Eskalation des Terrors

Algerien: Die Massaker der Islamisten konzentrieren sich nun auf das Hinterland

Seit Beginn des muslimischen Fastenmonats Ramadan am 30. Dezember hat die Gewalt des islamistischen Terrorismus in Algerien eine neue Stufe der Eskalation erreicht. Allein den Massakern vom Wochenende des 30./31. Dezember in der westalgerischen Region Relizane werden von der algerischen Presse 412 Tote zugeschrieben (die Behörden gaben zunächst eine Bilanz von 78 Opfern bekannt). Was die Schlächtereien des darauffolgenden Wochenendes betrifft, so veröffentlicht die Presse vier Tage danach Schätzungen, es habe 500 Tote gegeben; zunächst war von 117 Ermordeten die Rede gewesen. Insgesamt gehen französische und algerische Presse relativ einhellig von über 1 000 Toten seit Beginn des Ramadan aus.

Bereits der letztjährige Ramadan im Januar/Februar 1997 hatte ein bis dahin nie erreichtes Niveau an terroristischer Gewalt markiert. Im Unterschied zu den aktuellen Ereignissen konzentrierte sich das Gemetzel damals jedoch rund um die Hauptstadt Algier, wo Autobomben und Sprengsätze in Bussen explodierten. Anfang 1998 hingegen bleibt Algier relativ "verschont", wenngleich ein Massaker in der Vorwoche erneut 25 Tote in einem Vorort der Hauptstadt forderte. Epizentrum der mörderischen Aktivitäten der "Islamischen Bewaffneten Gruppen" GIA, auf welche die jüngsten Schlächtereien vermutlich zurückgehen, ist nunmehr der äußerste Nordwesten Algeriens, im gebirgigen und bitterarmen Hinterland von Oran und Tlemcen, wo der Terrorismus bis vor relativ kurzer Zeit so gut wie unbekannt war.

Auch der Charakter der Vorgehensweise der Mörder hat sich geändert: Während früher relativ anonyme Tötungsarten wie Autobomben verwendet wurden, schlachtet man nun die Zivilbevölkerung jeweils ganzer Dörfer in blutiger "Handarbeit" mit Messern, Äxten und ähnlichen Geräten ab. Daß die Urheber dieses Wahnsinns in den Reihen der GIA - die ein heterogenes und in autonome Gruppen zerfallendes Sammelsurium bilden, in dem sich Elemente einer extrem gewalttätigen Sekte, schlicht krimineller Banditen sowie ehemaliger "heiliger Krieger" gegen die Sowjets in Afghanistan, ohne Eingliederungschance ins zivile Leben, miteinander vermischen - zu suchen sind, scheint derzeit kaum umstritten. Bereits am Tag nach dem ersten Mordwochenende vom 30./31. Dezember berichtete die algerische demokratische Presse (wie La Liberté) - die keiner übermäßigen Sympathien für die regierenden Militärs verdächtig ist - von vor Ort, daß überlebende Bewohner der heimgesuchten Dörfer Aktivisten der GIA, welche aus der Region stammen, persönlich erkannt hätten, unter ihnen den GIA-Kommandanten "Scheich Nurredin" (mit bürgerlichem Namen Aoued Abdellah).

Nicht einmal mehr das im Ausland erscheinende Bulletin der (in Algerien seit 1992 verbotenen) "Islamischen Heilsfront" FIS, als Sprachrohr des politischen Islamismus - dem die GIA als extreme Variante aus dem Ruder gelaufen sind -, beschuldigt in diesem Fall, wie des öfteren in der Vergangenheit, das amtierende Regime der eigentlichen Urheberschaft an den Massakern. So heißt es in El Rikat, Urheber der Schlächterei von Relizane sei "die 400 Mann starke Fraktion 'El Ahoual' (Die Schrecken), die sich vor 18 Monaten wegen einer Streitigkeit um die Aufteilung der Beute von den GIA abgespalten hat".

Die geographische Verlagerung der terroristischen Aktivitäten nach Westen scheint darauf zurückzuführen zu sein, daß die Sicherheitsvorkehrungen der Militärs in und um Algier in diesem Jahr aus Sicht der GIA zu umfangreich wurden. Durch die Abwanderung der GIA-Killer in ein anderes Gebiet sollte so anscheinend der militärische "Schraubstock" um die Hauptstadt umgangen werden oder aber auch, durch Eröffnung einer zweiten Front, den Gruppen in der Hauptstadtregion durch Ablenkung der Militärs Luft für neue Aktivitäten verschafft werden. Der bergige Nordwesten wurde bislang vom Zentralstaat völlig vernachlässigt, nicht einmal asphaltierte Straßen führen dorthin. Diese Region wird von Minderheiten bewohnt, die mitunter als die "Zigeuner Algeriens" bezeichnet werden und urspünglich von jemenitischen Gruppen abstammen. Der Nordwesten bildet gewissermaßen das schwächste Glied in der Sicherheitskette des Landes. Möglicherweise soll durch diese neue Front und durch die neue, besonders blutige Erscheinungsform der terroristischen Gewalt auch versucht werden, die internationale Öffentlichkeit endgültig derart zu schockieren, daß sie erstmals von außen das Regime in Algier ernsthaft unter Druck setzt.

Durch einen wirksamen internationalen Druck auf Algier könnten die GIA sich erhoffen, das Selbstbild der Militärs aufzubrechen, die sich dadurch legitimieren, einerseits eine vom Terrorismus bedrohte "belagerte Wagenburg" zu schützen und andererseits Garant der nationalen Unabhängigkeit zu sein. Denn die algerische Armee bezieht ihre traditionelle Legitimation aus dem Unabhängigkeitskrieg gegen die Kolonialmacht Frankreich (1954 bis 1962), von dessen ideologischen Nachwirkungen sie nun schon jahrzehntelang zehrt. In Zeiten schwerer Krise - wie die algerische Gesellschaft sie seit Jahren duchmacht - ist es gerade diese Mischung aus Wagenburgmentalität und Nationalismus, welche die staatlichen Strukturen des Regimes (das sich ansonsten auf eine Ansammlung sich privat bereichender Profiteure reduzieren würde) aufrechterhält. Auf diesen Kern könnten die GIA - soweit ihre Köpfe politisch so vorausschauend handeln - zielen, um statt des Kampfs gegen das "ungläubige" Regime in eine Konfrontation mit "dem Ausland", das seine Nase nach Algerien hereinstreckt, eintreten zu können.

Gewolltes Kalkül der GIA oder nur objektive Folge ihres Mordens: Der Druck von internationaler Seite auf Algier ist tatsächlich stark angestiegen und hat heftige Abwehrreaktionen seitens der Militärs provoziert. Als erster forderte der deutsche Außenminister Klaus Kinkel am 4. Januar einen Besuch der europäischen "Troika" (aktuell Vertreter Großbritanniens, Luxemburgs und Österreichs) in Algier, um dem dortigen Regime gegenüber eine politische Initiative zu ergreifen und diesem "eine Kooperation im Kampf gegen den Terrorismus und bei der Hilfe für die Opfer" anzubieten.

Dieser Vorschlag zog am 7. Januar zunächst eine harsche Replik des algerischen Regierungssprechers Habib Schwki Hamraoui nach sich, der die nationalistische Abwehrhaltung formulierte: "Das algerische Volk, dessen Würde bekannt ist, hat keinerlei Form von Hilfe für seine Opfer gefordert, die es mit seiner Solidarität umgibt." Und: "Algerien als souveräner Staat erneuert seine feste und unerschütterliche Zurückweisung jedes Versuchs von Einmischung in seine inneren Angelegenheiten, woher auch immer sie kommen mag." Mittlerweile hat Algier allerdings die Forderung nach Entsendung einer europäischen Delegation akzeptiert, unter der Bedingung, daß die Gespräche sich ausschließlich auf die Bekämpfung des Terrorismus konzentrieren.

Weiter vorgestoßen als Kinkel waren die US-Amerikaner; das State Department machte sich für die Entsendung einer Delegation von Beobachtern aus regierungsunabhängigen Organisationen (NGOs) stark, die nach den Ursachen der Schlächtereien forschen solle. Dieses Verlangen ist für Algerien traditionell ein rotes Tuch, da dadurch impliziert wird, daß die Urheberschaft der Massaker unklar sei. Sowohl das Regime als auch die demokratische Presse weisen dieses Ansinnen daher zurück. Letztere geht davon aus, daß die Militärs sehr wohl manches zu verbergen hätten, die Urheberschaft der Islamisten an der Gewalteskalation jedoch völlig außer Zweifel stehe und das Aufwerfen von Fragen in dieser Richtung nur Schaden anrichte.

Die heftigste Reaktion in Algier riefen jedoch Äußerungen des französischen Außenministers Hubert Védrine hervor, obwohl dieser bei weitem nicht so weit gegangen war wie insbesondere seine US-Kollegen. Védrine hatte "den Anspruch der Zivilbevölkerung auf Schutz" und die "Pflicht des Staates, sie zu schützen", betont und sich für eine "wahre Demokratie" ausgesprochen, was eine implizite Kritik an der aktuellen "Demokratie" der Militärs enthält. Aus Algier hieß es dazu, Paris breche nicht "mit seiner Haltung, falsche Assoziationen, Zweideutigkeit und Verzerrung der Realitäten in unserem Land zu kultivieren". Die besondere Schärfe der Reaktionen gegenüber Frankreich deutet jedoch darauf hin, welch große Rolle der historisch-ideologische Hintergrund bei den Abwehrreaktionen der algerischen Militärs spielt.