Heiliges Grundgesetz

Henning Scherf sei Dank! Er hat unseren Glauben in die Demokratie gerettet. Ja, das Grundgesetz wurde geändert. Aber nur was sich ändert, bleibt sich treu - das wissen wir spätestens seit Biermanns Auftritt in Wildbad Kreuth. Und Bremens Bürgermeister hat uns gezeigt, daß da nicht machthungrige Potentaten am Werke waren, sondern verantwortungsvolle Makler, zerrissen zwischen den zwei Aufgaben: einerseits das Eigentum des Bürgers zu schützen und andererseits seine Freiheit, selbiges möglichst ungestört zu verkaufen und zu erwerben.

Als Gewissensqualen des aufrechten Demokraten Scherf war die letzte Etappe auf dem Weg zum Großen Lauschangriff inszeniert. Begleitet von Presse, Funk und Fernsehen, die das Denkmal Grundgesetz zum Steinbruch herabgewürdigt sahen. Der Preis einer beschädigten Verfassung sei zu hoch gegenüber dem Nutzen für die Polizei, schrieb Marion Gräfin Dönhoff in der Zeit. Ein Angriff auf die Pressefreiheit sei im Gange, wußte der Spiegel, ein Angriff gar auf die Grundfesten der deutschen Demokratie schlechthin. Sein Herausgeber Rudolf Augstein erblickte den "Großen Leviathan": Dieser müsse jetzt, um von seiner Handlungsunfähigkeit bei der Rechtschreibreform abzulenken, seine Überwachungsallmacht beweisen. Und der Vorsitzende des Journalistenverbandes sah einen "Grundpfeiler unserer freiheitlichen Ordnung" fallen, wenn Journalisten und Informanten befürchten müssen, in Redaktionsräumen und Wohnungen abgehört zu werden.

So schlimm wird es schon nicht kommen, ist die Botschaft des Spektakels. Die spät erwachte vierte Macht im Staate funktioniert immer noch: Im Vermittlungsausschuß wird nachgebessert. Und die Grünen konnten sich bei der Gelegenheit noch als faire Mitspieler erweisen. Sie machten in den rot-grünen Koalitionen den Weg frei für Scherfs Ehrenrettung. Indem sie dem Vermittlungsverfahren zustimmten, eröffneten sie ihm einen Weg aus seinem selbstproduzierten Dilemma, Bruch der großen Koalition in Bremen oder Ja zum großen Lauschangriff. Heraus kam das Weiterbestehen der Koalition und ein "Ja, aber später". Denn der Lauschangriff wird Gesetz, das staatliche Kontrollinstrumentarium ausgebaut. Selbst wenn als Ergebnis des Ermittlungsverfahrens und mit Hilfe einiger FDP-Abgeordneter im Bundestag einige Korrekturen in den Ausführungsbestimmungen hängen bleiben.

Die Grundgesetzänderung ist ein Schritt in einem schleichenden Abbau von (Bürger-)Rechten. Da beschleicht auch Leute, die ein weniger religiöses Verhältnis zum Grundgesetz haben, ein unangenehmes Gefühl. Mit der Reform des Grundgesetzes wird eine schon bestehende Praxis in den Verfassungsrang erhoben und die Hemmschwellen für die Ordnungshüter werden herabgesetzt. Daß aber kurz vor Toresschluß die Berufsstände der Ärzte, Rechtsanwälte und Journalisten - angeführt vom Spiegel - aufheulten, hat weniger mit einem qualitativen Sprung Richtung Überwachungsstaat zu tun; mehr damit, daß ihnen die Gesetzesänderung klarmachte, daß es auch Leute treffen kann, die sich als gute Demokraten und Stützen der FDGO sahen. Aber daß in Krisenzeiten oder in Vorbereitung auf dieselben schon mal die Peitsche gezeigt wird, wenn das Zuckerbrot ausgeht, ist nicht neu und läßt noch nicht die Grundfesten wackeln.