Ein Liebeslied

Vor zwanzig Jahren veröffentlichte Marvin Gaye sein bestes Album: "Here, My Dear"

Sie habe ihm gesagt, er könne sie verlassen, aber es werde ihn teuer zu stehen kommen, sehr teuer. Sie habe ja immer einen teuren Stil bevorzugt, gab er zurück, dennoch werde er ihr nichts schuldig bleiben. Die traurigste Platte des traurigsten Sängers der Welt rekapituliert bis in die bitteren Details die Geschichte seiner Ehe und seiner Scheidung.

Marvin Gaye hatte Anna Gordy, die Schwester des Besitzers von Motown Records, 1964 geheiratet. Sie war es, die ihn immer aufs neue ermutigte, antrieb - sagte er. Sie war es, die ihn einschloß und bevormundete - sagte er auch. Anfang der siebziger Jahre war die Ehe zerrüttet. Gaye lernte während der Aufnahmen zu "Let's Get It On" (1973), seines erotischen Manifestes, die damals 17 Jahre alte Janis Hunter kennen und lebte fortan mit ihr zusammen. 1975 endlich reichte Anna Gordy die Scheidung ein. Weil der durch sein Leben torkelnde Gaye ihr keine Alimente gezahlt hatte, forderte sie eine Million Dollar Abfindung.

Gaye war bereits verschuldet, sein Anwalt handelte mit Gordys Anwalt einen Vergleich aus: Der Sänger sollte seiner geschiedenen Frau die üblichen 305 000 Dollar Vorschuß für seine nächste Platte plus 295 000 Dollar aus dem Gewinn, den sie einspielt, zukommen lassen. Beschlossen und verkündet. Gaye nahm "Here, My Dear" auf. Einziges Thema des Doppel-Albums: seine von ihm geschiedene Frau, Anna.

Ich sollte es dir vielleicht sagen, beginnt er, dieses Album ist dir gewidmet. Das wolltest du doch so, oder? Ich hoffe, es gefällt dir. Es ist viel Wahrheit darin. Ich bedauere nichts, ich bedauere nicht, dich verlassen zu haben. Dann versenkt er sich immer tiefer in seine Erinnerungen. Er sieht sie vor sich als ein kleines Mädchen (Anna Gordy war tatsächlich 17 Jahre älter als Gaye). Er erinnert sich an ihre erste Nacht, seinen Glauben an die Ewigkeit der Liebe, die Heirat. Die Zweifel, ob die Zeit nicht alles verändern wird, die Zweifel, ob man eine Ehe auf Liebe bauen kann oder nicht. Heirate oder heirate nicht, bereuen wirst du beides.

Dann die Lügen, ihre besitzergreifende Eifersucht, der Streit, der Schmerz, die Tränen. Möge Liebe jemals Besitz von dir ergreifen, spottet er, um gleich darauf zu fragen: Wann hast du aufgehört, mich zu lieben? Er entblößt sich, gibt sich weinerlich ("Warum muß ich Anwaltshonorare zahlen?"), hart ("Alle deine Versprechungen waren nichts als Lügen"), ironisch ("Ich war von Anfang an ein Idiot, du warst ja die Bessere in der Schule"). Sein Grundton, zu dem er stets zurückkehrt, ist die allerwehmütigste, allerweichste Trauer.

Zum ersten Mal hatte er diesen Ton auf "What's Going On" (1971) angeschlagen, dem Album, das alles veränderte. Ein Chartbreaker, als der Gaye damals galt, verfaßte eine politische Anklage, das erste Konzeptalbum des Rhythm & Blues. Eine sanfte Apokalypse, eine intelligente Montage. Motown-Chef Berry Gordy weigerte sich erst, das herauszubringen; es wurde ein Hit. Die weiße Kritik weigerte sich, das ernst zu nehmen. Der ohnehin etwas bornierte Robert Christgau in der Village Voice: "Nur drei gute Stücke." Man war noch auf die Hitparade eingestellt.

Allerdings könnte man ernsthaft fragen: Wieviele Stücke enthält "Here, My Dear"? Bis zum hundertsten Anhören hätte ich gesagt: ein einziges. Dann entdeckte ich, daß wenigstens zwölf Stücke darauf sind. Seit dem tausendsten Anhören glaube ich wieder, daß es nur ein Stück ist. Es ist immer dieselbe "Höllenfahrt der Selbsterkenntnis" Gayes, die aufwirbelnden Bilder, die nachgelebten Stimmungen, der Schrecken über einen längst vergessen geglaubten Schrecken, ein sanft pulsender Groove, der sich plötzlich verdichtet, sich verliert und wiederkehrt, die schmeichelnde, bettelnde, müde, ironische, fordernde, energische, sehnsüchtige Stimme, die schneidend klingen kann, ohne sich bedeutend zu erheben, die sehr ausgedehnten Modulationen von Gesang und Musik, und am Ende - "it's been a fantastic trip" - glaubt man zu erwachen.

In den liner notes zum CD-Reprint des Doppel-Albums schreibt Gayes Biograph, David Ritz, der Sänger habe nie etwas vorbereitet, weder Komposition noch Text, er habe sich mit seinem Tontechniker Art Stewart in seinem Studio verschanzt, dicht vor sich das Mikrophon und ein Keyboard, aus einem Murmeln seien Verse geworden, aus einigen improvisierten Griffen Musik. Das dauerte Monate.

"Ich sang und sang, bis ich mich von allem gelöst hatte, was ich durchlebte", sagte Gaye über "Here, My Dear". Nachdem alles abgemischt war, hatte er Angst, es herauszubringen. Erst ein Jahr danach entschloß er sich dazu. Er ließ seine geschiedene Frau in das Studio bitten. Während er selbst im Loft des Gebäudes wartete, hörte Anna Gordy die Bänder an. "Sie sagte nicht viel und ging wieder", berichtete Art Stewart. Gaye habe herausfinden wollen, wie sehr er sie verletzen kann, bemerkte sie 1978 in einem Interview. Aber vor allem hatte er sich selbst verletzt. Auf dem unglaublich häßlichen Cover sieht man vorne den Sänger als römische Statue neben der Skulptur eines Liebespaars und der Aufschrift "Love and Marriage", auf der Rückseite heißt es "Pain and Divorce", die Statue ist niedergebrannt, nur das Liebespaar ist in den schwelenden Ruinen noch zu sehen.

"Here, My Dear" wurde einer der größten finanziellen Mißerfolge von Marvin Gaye. Als er immer mehr in Schwierigkeiten kam, in den Jahren, bevor ihn (am 1. April 1984) sein Vater nach einem Streit erschoß, als er vor der Steuerfahndung fliehen mußte und auch Drogen seine Verzweiflung nicht genügend dämpften, sei er häufig bei ihr gewesen, sagte Anna Gordy dem Biographen. "Am Ende, als er sehr krank war, kam er oft, um mich zu sehen. Wir blieben uns nah." Ich hätte fast vergessen, es zu erwähnen: "Here, My Dear" ist ein Liebeslied.

Marvin Gaye: "Here, My Dear". Motown 1978 (CD: 1993). Aus dem Nachlaß Marvin Gayes wurde gerade veröffentlicht: "Vulnerable". CBS