Der österreichische Fleck

Ludwig Börne wider die gemütliche Despotie.

Wer immer in Deutschland etwas hat sagen können, ist in Frankreich zur Schule gegangen. Sein Unglück bleibt, daß er es in deutsch sagen muß. "Ich kann in Paris Französisch lernen", schreibt Ludwig Börne in seinem Hauptwerk, den "Briefen aus Paris" (1831-33), "aber, guter Gott! wie lerne ich Deutsch vergessen?"

Von seinem Deutsch, das in seiner epigrammatischen Klarheit, in seiner nicht-empfindsamen Empfindlichkeit so französisch wirkt, glaubte er, es ließe sich nicht ins Französische übersetzen. Daß es gleichwohl in Deutschland nicht verstanden werden würde, ahnte er: "Das Grab ist nicht dunkler, die Wüste nicht dürrer als Deutschland. Was ein seelenloser Wald, was ein toter Felsen vermag: uns das eigne Wort zurückzurufen - nicht einmal dazu kann das blöde Volk dienen."

Einer, der aus Frankreich bloß schmückende Girlanden zurückbrachte, rührende Stickereien, mit denen sich der patriotische Spießer gleich welcher Couleur die Bettwäsche verziert, machte sich lustig über Börnes "kurze Sätze", die "kindische Unbeholfenheit" verrieten: Heinrich Heine hat es in Deutschland weit gebracht, seine Folgen, seine Gefolgschaft sind unübersehbar. An den Schriften seines Gegenspielers Börne kleben Heines Etiketten: "Sansculottismus des Gedankens", "jakobinischer Veitstanz", "Spuren eines wirklichen Wahnsinns", Gefühle und Gedanken, "die man in die Zwangsjacke stecken müßte, denen man die Douche geben sollte". Oder, wie man inzwischen kalt und vornehm zu bemerken gelernt hat: "Gesinnungsästhetik" (Norbert Oellers). Das meint dasselbe.

Die deutschen Republikaner hatte Heine - nicht zu Unrecht, wie sich zeigen sollte - im Verdacht, die Revolution in den deutschen Staaten machen zu wollen, "und sie ahnen nimmermehr, daß namentlich in Deutschland durch Tumult und Straßenauflauf wenig gefördert wird". Auch darin behielt er recht; wenn es auf deutschen Straßen einen Auflauf gibt, handelt es sich meist um einen Pogrom. Doch Börne hegte (trotz seiner Verbindung zu den deutschen Republikanern) ebenfalls starke Vorbehalte: "Möchte es nur bei uns friedlich abgehen; denn eine Revolution der Deutschen wäre selbst mir ein Schrekken. (...) Sie wären imstande und metzelten sich um einen Punkt über das I." Und ganz allgemein: "Die Juden sind dümmer wie Vieh, wenn sie sich einreden, bei entstehender Revolution würden sie von den Regierungen geschützt werden. Nein, man würde sie dem Volkshasse aufopfern." Die Erfahrung, daß auch Revolutionäre dazu imstande sind, blieb Börne erspart.

Was ihn gegen Deutschland aufbrachte, war nicht so sehr die Knechtung der Bevölkerung, sondern daß sie sich knechten ließ, nicht der feudale Zustand, sondern daß die Republik in diesem Lande nicht zu verwirklichen ist. Die Erkenntnis ließ ihn sehen, daß noch die französischen Gefängnisse freier sind als die deutsche Freiheit, daß noch die von den spanischen Despoten Drangsalierten souveräner sich bewegen als Frankfurter Bürger. In dieser Situation führten ihn, wie Heine spottete, "alle Gedankenwege zu Metternich", den Führer der europäischen Reaktion.

"Gott erhalte nur meinen Metternich!" rief er, als es (im Jahr 1831) so aussah, als könnte der österreichische Haus-, Hof- und Staatskanzler seine Macht verlieren. "Metternich war eine reine Farbe, die, der feindlichen entgegengesetzt, es bald zu irgendeiner Entscheidung gebracht hätte; wenn aber nach ihm die graue Neutralität regiert, wird keiner wissen, wo seine Fahne ist, alle werden durcheinander laufen und keiner das Ziel finden. Metternich war starr, eigensinnig, und der Sturm hätte ihn bald gebrochen; sein Nachfolger wird auch nicht weichen, nur vielleicht sich etwas biegen, und alles wird krumm bleiben."

Der Wankelmut der deutschen Fürsten, ihre pfäffische Zudringlichkeit, ihre Nachgiebigkeit in Details, das erhielt die deutsche Knechtseligkeit. Metternichs straffer Polizeistaat, seine unbeugsam konterrevolutionäre Haltung brachten wenigstens die europäische Intelligenz gegen ihn auf; wenn auch in seinem Machtbereich "schreckliche Ruhe" herrschte.

Die Ruhe in Deutschland war weitaus beunruhigender. Teutomanen wie Börnes früherer Kampfgefährte, der Burschenschafter Wolfgang Menzel, konnten sie für einen "Pflanzenschlaf" halten, ein "stilles gedeihliches Wachstum, ein Zeichen innerlicher Fruchtbarkeit, das Wohlbehagen einer hoffnungsvollen Mutter, eine beträchtliche musikalische Pause". Für Börne hatte dieses "Polizei Eija-Popeija" soviel "Angähnendes, Einschläferndes, Nachtmützenartiges und Eintölpendes, daß man, schon schlaftrunken, nach der ersten besten Fronvogtei hintaumeln möchte und dort ehrerbietig stammeln: 'Wir pausieren zwar beträchtlich, sind nur im stillen fruchtbar, warten geduldig auf unsere Niederkunft und schlafen unseren guten deutschen Pflanzenschlaf; doch könnte es geschehen, daß wir einmal im Schlafe ungebührlich mit den Blättern flüstern; darum sperrt uns ein, lieber Herr Vogt, um uns gegen unsere eigene Exaltation sicherzustellen. Tut das, lieber Herr!'" ("Menzel der Franzosenfresser", 1836)

In großer Sorge, die Ruhe stören zu können, sorgten sich die Deutschen, "der geborne Mittelstand", stets nur um die Wiederherstellung der Ruhe. Und als sie, zwölf Jahre nach Börnes Tod, Revolution machten, trat ein, was er befürchtet hatte: Sie vertrieben Metternich, aber sie beendeten nicht seine Despotie, sondern milderten sie nur, verfeinerten sie, erhielten sie.

Die Macht, die Metternich und die Reaktion über die Deutschen hatten, spürte Börne am eigenen Leib: "Wie das Herz der Welt überhaupt, so hat doch auch jedes Herz, auch des besten Menschen, einen Fleck, der ist gut österreichisch gesinnt - er ist das böse Prinzip. Diesen schwarzen Fleck in der Welt wie im Menschen weiß Österreich zu treffen. Und darum gelingt ihm so vieles." Die emotionale Trägheit, der Wunsch nach Gleichgewicht, nach "Indifferentismus", kurz: der Todestrieb - das ist die psychische Voraussetzung für die ideologische Unterwerfung, für das Sich-Fügen in die patriarchalen Formgesetze. Für Börne galt das ganz wörtlich: Sein Vater, der "Handelsjude in Wechselgeschäften" Jakob Baruch, war seit gemeinsamen Schultagen in Fühlung mit Klemens Fürst von Metternich. Eine Verbindung, die der Vater geschickt zu nutzen wußte. Nicht nur seine Höflichkeit, vor allem sein "Phlegma" habe ihm die Großen der Welt gewogen gemacht, hieß es über den alten Baruch.

Die Selbst-Verleugnung, ja Selbst-Auslöschung, die vollständige Unterwerfung - die immerhin reich vergütet wurden -, das blieben die väterlichen Prinzipien, dagegen rebellierte der Sohn, der wußte, er hätte mit einer Vernichtung von Sehnsucht für diese Unterwerfung zahlen müssen.

Aber hatte er nicht sich selbst verleugnet, als er, geboren als Juda Löw Baruch, dem Pfarrer zwei Louisdor gab, um sich taufen zu lassen? Börne war religiös, aber nicht fromm; das Geld legte er für "ein Plätzchen im deutschen Narrenhause" an, eine Ausgabe, die er später für eine "törichte Verschwendung" hielt. Nein, nicht sich selbst hatte er verleugnet, aber den nom-du-père, in dem für ihn das philiströse Phlegma beschlossen lag, aus dem alles Verderben kam. So stellte er, der wie kaum ein anderer Schriftsteller seiner Zeit für die Rechte der Juden eintrat, den Imperativ: "Seid keine Philister!" ans Ende seiner Streitschrift "Der ewige Jude" (1821). Börne war überzeugt, die "Flamme des Hasses" gegen die Juden habe nur einmal noch aufflammen müssen, "um auf ewig zu verlöschen". Ein schwerer Irrtum; der Haß des Abgestumpften ist ein anderer als der des Nervösen. Was sich unter der riesigen Schlafmütze vorbereitete, die Deutschland bedeckte, konnte auch Börne nicht ahnen.

Die Rebellion gegen das österreichische Prinzip war nicht nur politisch, sondern auch psychologisch motiviert, und Börne rebellierte nicht nur auf politischem, sondern auch auf künstlerisch-literarischem Feld: Dieses regierte, unangefochten, der Olympier Goethe, gleichgültig gegenüber den Umwälzungen der Zeit, ein Geheimrat unter Höflingen, der sich seiner Kunst widmete wie andere der Rosenzucht. Börne haßte ihn wie niemanden sonst auf der Welt.

Goethe, schrieb Börne, sei mit einem "Wiener Schlafwagen (...) nach der Champagne" gereist, ein Schlafwagen, "der ihm so wert war und von dem er so viel erzählte, daß er ganz die Französische Revolution darüber vergaß. Der Glückliche." Das Glück des Trägen, der lieber im Wiener Luxus schlummern will als an der Revolution Anteil zu nehmen - und sei es durch den Haß gegen sie -, brachte Börne mehr auf als die wütende Verfolgung, die finsterste Reaktion.

Der "Stabilitätsnarr", der über den Dingen zu schweben schien, der sich vom "Werdenden, Beweglichen, Schwankenden, Strebenden, Widerstrebenden" abwandte, weil nur das "Gewordene, Seiende, Notwendige, Unbewegliche" dem "Meißel still hält", mußte also den Zwang, das Zwangssystem lieben. Die mörderische Ruhe über Deutschland war sein künstlerischer Vorteil. Unter allen Schmähungen, die Börne gegen Goethe ausstieß, war die fürchterlichste, er habe die Zeit an den Raum festnageln wollen.

In einer kulturellen Umgebung, in der von Hegels dialektischem Lob des Herrschenden bis Luhmanns System-Äquilibrium das Starre, Verfestigte, Tote noch immer den Sieg davongetragen hat, konnte Börne nur als ein "Gesinnungsästhet" gelten, nicht als ein Künstler. In einer anderen, westlicheren Welt aber, dort, wo Stendhal auf der Flucht vor Metternichs Polizisten und zum Ruhme der Französischen Revolution seine Romane schrieb, läßt sich auch Börne verstehen: "Nur die Sehnsucht macht reich." Ein deutscher Satz, französisch zu lesen.