Untergang in Echtzeit

"Titanic" - Das Projekt der Moderne als Schiffsuntergang. Von Jürgen Kiontke

Berlin im Winter - die ansässige Kulturarbeiterschaft hat sich im Filmpalast am Kudamm versammelt, um der Pressevorführung des Jahrhundertwerks in einer ungewöhnlichen Abendvorstellung beizuwohnen. Jahrhundertwerk deswegen, weil der schon abgeschriebene Diplom-Ingenieur James Cameron - neben Paul Verhoeven der beste Regisseur Hollywoods - den angeblich bisher teuersten Film der Geschichte (Kosten: eine viertel oder halbe Milliarde Dollar - an old woman has long to strick for that) gedreht hat: Man hat ein paar neue Studios in den Sand von Kalifornien gesetzt und das ganze Schiff noch einmal gebaut (Maßstab 1:0,9).

Das Arrangement im Filmpalast erinnert an die Premiere von Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin". Als der Film am 1. Januar 1926 im Moskauer Bolschoi-Theater erstaufgeführt wurde, trugen die anwesenden Schauspieler Matrosenuniformen, auch in Berlin läßt man Kellner und Saalordner in Marine-Staffage aufmarschieren. Und ist nicht die "Titanic", im rechten Licht betrachtet, auch ein Panzerkreuzer, einer des Kapitalismus? Und ist nicht auch Berlin so etwas wie ein Panzerkreuzer "Titanic", der in zwei Stücke brach, dann aber in 3 800 Metern Ruhe fand, und ist nicht darüber hinaus das eigene Schicksal eine Reise, die am nächsten Eisberg schon abrupt enden kann undsoweiter? Jedenfalls verhandelt die Geschichte die Erwartungen, die an die Moderne gestellt und nicht erfüllt wurden. Das Gerät war überdimensioniert, unbegreifbar sozusagen, und der einzige Plot, der die Liebe zwischen Mensch und Technik verstehbar machen kann, ist etwas genauso Großes: eine Liebesgeschichte zwischen zwei Jugendlichen.

Der Einstieg ist weniger titanisch. Die Mitglieder eines rauhbeinigen Forscherteams sind zwar besessen vom Mythos "Titanic", ihr Verhältnis zur Technik ist aber eher praktisch. Sie haben ein reguläres Forschungsschiff gechartert und benutzen die üblichen Werkzeuge Tauchanzug und PC. Mit hochsensiblen U-Boot-Kameras blicken sie in das Wrack und entdecken einen Tresor, in dem der Edelstein "The Heart of the Ocean" liegen soll.

Statt des Kleinods finden sie den Akt einer jungen Unbekannten. Die Abendnachrichten berichten darüber, und so hat auch die alte Frau (die Grandma Moses des amerikanischen Kinos, Gloria Stuart), die sich als das gemalte Mädchen Rose (Kate Winslet) wiedererkennt, Gelegenheit, in den Film zu kommen. Sie ruft den Sender an, der sie ans Forschungsschiff weiterleitet. Alsbald wird sie eingeflogen, um die Männer mit Augenzeuginnenkenntnissen bei dem zu unterstützen, was sie mit dem Abbild ihres Körpers ins Rollen brachte. Wer hat denn nun "The Heart of the Ocean" eingesackt? Was Rose zu sagen hat, zieht die Anwesenden aber zunächst in die Tiefe, in die Vergangenheit und in die Love-Story.

In ihrem Mittelpunkt steht - neben Kate - Jack Dawson (Leonardo DiCaprio wie in all seinen Rollen als der ewig verliebte Maschinenstürmer). Er ist ein Maler, der in Paris ein paar Jahre Porträts zeichnete und normalerweise als Bediensteter reist. Diesmal hat er das Ticket beim Pokern gewonnen. Rose fährt mit Muttern (Frances Fisher) und ihrem reichen Verlobten Cal Hockley (Billy Zane) zurück nach Philadelphia (der Mann wird das Unglück überleben, sich dann aber beim Börsencrash 1929 wegen Konkurs die Kugel geben).

Man sieht der Liebe zwischen Rose und Jack zu, wie sie wächst: Der Junge rettet dem Mädchen das Leben, das ihr eigentlich allzu langweilig vorkam. Bestand es doch vor Jack aus Polospielen, Frauenkränzchen und anderen sinnlosen Errungenschaften ihrer privilegierten Klasse. Und dann stehen sie da, die Arme zum Fliegen ausgebreitet am Bug, wie zwei New Yorker Freiheitsstatuen. Drei Tage brauchen die jungen Spunde zum ersten Kuß. Zwischen Erster und Dritter Klasse springen sie durch das Schiff, wobei im Unterdeck weitaus geilere Partys abgehen als im vermufften Oberdeck mit sieben Gabeln neben dem Teller. Unten gibt's den Proleten-Bonus, Eintritt frei. Zu jener Zeit, als man Proletariat und herrschende Kasse von allein auseinanderhalten konnte. Ein Handkuß für die Dame? "So sah ich's im Kino!" vermeldet der ständig romantische DiCaprio. Es verschränken sich industrielles Sujet und die Geschichte des Kinos als Kommunikationsmaschine. Über den Bau des Schiffes, über diesen ökonomisch-politischen Zusammenhang, erfährt man leider nichts.

James Cameron, Ex-Mann von Kathryn Bigelow, hat die wichtigsten Filme der letzten Jahre zu verantworten. "Terminator 1", "Terminator 2", "Fliegende Killer - Piranha II" und den Party-Spaß "Alien 2". In den "Terminator"-Filmen spielte er so geschickt mit verschiedenen Zeitebenen und -reisen, daß er sich bisweilen genial verhaspelte. Seine Grundlinie besteht im Ineinander von Technik und Mensch und der Aufhebung der menschlichen Gesellschaft durch Technik - so mußte die Maschine selbst aus der Zukunft in die Gegenwart reisen, um ihren eigenen Grundlagen den Garaus zu machen. Mit "Titanic" verhält es sich anders. Cameron reist in die Vergangenheit, um die Gegenwart zu erklären: Wer sind wir, was wollen wir, und vor allem: Warum bauen wir ständig Dinge, die so groß sind, daß wir sie nicht kontrollieren können?

Mit der Antwort macht er es sich leicht. Egoismus, Habgier und schlechte Laune sollen zur Katastrophe geführt haben. Die Menschen hätten all ihre Hoffnung mit der gigantischen Maschine verbunden, seien dann aber allzu schludrig mit ihren Ressourcen und sich selbst umgegangen.

Die "Titanic" war das größte bewegliche Objekt einer Zeit, in der die Technik mehr noch als die beiden Weltreligionen Christentum und Kommunismus eine Weltformel zu liefern schien - daher die globale Chiffre für Scheitern und Verderben: Das als unsinkbar geltende Schiff geht an den Träumen seiner Schöpfer selbst zugrunde. Kapitalismus kommt von kapitulieren. Oder: Die "Titanic" war vorn einfach einen Eisberg zu lang. Cameron: "Das Vertrauen der Menschheit in ihre eigene, unerschütterliche Kraft war für immer zerstört, einzig und allein durch menschliche Schwächen: Unwissenheit, Selbstgefälligkeit und Habsucht" - die die Stärken dieser Menschheit sind. Wer wäre sonst auf die absurde Idee gekommen, eine solch große Maschine zu bauen?

Das ist aber alles kein neuer Gedanke, und so liefert "Titanic" 1998 nicht viel mehr als die anderen Filme zum Thema, von denen der Nazi-Schinken mit demselben Titel aus dem Jahre 1943 die witzigste Werkgeschichte aufzuweisen hat. Als antibritischer Propagandafilm von Goebbels geplant, wurde er nach der Uraufführung in Paris auch gleich wieder verboten, weil er defätistische Elemente beinhalte. 1949 gab ihn dann die Freiwillige Selbstkontrolle frei, nur damit er 1950 von den West-Alliierten wegen seiner antibritischen Elemente verboten werden konnte. Das nächste Werk war John Negulescos "Untergang der Titanic" (USA 1952), der auf eine psychodramatische Inszenierung setzte. Anschließend gab es "Die letzte Nacht der Titanic" (GB 1958), der wiederum wenig psychologisierte, dafür einen passablen Untergang zeigte. Und eigentlich war das Thema ganz gut zu den Akten gelegt, bis dann tatsächlich ein Tauchteam (eigentlich sollte es russische Atom-U-Boote suchen) das Wrack und damit den ehemaligen Stolz der White-Star-Linie mit 1 500 Toten aufspürte.

Dann aber kommt der Moment, wo der gigantische, angeschlagene Industriekomplex den Arsch und die Schrauben aus dem Wasser hebt. Alle Viertelstunde verändert Cameron die Haltung des Brockens, damit das Publikum eine neue, irrwitzige Einstellung erlebt. Die Statisten purzeln vom Hinterdeck und schlagen sich die Köpfe an allerhand metallenen Gegenständen ein. Der Untergang in Echtzeit: Genauso lang soll's damals gedauert haben, bis die "Titanic" sank. Wäre das Schiff im Sturm gekentert, gäbe es gar keinen Film. Die bei solchen Unfällen übliche Panik fehlt nicht, und manch einer erschießt sich vor lauter Courage selbst. "Frauen und Kinder zuerst!" - dieser Spruch muß kommen: Daß der Tod Männern weniger weh tut, wird Jack als dekorativer Eisklump noch beweisen. Er liebte Rose mehr als sich selbst. Old Rose wird erzählen, daß sie später einen anderen heiratete. Aber als Jack sie nackt gemalt habe, das sei "der erotischste Moment ihres Lebens" gewesen.

Wie sagte Jack? "Wenn du nichts hast, dann hast du auch nichts zu verlieren." Das traf auf Cameron, immer auf der Suche nach der Mutter aller Filme, leider nicht zu. Der hatte was zu verlieren. Und das angebotene Fahrzeug ist bei aller Gigantomanie eine Nummer zu klein für den Mann. Aber andersrum hat die Eindimensionalität dann was: Für den Bums zwischen Leo-Schiffskater und Aristo-Kate im Auto auf dem Ladedeck den Stolz der Marine untergehen zu lassen und dem kapitalistischen System einen Knick in die Optik zu biegen, ist schon eine passable Leistung. Und absolut ironiefrei!

Müde und gebeutelt macht sich das Presse-Publikum auf den Heimweg. Den "Heart of the Ocean", den dicken Klunker, den hat Oma aber dann doch noch gerettet. "Haltet zu uns!" lautet der Matrosenspruch der "Potemkin", dann bricht der Koloß durch die Leinwand - wie die Bugspitze der "Titanic". Und wie der Film ein bißchen mit der Filmgeschichte spielt, die ja auch eine Begleiterscheinung und zugleich Medium maschineller Produktion ist, und das Scheitern des Menschen an sich selbst von der "Potemkin" bis zu "Terminator" in "Titanic" enthalten sein will, so ist auch die Liebesgeschichte "Romeo und Julia" entlehnt.

Die Träume des 20. Jahrhunderts, auch die der Berliner Filmjournalisten, sind maßgeblich auf oder wenigstens nah am Wasser gebaut. Da wird das Taschentuch gezückt, gegähnt und gejubelt: "Der beste Film des Jahres." Also so alt ist das neue Jahr noch nicht. Und bis nächste Woche hält das Urteil schon noch.

"Titanic". USA 1997. R: James Cameron, D: Leonardo DiCaprio, Kate Winslet, Billy Zane, Kathy Bates, Frances Fisher, Bernhard Hill, Jonathan Hyde, Gloria Stuart. Start: 8. Januar