Deutsche Opferpsychose

Antisemitismus und Rassismus sind gesellschaftliche Randphänomene, behaupten Autoren im "Jahrbuch für Antisemitismusforschung" und entdecken die Deutschen als Opfer von Vorurteilen

Das "Jahrbuch" des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, herausgegeben von Wolfgang Benz, hat sich stets viel vorgenommen: Es sei "fächerübergreifend ausgerichtet" und veröffentlicht "Arbeiten zur Geschichte der Judenfeindschaft, zur nationalsozialistischen Verfolgung, zum Holocaust, zu Emigration und Exil, zu Minoritätenkonflikten und zur Theorie des Vorurteils". Das "Jahrbuch" ist zugleich Tendenzbestimmung der bundesrepublikanischen Antisemitismusforschung als deren wichtigste Publikation.

Das neue "Jahrbuch" bestätigt dabei die These, daß sich die deutsche Antisemitismusforschung nach einem mühsamen und langwierigen Prozeß im herrschenden Wissenschaftsbetrieb etabliert hat, und auch inhaltlich hat sie sich angepaßt - wenn es um aktuelle Bezüge geht, gerät sie zur Legitimationswissenschaft. Die redaktionelle Textauswahl des "Jahrbuchs" dokumentiert neben den oftmals anregenden historischen Analysen die Facetten eingeschliffener Theorielosigkeit, wenn es um die Untersuchung und Erklärung antisemitischer Phänomene im gegenwärtigen Deutschland geht. Die wenigen Arbeiten, die sich mit dem Antisemitismus beschäftigen, sind nahezu durchweg von einem unkritischen Verhältnis gegenüber Staat und Gesellschaft geprägt. Gesellschaftliche Ursachen, die Analyse latent und unverhüllt antisemitischer Diskurse werden wie die Kritik hegemonialer Politik, die judenfeindliche Ressentiments befördert, ausnahmslos ausgeklammert. Statt dessen wird stringent Antisemitismus nur außerhalb von Medien, gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen verortet; er existiert, glaubt man dem neuen "Jahrbuch" wie auch seinen Vorgängern, in Deutschland nur noch innerhalb rechtsextremer Splittergruppen und im linksradikalen Antizionismus.

Rainer Erb begutachtet einmal mehr antisemitische "Straf- und Gewalttäter" aus dem rechtsextremen Umfeld. Diese werden als dem politischen System und gesellschaftlichen Zusammenhang der Bundesrepublik äußerlich begriffen. Antisemitische Taten richteten sich, so Erb, gar nicht gegen Juden, sondern eigentlich gegen die deutsche Republik: "Antisemitische Handlungen zielen auf die politische Kultur der Bundesrepublik und gegen den moralisch-politischen Stellenwert, den Juden nach den nationalsozialistischen Verbrechen darin haben. Juden sind gefährdet, weil der politisch motivierte Angriff auf die Bundesrepublik über den Angriff auf Juden als Personen demonstriert wird."

Positiv hervorzuheben ist hingegen Elfriede Müllers und Klaus Holz' kritische Analyse der Affäre um Abbé Pierre. Müller und Holz betten den Diskurs um Pierre gesellschaftlich ein und sprechen von einem Tabubruch in der französischen Öffentlichkeit. Über hiesige Tabubrüche ist im "Jahrbuch" freilich nichts zu lesen. Aufschlußreich ist die Dokumentation eines OMGUS-Berichts ("Office of Military Government for Germany ('U.S.')") von 1947, der die Thesen Goldhagens zum eliminatorischen Antisemitismus stützen kann: Lediglich zwei Prozent der Bevölkerung (der amerikanischen Zone) konnte bescheinigt werden, frei von rassistischen und antisemitischen Vorurteilen zu sein.

Peter Widmanns Beitrag "Jedem sein Lübeck. Mediale Wahrnehmungen eines Brandes" ist der eigentliche Skandal dieses Sammelbands. Unter der Rubrik "Rechtsextremismus" legt Widmann, der das Archiv des Zentrums für Antisemitismusforschung betreut, eine angeblich "medienkritische Untersuchung" vor, die Herausgeber Wolfgang Benz im Vorwort als "willkommenen Beitrag zur Entstehung und Formulierung von Vorurteilen im buchstäblichen Wortsinn" lobt. Widmanns "medienkritische" These lautet, daß Journalisten und Journalistinnen in ihrer Berichterstattung "die Aspekte, die für einen rechtsextremen Anschlag sprachen", "voreilig und selektiv" "überzeichneten", also Vorurteile gegen deutsche Rechtsradikale bestätigten. Bezugspunkt seiner Medienkritik sind "die Ermittler" und "die Einschätzungen von Polizei und Feuerwehr". Widmann schreibt aus der Perspektive eines Lübecker Polizisten oder des Staatsanwalts. Eine "besondere Bestürzung" teilt Widmann mit der Grevesmühlener Bevölkerung, denn die Medien hätten ein "Zerrbild" der "mecklenburgischen Kreisstadt" als "Zentrum der Rechtsradikalen" konstruiert, aus denen zwei der "vorschnell beschuldigten" Neonazis stammten.

Im wesentlichen richtet sich Widmanns Beitrag nicht nur explizit gegen die "antirassistischen Deutungen" einer linksliberalen Minderheit in den Medien, sondern gegen eine politische Behandlung des Anschlags, ja die Thematisierung von Neonazismus und gesellschaftlichem Rassismus überhaupt. Widmann meint, die Brandkatastrophe sei auf den politischen Seiten der Tageszeitungen deplaziert, und beklagt im besonderen, daß "einige Kommentatoren" den politisch Verantwortlichen in Deutschland vorwarfen, Mißtrauen gegen Fremde zu schüren, als "könne man aus den verkohlten Trümmern der Brandruine den Zustand des Gemeinwesens ablesen".

Widmann wähnt nicht die Ermittlungsbehörden unter "Rechtfertigungsdruck", die willkürlich in einem Skandalverfahren den Libanesen Safwan Eid anklagten, bis dieser freigesprochen werden mußte, sondern die wenigen Zeitungen, die kritisch den Zusammenhang zwischen rechtsradikalen Übergriffen und einer repressiven deutschen Asylpolitik aufgreifen.

Schon ein Blick auf die Quellen - Zeitungen fast ausschließlich vom 18. und 19. Januar 1996 - offenbart, daß sich Widmanns "Inhaltsanalyse" lediglich auf die ersten Reaktionen in den Medien bezieht. Diese selektive Wahrnehmung ist logisch notwendig: Ohne die einseitigen und schlampigen Ermittlungsmethoden und die vielen Ungereimtheiten auszublenden, hätte Widmann seinen idiosynkratischen Beitrag nicht schreiben können. So aber kann das Bild von den 'deutschfeindlichen' Medien in vielfältigen Anspielungen gezeichnet werden.

Widmanns Artikel kann als Fortsetzung eines nicht minder demagogischen Beitrags aus dem dritten "Jahrbuch" verstanden werden, der sich ebenfalls "medienkritisch" geriert, und doch nur, in geschickter Inversion der Realität, die vermeintlich deutschfeindlichen und staatskritischen "Vorurteile der Medien" geißelt: Andreas Schröder und Jörg Tykwer lassen sich in ihrer "Fallstudie" über "Vorurteile in den Medien" nicht nur darüber aus, daß "systematisch unterschieden" werden müsse zwischen "uns nahestehenden EG-Ausländern" und "dem großen Rest"; daß die "exorbitanten Mietpreissteigerungen in den letzten Jahren" sowie der Umstand, "daß Deutschland doppelt so dicht besiedelt ist wie Frankreich", mit der "Ausländer"- und "Zuzugsproblematik" zu verbinden sei. Den Autoren geht es im besonderen um die Verteidigung der Deutschen, die sich "aufgrund des Zustroms von Asylsuchenden besorgt Gedanken mach(en) und Fragen stell(en)", gegenüber den Medien, die vermeintlich vorschnell Rassismus in der Bevölkerung witterten. Als rechtsstaatliche Anwälte besorgter deutscher Bürger und Bürgerinnen wird von rechts eine antirassistische Kampagne der ARD kritisiert, die Deutsche vorverurteile. Gelobt wird hingegen die "differenzierte" Sicht eines Talkshowgasts: "Die Kampagne ist einseitig, sie ist einseitig gegen die Deutschen gerichtet und kehrt die Probleme, die viele kriminelle Ausländer in dieses Land gebracht haben, unter den Tisch." Ausgerechnet im "Jahrbuch für Antisemitismusforschung" wird so eine deutsche Opferpsychose zelebriert, die ins offene Ressentiment umschlägt und dieses noch als vorurteilskritisch rationalisiert.

Eine Antisemitismusforschung, die sich wesentlich auf die apologetische Verteidigung von Staat, Polizeibehörden und xenophoben Teilen der deutschen Bevölkerung gegenüber kritischen Stimmen konzentriert, Antisemitismus jedoch als Phänomen des gesellschaftlichen Randes isoliert, hat ihre Legitimation verloren. Sie ist, im buchstäblichen Wortsinn, nicht einmal mehr Antisemitismusforschung.

Wolfgang Benz (Hg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung (6). Campus, Frankfurt/Main und New York 1997,DM 38