Willkommene Flüchtlingsströme

1 300 in Italien gelandete Asylsuchende dienen Bonn als Vorwand für die Anpassung der europäischen Asylpolitik an deutsches Niveau

Auch Panikmache will von Zahlen unterlegt sein. Als Anfang letzter Woche die innenpolitische Diskussion über die "illegal und verbrecherisch organisierte Wanderungsbewegung" kurdischer Flüchtlinge (CDU-Innenminister Manfred Kanther) in die Bundesrepublik keine Parteigrenzen mehr kannte, lieferte Gerhard Hoppe, Präsident der bayerischen Grenzpolizei, den vermeintlichen Beweis für die bevorstehende Massenflucht: An der Südküste der Türkei, so Hoppe in einem Zeitungsinterview, warteten nach Erkenntnissen deutscher Polizeibehörden mehr als 10 000 kurdische Flüchtlinge darauf, nach Deutschland zu kommen. Über 20 Schiffe mit einer Transportkapazität von jeweils 500 Menschen - "eine ganze Armada" - stünden für die Überfahrt bereit. Doch noch am selben Tag folgte das Dementi: Die Zahl stamme gar nicht von ihm, so Hoppe, sondern der Interviewer selbst habe sie ins Spiel gebracht. Einmal im Umlauf, erzielte sie nichtsdestotrotz die gewünschte Wirkung: Entlang der Grenzen zu Österreich und Frankreich weitete der Bundesgrenzschutz seine Schleierfahndung aus, in barschem Tonfall forderte die Bundesregierung Rom auf, die Küsten des Stiefelstaats endlich effektiver zu bewachen. Dabei schlug Bonn in dieselbe Kerbe wie Ankara: Sollte die Regierung Romano Prodis den Kurden tatsächlich politisches Asyl gewähren, würde "der Zustrom illegaler Einwanderer" noch weiter "anschwellen".

Drei Wochen nach der ersten Landung von 825 Flüchtlingen am südöstlichen Zipfel Italiens, und nachdem zwei weitere Schiffe mit nochmals insgesamt rund 500 Menschen an Bord gelandet waren, hat sich der anfängliche Streit zwischen Italien und der BRD ausgeweitet zu einem Konflikt zwischen den Mitgliedsstaaten des Schengener Abkommens - angeheizt aus Bonn. Unverhohlen drohte Innenminister Kanther mit Konsequenzen, sollten Italien, aber auch die Türkei als Hauptherkunfts- und Griechenland als Transitland nicht Sofortmaßnahmen gegen die Ankunft der mehrheitlich kurdischen Flüchtlinge ergreifen. Österreich, dessen Regierung von ähnlichen Überfremdungsängsten geplagt wird wie der Sicherheits-Wahlkämpfer Kanther, führte zwei Monate nach Inkrafttreten des Schengener Vertrags, der in allen EU-Staaten bis auf Großbritannien, Irland und die skandinavischen Länder umgesetzt ist, an seiner Grenze zu Italien die bereits abgeschafften Kontrollen wieder ein. Auch Frankreich verstärkte seine Polizeitruppen entlang der italienischen Grenze.

Dennoch konnten sich die Polizei- und Sicherheitschefs der neun Vertragsstaaten auf ihrer eilig einberufenen Konferenz Ende letzter Woche nicht auf konkrete Maßnahmen einigen, wie der "Flüchtlingsstrom" gestoppt werden könnte. Angekündigt wurde in Rom lediglich, was ohnehin schon den Kern des Vertrags ausmacht: verstärkte Kontrollen an den EU-Außengrenzen, erhöhte Sicherheitsvorkehrungen sowie ein verbesserter Informationsaustausch über Flüchtlingsbewegungen nicht nur mit den Herkunftsländern, sondern auch mit möglichen Transitstaaten - besonders auf dem Balkan. Ende Januar wollen die EU-Außenminister die entsprechenden Maßnahmen in ein "Sofortprogramm" zur Flüchtlingsbekämpfung gießen.

Worum es insbesondere Bonn, aber auch Frankreich und Österreich in dem jetzigen Konflikt geht, ist, am Ende nicht als "sicherer Drittstaat" innerhalb der Schengener Gemeinschaft dazustehen. Denn was nicht nur Kanther, sondern auch Sozialdemokraten wie der niedersächsische Innenminister Gerhard Glogowski (SPD) Italien vorwerfen - den Kurden die Möglichkeit zur Weiterreise nach Deutschland zu lassen - praktiziert die Bundesrepublik tagtäglich mit ihren östlichen Nachbarn: Die Last der deutschen Abschiebepolitik tragen Polen und Tschechien. Sie sind es, die diejenigen Flüchtlinge aufnehmen, die hierzulande kein Asyl mehr erhalten.

In den kommenden Wochen dürfte deshalb weniger das Schengener als das Dubliner Abkommen im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung stehen. Erst Anfang September in Kraft getreten, regelt es neben der im Schengen-Vertrag vereinbarten Harmonisierung des europäischen Grenzregimes den Umgang mit anerkannten Asylbewerbern: Sowohl rechtlich als auch finanziell ist demnach derjenige Schengen-Staat für einen Flüchtling zuständig, den dieser zuerst berührt hat. Allerdings verbleibt den Kurden in Italien, sollte Prodi seine Ankündigung wahr machen, ihnen Asyl zu gewähren, die Chance, mit einem Touristenvisum für neunzig Tage in die BRD einzureisen - und unterzutauchen. Hierin wittert die Bundesregierung - aus ihrer Sichtweise durchaus berechtigt - die Gefahr. Denn so, wie es algerische Flüchtlinge vor allem zu ihren Verwandten nach Frankreich, Nigerianer nach Großbritannien und albanische Flüchtlinge nach Italien zieht, so wollen Kurden meist zu ihren mehr als 500 000 Landsleuten nach Berlin, Köln oder Hamburg.

Das zu verhindern hat sich Kanther auf die Fahne geschrieben. Ziel einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik dürfte es demnach keinesfalls sein, Migranten als politisch (und schon gar nicht als religiös oder frauenspezifisch) Verfolgte anzuerkennen, sondern sie gar nicht erst nach Europa einreisen zu lassen. Anerkennungsquoten um die zwei Prozent, wie sie die BRD seit Abschaffung des Asyl-Artikels 16 im Jahr 1993 erreicht hat, gelten sozial- wie christdemokratischen Sicherheitspolitikern als europaweit anzustrebender Maßstab.

An diese restriktiven Vorgaben knüpft auch das von Kanther ausgerufene, an das "Europäische Jahr gegen Rassismus" anschließende "Sicherheitsjahr" an. Insofern kommen den deutschen Wahlkämpfern die Flüchtlinge ganz gelegen, lassen sie sich doch bestens zum Ausbau und zur Verschärfung bestehender Regelungen instrumentalisieren. Daß das deutsche Wahljahr 1998 nicht ohne Verschärfung asylrechtlicher Bestimmungen über die Bühne gehen würde, hat sich bereits vergangenen Juni abgezeichnet: Auf Druck des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU) zog beim in Amsterdam tagenden EU-Gipfel Bundeskanzler Helmut Kohl höchstpersönlich die noch zu Beginn der Tagung von der deutschen Delegation vorgetragene Forderung nach Mehrheitsentscheidungen bei Asyl- und Visumsfragen zurück. Offenbar aus Sorge, das restriktive deutsche Asylrecht könnte gelockert werden, hatte man sich entschlossen, Asylrecht auch weiterhin nationales Recht sein zu lassen.

Zweideutig indes bleibt die Haltung von Frankreichs rosa-rot-grüner Regierungskoalition in der Flüchtlingsfrage. Einerseits hat Frankreich ebenso wie Österreich seine Grenzkontrollen zu Italien verschärft, andererseits scheint man sich an die liberalere asylpolitische Haltung der Linksregierung in Rom anzunähern. Ebenso wie Prodi forderte der französische Außenminister Hubert Védrine eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik, welche die Situation in den Herkunftsländern stärker berücksichtigt als dies heute der Fall ist.

Damit steht Védrine in einer Linie mit dem SPD-Außenpolitiker Günter Verheugen. Sollte es im Herbst zu einem Regierungswechsel in Bonn kommen, stünde es der Mitte-Links-Regierungen in Rom, Paris und Bonn mindestens theoretisch offen, das im Dubliner Abkommen geregelte Einstimmigkeitsprinzip bei Asyl- und Visumsfragen aufzuheben zugunsten von Mehrheitsentscheidungen - und einer geregelten Einwanderungspolitik.

Wieso die SPD ausgerechnet in Regierungsverantwortung die restriktiven Asylregelungen wieder abschaffen sollte, die sie schon als Opposition mitgetragen hat, bleibt allerdings Verheugens Geheimnis. Erst am Wochenende konterkarierte Verheugens Parteikollege Gerhard Bökel, Innenminister im rot-grün regierten Hessen, dessen Vorschläge mit der Forderung, von ankommenden Flüchtlingen EU-weit Fingerabdrücke nehmen zu lassen, um feststellen zu können, ob sie über ein "sicheres Drittland" eingereist seien. Vor Wochen bereits hatte das Kanther-Ministerium diesen Vorschlag unterbreitet. Er reiht sich nahtlos ein in den 1997 um Speicheltests zur Feststellung von Verwandtschaftsverhältnissen und Sprachtests zur Bestimmung des Herkunftslands erweiterten Bonner Flüchtlingsabwehr-Katalog. An Migrationsfragen wird eine Große Koalition nicht scheitern.