Wer sind Sie eigentlich, Genosse?

Sergej Eisenstein und "Iwan der Schreckliche". Die antisemitischen Kampagnen gegen Künstler in der Sowjetunion

"Ich bin", schreibt Sergej Eisenstein während seines Aufenthalts in den USA 1931, "in bester Gesellschaft, nämlich absolut allein. Ich bin der Ewige Jude oder Dante, der durch die Hölle ritt - von einem Unglück in das nächste, meist noch schwereres, aus einem Desaster in das nächste."

Dem, der hier wie Hiob klagt, machte seine jüdische Herkunft zunächst weniger Schwierigkeiten als die bürgerliche soziale Stellung des deutschstämmigen Vaters und die familiären Besitzverhältnisse der russischen Mutter. Zwar sah sich Eisenstein nach seiner Rückkehr aus den USA dem Vorwurf des "Kosmopolitismus" ausgesetzt - eine Kritik, die insbesondere Juden traf -, schwerer wog jedoch, daß er als Vertreter der kleinbürgerlichen Intelligenz eingestuft wurde, der sich an die Fersen des Proletariats geheftet habe. Seine Herkunft und die geistige Orientierung - so die Vorwürfe gegen den Künstler - versperrten ihm den Weg zur exakten Analyse entscheidender Stadien der sozialistischen Revolution und führten ihn in die Sackgasse der reaktionären Montage-Theorie, das hätten seine Filme "Oktober" und "Das Alte und das Neue" gezeigt.

In Moskau begann nach seiner Rückkehr eine erbitterte Diskussion über die Montage-Technik, die zum "formalistischen" Verfahren abgestempelt wurde. Im Gegenzug wurde ein Programm für eine sowjetische Kinematographie entwickelt, das die Massen erreichen sollte: Einfache, nachvollziehbare Geschichten, Stars, klare Aussagen, leichte Musik - und keine Formexperimente. Nichts von dem, was Eisenstein in den zwanziger Jahren als Musterbeispiel für den russischen Revolutionsfilm etabliert hatte, sollte weiterbestehen.

Der Vorwurf des Formalismus war bereits 1933 als Gegensatz zum sozialistischen Realismus ins Spiel gebracht worden, nun bekam er weitere Differenzierungen. Wurden früher Künstler wegen ihrer politischen Position kritisiert, so reichten jetzt schon ästhetische Kriterien aus, um sie der Konterrevolution zu bezichtigen. So wurde Eisensteins Film "Beshinwiese", ein Auftragswerk, verurteilt und der Regisseur aufgefordert, öffentlich Selbstkritik zu üben. Eisenstein reagierte darauf zwar mit dem Artikel "Die Fehler der 'Beshinwiese'", konnte in der Folgezeit jedoch keine Filme drehen, und erst mit "Alexander Newski" erhielt er eine Chance, sich zu rehabilitieren. Der Film, eine politischen Warnung an den deutschen Faschismus, wurde verstanden und entsprechend begrüßt, aber nach dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt mit Rücksicht auf die neue politische Verbindung bald wieder abgesetzt.

Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion gründete sich das "Jüdische Antifaschistische Komitee" (JAK): Was vom organisierten Leben der sowjetischen Juden übriggeblieben war, war in den Moskauer Prozessen und ihren antisemitischen Verschwörungskonstruktionen endgültig zerstört worden. Bei Ausbruch des Krieges wurde jedoch schnell erkennbar, daß eine neue Körperschaft gebraucht wurde, um die Energien jüdischer Künstler in die sowjetischen Kriegsanstrengungen einzubinden. Die Hauptaufgabe des JAK bestand darin, die Auslandspropaganda der Sowjetunion zur Eröffnung einer zweiten Front zu unterstützen und Juden in aller Welt aufzufordern, der UdSSR gegen den gemeinsamen Feind zu helfen. Auch Eisenstein wurde im August 1941 Mitglied des JAK. Am 24. August sprach er in der nach Amerika übertragenen Sendung "To Brothers Jews of All the World". Diese Rundfunkansprache wurde mitgeschnitten und 1942 in dem britischen Film "To the Jews of the World" eingesetzt.

Stalin, der am Film als Medium der Propaganda besonders interessiert war, prüfte jeden sowjetischen Film, der in den beiden Mosfilm-Studios in der Hauptstadt oder im Lenfilm-Studio in Leningrad produziert wurde, und machte keinen Hehl daraus, daß er in der Filmindustrie wie in anderen Kulturinstitutionen jüdische Künstler für zu einflußreich hielt.

Eisensteins auf zwei Teile angelegte Filmtragödie "Iwan der Schreckliche" ließ ihn erneut mit den politischen Vorstellungen der Partei zusammenstoßen. Teil eins erschien Ende 1944, sein Autor erhielt den Lenin-Orden. Teil zwei, "Die Verschwörung der Bojaren", wurde nicht fertiggestellt, das Material war wegen der aktuellen Bezüge heftigen Angriffen ausgesetzt. Am 24. Februar 1947 mußten Eisenstein und der Schauspieler Nikolai Tscherkassow, der die Rolle des Iwan spielte, zu einem Gespräch mit Stalin in den Kreml kommen. Anwesend waren außerdem der für die Kultur verantwortliche Andrej A. Shdanow und Wjatschelaw M. Molotow, der Außenminister und einer der engsten Vertrauten Stalins.

Stalin, der sich mit Iwan stärker als mit jeder anderen historischen Persönlichkeit identifizierte, meinte, kein Jude, wie berühmt er als Filmemacher auch sein mochte, könne über Iwan so viel wissen wie er. Stalin belehrte Eisenstein darüber, der Hauptfehler Iwans des Schrecklichen sei, daß er die fünf letzten großen Bojarengeschlechter nicht liquidiert habe. "Hätte er diese Familien ausgelöscht, wäre es nicht zu einer Leidenszeit gekommen."

Stalin wollte Iwan als großen und weisen Zaren, keinesfalls als Wahnsinnigen dargestellt wissen, wogegen Eisenstein ihn als Zauderer - "ein bißchen wie Hamlet" - gezeichnet hatte. Nach Stalins Auffassung durfte es keine Hinweise auf die paranoide Persönlichkeit oder die sexuelle Ambivalenz der Figur geben. Daß Eisenstein auf die homoerotische Komponente der Persönlichkeit Iwans des Schrecklichen, Stalins Alter ego, anspielte, war für Stalin unerträglich.

Tadeln lassen mußte sich Eisenstein von Stalin für seine Darstellung der Opritschniki, Iwans "Geheimpolizei", die als ein Haufen von Degenerierten erscheine. "Bei Ihnen ist die Opritschnina nicht richtig dargestellt. Die Opritschnina ist ein königliches Heer. Bei Ihnen dagegen wird sie wie der Ku-Klux-Klan dargestellt." Eisenstein erwiderte: "Der Ku-Klux-Klan hat weiße Kapuzen auf, bei uns sind sie schwarz." Darauf Molotow: "Das ist kein prinzipieller Unterschied."

Nach dem Gedächtnisprotokoll, das Eisenstein unmittelbar nach der Begegnung anfertigte, sagt Stalin wörtlich: "Die Weisheit Iwans des Schrecklichen lag darin, daß er keine Ausländer in sein Land ließ, womit er es vor fremdländischem Einfluß bewahrte. In dieser Richtung zeigt Ihre Darstellung Iwans Abweichungen und Irrtümer. (...) Peter der Große war auch ein großer Herrscher, doch er verhielt sich zu liberal gegenüber Ausländern. Er ließ die deutsche Überfremdung Rußlands zu. (...) Wer sind Sie eigentlich, Genosse Eisenstein? Ein Deutscher? Ein Jude? (...) Ach ja, Sie waren doch in diesem 'Jüdischen Antifaschistischen Komitee'. Wußten Sie, daß die meisten dort Verräter waren und mit 'Joint' ( American Jewish Joint Distribution Committee; Red.), diesem Spionagenest, in Verbindung standen?"

Unmittelbar nach seiner Begegnung im Kreml verfaßte Eisenstein eine öffentliche Entschuldigung für seine "Irrtümer" und schrieb einen langen Artikel, in dem er bekannte, Iwans bedeutsame Rolle in der russischen Geschichte völlig fehlinterpretiert zu haben, so daß der Film "im ideologischen Sinn wertlos und schädlich geworden" sei. Es wäre besser gewesen, so Eisenstein, sich "auf Iwan, den Erbauer, Iwan, den Schöpfer einer neuen, starken, vereinten russischen Macht, zu konzentrieren".

Schostakowitsch, der sich Stalins Vorstellungen über Kunst ebenfalls anhören mußte, nennt Eisenstein in seinen Memoiren einen stalinistischen Lakaien, der, wie auch der Dichter Wladimir Majakowski, "sein Gestammel zur Verherrlichung des unsterblichen Bildes unseres Führers und Lehrers dazugab". "Eisenstein", schrieb Schostakowitsch, "hatte überhaupt kein Gewissen, aber Angst hatte er, viel Angst."

Anfang 1946 hatte eine Kampagne gegen den Einfluß der Juden in der Kultur begonnen. Daß sowjetische Juden Opfer des ehemaligen Kriegsgegners waren - etwa die Hälfte der sowjetischen Juden waren umgebracht worden -, vermehrte die Sympathie für die jüdische Bevölkerung nicht. Im Gegenteil. Dmitri Schostakowitsch sagte über diese Periode: "lch mußte sehen, wie überall um mich herum der Antisemitismus wuchs.". Und diese Angst war auch berechtigt, denn die Intelligenzija, zumal die jüdische, hatten allen Grund, wachsam zu sein. Im Januar 1948 bekamen sowjetische Juden eine leise Ahnung von dem, was auf sie zukommen sollte.

Shdanows zweijähriges Regime des Kulturterrors gegen die Intelligenzija - als "Shdanowstschina" bezeichnet - ging von der Kritik zum Mord über. Im Januar 1948 begann eine Kampagne gegen den "Kosmopolitismus", gegen "fremdländische Einflüsse", vor denen nach Stalins Meinung Iwan der Schreckliche Rußland zu bewahren gewußt habe.

Die nun attackierten "heimatlosen Kosmopoliten" waren allesamt jüdischer Herkunft, hauptsächlich betroffen waren Theater- und Musikkritiker. Die Werke der Schriftsteller, unter ihnen Eduard Bagrizki, Michail Swedlow, Wassili Grossmann, wurden verboten, auch das "Schwarzbuch" von Ehrenburg und Grossmann über die Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg auf sowjetischem Territorium durch die Deutschen. Aus dem Großen Saal des Konservatoriums entfernte man das Porträt des Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy. Der Schauspieler und Regisseur Solomon Michoels wurde bei einem inszenierten Verkehrsunfall in Minsk getötet, die Schriftsteller Izik Fefer und Perez Markisch vier Jahre später wegen Spionage hingerichtet, andere wurden in die Verbannung geschickt. Viele Opfer dieser antisemitischen Kampagne waren Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees gewesen, denen Verbindungen zu der amerikanischen jüdischen Organisation Joint und Zusammenarbeit mit den US-Geheimdiensten vorgeworfen wurde.

Eisenstein wurde in die Kommission für die Beisetzung Michoels' berufen. Als er am Sarg stand, soll er einem Nachbarn zugeflüstert haben, er werde das nächste Opfer dieser neuen Terrorwelle sein. Doch er sollte sie nicht mehr erleben. Eisenstein war eines der wenigen Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, das eines natürlichen Todes starb - im Alter von 50 Jahren, am 10. Februar 1948.