19. Ickes Gespür für Farben

Fortgesetzte Erzählungen

An einen Empfang in Ickes Villa entsinne ich mich besonders. Ich war nach Hofacker gefahren, um bei meiner Mutter Trauzeuge zu spielen.

Ihr Neuer war ein schweigsamer Schuster aus Goldap ohne Phantasie und Verstand, der beim Bund die Springerstiefel registriert hatte, bevor er pensioniert wurde, und ich trug noch den anthrazitfarbenen Nadelstreifen und die rote Krawatte mit den winzigen Segelschiffen drauf, als ich am nächsten Vormittag zu Sierra und Icke durchs Meisental bummelte.

Das Dienstmädchen nahm meine Visitenkarte und rief:

"Rechtsanwalt Karl-Otto Modjewski, alleine!"

Icke kam, fummelte an meinem Kragen und flüsterte:

"Welche Farbe hat deine Krawatte?"

Dann drehte er sich um und sagte begeistert:

"Jetzt schaut euch dieses Rot an, Kinder! Ich spüre dieses Rot bis in die Fingerspitzen!"

Er hielt die Krawatte wie eine Hundeleine, zog mich durch die Wohnlandschaft, rief: "dieses Rot, dieses Rot!" und erzählte allen, daß wir zusammen Murmeln gespielt hätten. So landeten wir bei einem parfümierten Fettwanst um die sechzig, der einen bunten Burnus trug und nach Geld stank.

Icke dagegen trug eine hochgezogene Bundfaltenhose mit geblümten Hosenträgern, ein weites Rüschenhemd und Stulpenstiefeln. Die Anstecknadel am Revers seines senfgelben Gehrocks bestand aus einem goldgefaßten Gummibärchen. Sein Schädel sah aus wie eine Abrißbirne. Er flötete:

"Erinnerst du dich an Adelheid?"

Ich spürte einen Stich im Unterleib, aber die Schöne ließ keine Sentimentalität aufkommen, indem er mir seine Visitenkarte reichte:

"Karl Jasper, Fleischhandel international, Buenos Aires, Toronto, Rothwesten bei Kassel."

"Kuller?" frug eine innere Stimme bang. Mein Blick fiel auf den stämmigen Nordafrikaner an seiner Seite.

Das Mädchen rief:

"Frau Direktor Eckes-Chantré und Konsul Deinhard!"

Icke jammerte:

"Ihre Schnäpse sind grauenhaft, aber sie ist eine wunderbare Sammlerin. Letzte Woche hat sie drei Bilder von mir gekauft, das Stück zu achtzigtausend. Sag mir, was sie anhat."

Dann scharwenzelte er los, wie eine Gazelle mit Null Dioptrien.

An der Tür stand der Kopf einer Seekuh auf dem Körper eines Hühnchens. Icke legte die Hände mit den Klunkern um die knochigen Schultern der Fotomontage und rief, nachdem er sie abgeleckt hatte:

"Jetzt schaut euch dieses Grün an, Kinder, und das Gelb! Ich spüre dieses Gelb bis in die Fingerspitzen!"

Aber so war er. Ein Scharlatan, seit er aus dem Scharlachalter raus war, und bis der Ruhm ihn ereilt hatte, und das Geld ihm zufiel wie unsereinem die Gonokokken, hatte er von dieser Gabe sogar gelebt - als Lügenbaron, Schmarotzer, Ladendieb, Zechpreller, Betrüger und Hochstapler von Gnaden.

Ein kriminelles Genie, nie verhaftet, nicht vorbestraft, und noch heute, da seine Gemälde in den wichtigsten Museen und Privatsammlungen hängen, und Malerfürsten wie Lüpertz und Baselitz, Kiefer, Richter, Graubner und Immendorf neidisch zu ihm aufschauen, spricht man von den Possen und Streichen des jungen Karl-Wilhelm Jerusalem mehr als vom Lodern und Wabern seiner monochromen Farbfelder, die seine Frau, Sierra, unterstützt von Studenten der Kunstakademie, wo er eine C-4-Professur für freie Malerei leitet, mit Pumpen, Spritzen, Schwämmen und anderen einschlägigen Werkzeugen nach seinen Vorgaben verfertigt.

Der Vormittag war so aufregend wie irgendeine Vernissage in Köln und Berlin. Zwei Üppigkeiten bahnten sich ihren Weg mit großen Tabletts, Sektgläser wurden von Hand zu Hand gereicht, Häppchen fanden ihren Weg in gezierte Mäuler, und von außen drang der Klang der vierschrötigen Stadtkirche in den Kunstgenuß.

Überall hinen Gemälde, die jedoch unverkäuflich waren, da quasi Prototypen aus Ickes vormonochromer Epoche - die Stahlhelme, Flaks, Minenwerfer und Stalinorgeln, die Fahnenmeere, Ruinenfelder und riesigen Soldatenfriedhöfe, die ihn berühmt gemacht hatten - aus jenen Jahren also, in denen der Künstler die Kriegserlebnisse seiner Kindheit verarbeitet hatte, als die Traumata noch auf der Straße lagen wie heute das Geld.

Wer sich in die Peripherie des Anwesens wagte, stieß auf Frühwerke, wie das dithyrambische Gemälde zweier masturbierender Jünglinge, in denen ich Icke und mich erkannte, und jene flott hingeschmierte Vergewaltigungsphantasie, die einst in Stasis Salon hing, da ich ein Knabe war.

Sie war bekanntlich dem Bild "Die unbefleckte Empfängnis Mariae" von El Greco nachempfunden, stellte Ickes Cousine Petruschka dar, und wie ich jetzt das Antlitz der Unbefleckten studierte, fiel mir plötzlich ein, wer der Mops im ultramarin-blauen Hosenanzug war, der zappelnd unten am Flügel darauf wartete, ein paar Ausdruckstänze zu zeigen.

Icke war der Allgegenwärtige. Von überall hörte man sein meckerndes Organ. Gern sprach er über seinen Terminkalender:

Montag mit Lothar Späth im Flieger nach Jena, Dienstag Mittagessen mit Bundespräsident Herzog, der ihn gebeten hatte, ihm die wichtigsten Katastrophen vorherzusagen, Mittwoch Gerhard Schröder beim Einkauf von Hemden und Socken beraten und so weiter. Auch ein Boxkampf stand auf dem Programm und dazu der schöne Satz: "Ich spüre das Blut aus der Ferne!"

Gelegentlich wurden Ölgemälde aus laufender Produktion hereingefahren und mit Beifall begrüßt. Sie waren, wie alles, was Icke seit seiner Erblindung malen ließ, monochrom. Unendlich sanft ließ er die Fingerspitzen über die Leinwand gleiten, saugte die Farbe auf, atmete tief durch und jauchzte: "Dieses Rot! Dieses Gelb! Dieses Blau!"

Von Ferne, wie ein Echo im Hochgebirge, antwortete ein zitterndes Stimmchen:

"Es sollte wirklich nicht erlaubt sein, daß jemand so göttlich malen kann!"

Alle oder fast alle Augen richteten sich auf zwei uralte Damen, in Tücher gehüllt, die auf zierlichen Sesselchen saßen, Tüll trugen, Handschuhe und lange Zigarettenspitzen. Der Stil von damals. Es waren Ickes Mutter Anastasia, genannt Stasi, und seine Tante Alma alias Putzi. Sie lebten bei Truschka, die in der alten Rathsackschen Villa eine Heilpraxis betrieb.

Icke aber krümmte sich wie ein Gnom, sprang hinter das Bild, das auf einem Hund ruhte, tauchte dahinter auf wie Pulcinella und krächzte:

"Wer fürchtet sich vor Rot, Gelb, Blau?"

Sierra saß dabei. "Haben Sie nie gezweifelt, genau die Farben zu finden, die Ihr Mann im Sinn hatte?" wurde sie gefragt. Sie lächelte weise: "Ich kann Gedanken lesen, Gedanken lesen!"

"Und Sie, woher wissen Sie, wie das Bild aussieht, das Sie vor sich sehen?" frug qualles Weib unerschrockenen Maler.

"Ich sehe jedes Bild vor mir, bevor ich es malen lasse", belehrte Icke, "und vergesse nie eine Arbeit, die ich einmal als in sich und auch nach außen hin abgeschlossenes Werk der Ewigkeit übergeben habe. Im Grunde bin ich ein malender Schachspieler!"

Man plauderte dann noch eine Weile über die Frage, ob der blinde Maler nicht gerade Voraussetzung sei für zweifellose Modernität im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, ob Konzeptionalität und Blindheit nicht synonym wären, sprach über blinde Fotografen, Blindenhunde, Blindbände.

Ein anregender Tag. Die Gäste waren längst gegangen, wir saßen draußen und schauten zu dem Türkenhaus, wo viele Jahre später Max Klebe erschlagen werden sollte, als Icke sagte:

"Ach, weißt du, Modder, ein bißchen ödet mich das monochrome Bild auch an. Ich sehne mich danach, mal wieder ein schweinisches Sujet zu malen. Wenn ich an früher denke."

Ich nickte:

"Ja, aber die Weiber waren auch nicht so zickig damals. Irgendwie fetziger."

Nächste Woche: "Chauffeur beim Chef"