Wo der Sinn entflieht

Zum 60. Geburtstag des Zeichners, Malers, Parodisten und Lyrikers F.W. Bernstein

Was der Zeichner, Maler, Parodist, mitunter Satiriker, der Prosaverfertiger und Lyriker kann, es gleicht dem hellst strahlenden Wahnsinn. Nein, hier, bei Bernstein und angesichts seines Wirkens, danken wir ausnahmsweise dem Erdenerbauer, daß er den Superlativ erfand oder wenigstens zuließ. Wer einmal dem Charme der Bernsteinschen Universalartistik erlag, ist verloren für den Ernst und die Verquollenheiten dieser Scheißwelt, für Dümmlichkeiten rechter wie linker Daseinsbequarkelung, für das allgemeine Remmidemmi und Getue und Getute all der qualvoll wichtig dünkenden Betriebswurstbrüder, die selbstredend keinen blassen Schimmer davon haben, was Bernstein Großes seit 1964 leistet, als er zusammen mit Robert Gernhardt und F.K. Waechter die Pardon-Seiten "Welt im Spiegel" begründete.

Bernsteins Arbeiten zeichnen sich u.a. durch ein Interesse an den Kleinigkeiten und unscheinbaren Details der belebten Welt aus. Sein Strich zittert mal, mal schafft er schroffe Konturen, mal schraffiert Bernstein furios, mal erzeugt er monochrome Flächen. Von der Farbe versteht er, obschon er sich selten ihrer bedient, mehr als die wildesten Gestikulierer. Niemals wirkt Berstein prätentiös; seine Bescheidenheit und Freundlichkeit, vielleicht ein Grund, daß ihn das Feuilleton wohlwollend ignoriert, scheinen in Themen, Motiven und Techniken wiederzukehren. Häuser sehen wir da, wie sie gebaut und abgerissen werden, den Schrippenwagen, öffentliche Plätze, den Tresen. Nichts strebt zur Kunst, und schon ist's, als wäre es das Leichteste, die größte Kunst.

Von Eckhard Henscheid stammt das schöne Wort, Bernstein habe die "minimalartige Chaoskomik" begründet. Während Robert Gernhardt als Zeichner und Lyriker formale Glätte und Rundung präferiert, läßt Bernstein in seinen langen komischen Gedichten, seinen Balladen, seinen Knapptexten vorgefundene Bilder und Ideolekte kollidieren, faßt er Disparates, Sprachschott unter der Obhut von Reim und Rhythmus zusammen. Die Eleganz seiner Miniaturen ist beispiellos, nie spekuliert Bernstein auf den schnellen Witz, die krachende Pointe, und den Lachkanonen-Betrieb hält er einfach nicht bei Laune.

Die Bernsteinsche Reimkunst brachte und bringt Gedichte hervor, die standhalten. Bernsteins legendärer Zweizeiler "Die schärfsten Kritiker der Elche/waren früher selber welche" wird dabei locker allenthalben überflügelt; durch die besinnliche "Warnung an alle", z.B.: "In mir erwacht das Tier, / es ähnelt einem Stier. / Das ist ja gar nicht wahr, / in mir sind Tiere rar.// In mir ist's nicht geheuer, / da schläft der Zuckerstreuer. / Und wenn der mal erwacht, / dann Gute Nacht!"

Bernstein hat die totgeglaubte Ode zu neuen Ufern geführt: "O du Werkzeug, / mit dem man klopft, / einschlägt, / zerteppert -, / Du Instrument / des Aufbaus / und des Abbaus, / je / nachdem -, / man kann Dich / zu Kriegszwecken / benutzen, / aber auch / zu Werken des Friedens. / Letzteres will ich loben. / Doch das mit / den / Kriegszwecken; / Hammer! / Das / will mir gar nicht gefallen!" Uns aber will wieder und wieder gefallen, wie Bernstein auf Papier mit Stift und Pinsel Welt erschafft. Sein Interesse gilt vornehmlich dem Tier und auch sehr stark dem menschlichen Beziehungsgewuschel, den Straßen und allem, was da vor sich geht, sein Blick ist präzis, seine Beobachtungsgabe hochgradig angereizt, sein konzentriertes Umherschweifen das eines liebevoll den alltäglichen Geschehnissen zugewandten, eines unerhört aufgeschlossenen Flaneurs. Selten tadelt Bernstein (die "Sesamstraße" allerdings unterzog er im Rahmen der taz-Serie "TV-Zombies" einer beispiellos komischen und feurigen Kritik); er, der große Lober der Zeichenkunst und ihrer Schöpfer, der Enzyklopädist, der uns das skandalös gute "Buch der Zeichnerei" schenkte, der Pädagoge, der zeigt, ohne zu pädagogisieren, und wie beiläufig die Unwissenden Kunstgeschichte lehrt (seit 1984 hat er die erste und einzige Professur für Karikatur und Bildergeschichte an der Berliner HdK inne), er, Bernstein, gebietet über Stillagen und Sounds, ohne jemals vorführen zu wollen. Hinsehen! Gucken! Staunen! fordert er uns und skizziert (eins meiner tausend Lieblingsblätter, zu bestaunen im opulenten Band "Der Blechbläser und sein Kind") "13 Liebesübungen". Vorschwung, Rückschwung, Vorhocken links; Anhocken in die Seitgrätschstellung, sofortiges Schließen der Beine, schwingendes Vor- und Rückspreizen usw.

"Gibt es Zeichenverbote?" wollte Fritz Weigle von seinem Alter ego Bernstein wissen. "Ja", replizierte er. Und welche? Na, "dieses: Zeichne nie ein Tier zum Spaß / Tust Du's trotzdem, merk Dir das: /streng geschützt vor Deinem Strich / sind der Kauz, das Huhn und ich. / Zeichnest Du von uns auch nur / eine Spur von der Kontur / werden ich und Kauz und Huhn / Dir etwas zuleide tun."

"Wo die Wörter rumpeln, wo der Sinn entflieht, / wo die Sprache sich wutsch dem Verständnis entzieht", ist Bernstein zu Hause. Jeder, der mag, kann diese wunderbare Welt entdecken, kann "Die Stunde der Männertränen" und den "Lockruf der Liebe" erwerben und lesen und die schätzungsweise viereinhalbtausend Bilder bestaunen, die endlich einmal gesammelt und gebündelt gesichert und präsentiert gehörten. Dann würde auch ein bislang allein von Eckhard Henscheid beschriebener Aspekt des Bernsteinschen Werkes sichtbar: "Am größten ist Bernstein vielleicht, nein, ganz gewiß als Naturwissenschaftler: als einer, der aber auch alle Dimensionen des Planeten und der Galaxien wie überhaupt des globalen Weltalls aber auch schon derart unverdrossen Revue passieren und durch die Rübe rauschen heißt, daß - daß - dieser Gedanke jetzt lang genug geschwurbelt hat" und - ja - auch ich leider abbrechen muß.

In der Caricatura im KulturBahnhof Kassel ist bis zum 19.April die Bernstein-Jubiläums-Werkschau zu sehen. Dienstags bis sonntags 12 bis 21 Uhr