»Halb Linksradikale, halb Ganoven«

Frankreichs Unternehmer machen Druck wegen der 35-Stunden-Woche. Die Arbeitslosen üben "proletarische Einkäufe"

Schon zu Beginn des Verhandlungsmarathons zur Einführung der 35-Stunden-Woche in Frankreich (siehe Jungle World, Nr. 8/98) platzte eine kleine Bombe. Der Präsident des Unternehmerverbands CNPF, Ernest-Antoine Seillière, erklärte in einem Interview auf Radio Classique: "Wenn man das Gesetz über die 35-Stunden-Woche anwenden will, so wird dies unweigerlich dazu führen, die Geltung der Tarifverträge in Frage zu stellen."

Der "Boß der Bosse" drohte auf diese Weise indirekt damit, alle bisher in Tarifverträgen festgeschriebenen Vorteile für die abhängig Beschäftigten aufzuheben, sollte die Kapitalseite ihre Interessen im Zuge der Umsetzung des 35-Stunden-Beschlusses berührt sehen. "Der CNPF nimmt die Tarifverträge zur Geisel", titelte die linksliberale Libération daraufhin. Denn gesetzlich hat die Unternehmerschaft das Recht, einen geltenden Tarifvertrag einseitig aufzukündigen.

In Frankreich ist eine "soziale Friedenspflicht" unbekannt, wie sie in der BRD seit Jahrzehnten die Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital in einem ordentlichen Rahmen hält. Wird ein Tarifvertrag gekündigt, so gelten - können die beiden Seiten sich nicht während der Auslaufzeit auf den Abschluß eines neuen einigen - lediglich die im Arbeitsgesetzbuch garantierten Mindeststandards.

Die Unternehmerschaft hat sich offenkundig zu einem Angriff auf den gesamten "sozialen Dialog" entschlossen und nimmt das Risiko in Kauf, die Beziehungen zwischen den sogenannten Sozialpartnern auf breiter Front zu verschlechtern. Damit hätte sich die harte Linie durchgesetzt, die der Rüstungsfabrikant und Flugzeugbauer Serge Dassault in den kontroversen internen Debatten des CNPF energisch verficht.

In einigen Branchen sind den Drohungen bereits Taten gefolgt: So haben die Banken einen Tarifvertrag, der für 400 000 Beschäftigte gilt, am 3. Februar gekündigt. Die Unternehmer nehmen die Verhandlungen um die 35-Stunden-Woche, die auf diesem Sektor bereits begonnen hatten, zum Anlaß, um Bestimmungen zum Kündigungsschutz, zur Festlegung der Gehaltsklassen und zur Wochenendarbeit in Frage zu stellen.

In der Atomindustrie hat das CEA (Commissariat ˆ l'énergie atomique, 17 000 Beschäftigte) schon am 20. Januar den Tarifvertrag platzen lassen und 15 Monate Zeit für Neuverhandlungen angesetzt. "Kommt es nicht zu einem Abkommen, wird dieses Nuklearunternehmen im Staatsbesitz zu den Minimalregeln des Arbeitsgesetzbuchs zurückkehren. Fast unvorstellbar, angesichts der ungeheuren Bedeutung der (tarifvertraglich geregelten; B.S.) Bestimmungen im Sicherheitsbereich", konstatiert Libération. Die Zuckerindustrie wiederum hat Ende Januar die Kündigung ihres Tarifvertrags für den 30. April angekündigt.

Doch nicht allein die Bosse intervenieren derzeit offensiv in das Feld der sozialen Beziehungen, welches die regierenden Sozialisten mittels des erhofften "sozialpartnerschaftlichen" Deals rund um die 35-Stunden-Woche (Arbeitsverkürzung gegen mehr "Flexibilität") gern in einen Hort von Dialog und Konsens umwandeln würden. Auch die Organisationen der Arbeitslosen machten in den letzten beiden Wochen erneut mit Nadelstich-Aktionen von sich reden. Beispielsweise wurden die Leitungen mehrerer Supermärkte durch Besetzungsaktionen dazu gebracht, den kostenlosen Einkauf jeweils mehrerer Dutzend Arbeitsloser zu akzeptieren. Weniger erfolgreich verlief eine ähnliche Aktion vor einem An- und Verkaufszentrum für gebrauchte Elektrogeräte in Paris am 12. Februar: Vier Arbeitslose wurden festgenommen. Sie sitzen seither in Haft und warten auf ihren Verhandlungstermin im beschleunigten Strafverfahren am 26. Februar. Die Arbeitslosen-Basisbewegung AC! prangert deswegen "die polizeiliche Repression, die sich unaufhörlich entwickelt", an.

Der KP-nahen Erwerbslosenvereinigung APEIS dagegen kritisiert die Aktionsform: Diese Aktivität von "Elementen, die halb Linksradikale und halb Ganoven sind", sorge dafür, "die Arbeitslosenbewegung zu diskreditieren". Weniger Angst vor Diskreditierung hat offenbar die KP-nahe Gewerkschaft CGT. Sie unterstützte den kostenlosen Einkauf von 40 Erwerbslosen in einem Supermarkt im nordfranzösischen Ballungsraum Lille / Roubaix. Der konservative Figaro schäumte: "Arbeitslose: Aufrufe zur Plünderung" und: "Wenn die CGT die Überfälle von Arbeitslosen absegnet".

Für den 7. März ist der nächste landesweite Demonstrationstag der Erwerbslosenbewegungen angesetzt. An diesem Tag beginnt voraussichtlich die Debatte über das geplante "Gesetz gegen die soziale Ausgrenzung". Und am 1. Mai sollen - wie schon in mehreren Jahren zuvor - von einigen Ecken Frankreichs aus Erwerbslosenmärsche aufbrechen, um Anfang Juni in Paris zusammenzutreffen. Der von den Sozialisten erhoffte soziale Konsens ist jedenfalls nicht in Sicht.