud selbst regt sich Widerstand.

So wird immer unklarer, wie Premierminister Benjamin Netanjahu das Jahr 1998 überstehen will. Vorerst hat man daher die Haushaltsdebatten in der Knesset verschoben, aber dem Dilemma kann Netanjahu nicht entgehen: Holt er Levy zurück, wie er es am Sonntag auf einer Pressekonferenz andeutete, stößt er seine rechten Koalitionspartner vor den Kopf und verliert ganz nebenbei Finanzminister Ne'eman. Beläßt er es beim Rücktritt von Levy, ist die Regierung automatisch am Ende, denn dann fehlt ihr die Mehrheit in der Knesset.

Ob sich Netanjahu dieser Kraftprobe überhaupt noch stellen will oder ob er schon längst keine Lust mehr auf seinen Job hat, ist noch unklar. Die liberale Tageszeitung Ha'aretz beschrieb jüngst, wie Netanjahu mit einigen Ministern und Knesset-Abgeordneten zusammengesessen habe, um sich im Armee-Radio Levys Rücktrittsdrohung anzuhören. "Laßt ihn doch zurücktreten", habe Netanjahu dort gesagt, "wir können ihn später wieder zurückholen. Alles wird gut." Justizminister Tzachi Hanegbi habe verwirrt erwidert: "Verstehst du nicht, daß, wenn Levy zurücktritt, die Regierung auseinanderfällt?"

Die Erklärung des Premiers, daß die Situation in der Tat schlecht sei und das Problem noch vor den Haushaltsberatungen in der Knesset gelöst werden müsse, reichte Levy nicht. Tage später ließ er verlauten, daß er Zusagen benötige, um nicht zurückzutreten. Außer einem Papier, für das Netanjahu keine Verantwortung übernehmen will, erhielt er aber keine Zusagen, und die Krise spitzte sich zu. Zwar könnte sie bis Ende März auch ohne Budget und Levy weiterregieren, doch spätestens dann wären Neuwahlen unvermeidlich.