Catwalk zum Crash

Dieter Schnebels "Majakowskis Tod" in der Oper Leipzig

Seit den sechziger Jahren träumte der Komponist, Musikwissenschaftler und Theologe Dieter Schnebel (Jahrgang 1930) davon, eine Oper zu schreiben. Auch deren Thema stand längst fest - "immer sollte es Majakowski sein: der große Sänger der Revolution". Majakowski, geboren 1893, schoß sich 1930 mit der Pistole ins Herz: "Sterben ist hienieden keine Kunst. Schwerer ists: das Leben baun auf Erden."

Mit drei Szenen über diesen Tod begann Schnebel seine Komposition: Abschied von der Sehnsucht, mit der Kunst gesellschaftlich eingreifen zu können ("Letzter Kampf"), Verzicht auf die Liebe ("Abschied"), auf das Leben ("Vermächtnis und Tod"). Das ursprüngliche Vorhaben, diesen Episoden anschließend Majakowskis restliche Biographie beizufügen, wurde nicht realisiert. Schnebel brach sein Opernprojekt ab, "das sich ins Maßlose auszuwachsen drohte". "Majakowskis Tod", am 8. März an der Oper Leipzig uraufgeführt, blieb ein "Opernfragment". Das Fragment jedoch scheint zur obsolet gewordenen Gattung Oper wie zum früh verstorbenen Dichter ohnedies besser zu passen. Auch wenn Schnebel ursprünglich "eine Oper mit allem Drum und Dran", mit der ganzen "Theatermaschinerie, Lichtspielen, Bühnenturbulenz und -statik" mit "Pomp, Pathos, Koloraturen und hohem C, kurz: mit all dem Kitsch, der zur Gattung gehört", schaffen wollte.

Einer spontanen Idee folgend, verband er das Fragment mit seinem "Totentanz", 1995 bei der Musik-Biennale Berlin uraufgeführt und nun stark überarbeitet. Diese etwa vierzigminütige, seriell aufgebaute Komposition schließt in der Art eines großen Requiems die vorherige Nummernoper ab und gestattet den "Ausblick von dem einzelnen, individuellen Todes-Fall auf all die Milliarden Toten dieser Erde".

Regisseur Achim Freyer kann es sich bei der Leipziger Uraufführung erlauben, den gewaltigen Bühnenraum als schwarzen Kasten zu belassen. Darin erfindet der bildende Künstler Freyer, stets auch sein eigener Bühnenbildner, ein pointiertes szenisches Vokabular, gewinnt durch kunstvoll verhaltene Mittel große Eindringlichkeit. Das Orchester ist verdeckt, um einen Bayreuth-ähnlichen, abgetönten Mischklang zu erzielen. Schnebels symphonisch erzählende, allegorisch kreisende Klangbögen entfalten dadurch suggestive Tiefendimension. Seine gemäßigt moderne Tonsprache sucht mit Absicht die hochromantische Akustik und die damit verbundene Illusion. Die kontrapunktische Begleitung der szenischen Vorgänge will er, im bewußten Bezug auf Wagners Leitmotiv-Technik, zu "emotionaler Symbolik" komprimieren.

In Schnebels Denken ist der Begriff "Tradition" zentral und korrespondiert einer Utopie im Sinne Blochs - "Hier in Leipzig kann ich's ja sagen" - , die in alle Richtungen unabgeschlossenen ist. Genau diese Offenheit interessiert Freyer, dem man nachsagt, auf der Bühne bloß schöne Bilder zu arrangieren, was ihn erzürnt: "Ich gehe nie von Bildern aus, sonst könnte ich sie auch malen, sondern immer von szenischen Vorgängen." Die ästhetisch-politischen Erklärungen der beiden wirken wie eine Hommage an eine Zeit, als Kommunismus noch das Synonym für Moderne war. Und umgekehrt. Wobei der Preis für die anbiedernde Aufhebung dieser Gleichung nicht verschwiegen wird: Majakowskis Tod. Die ausgeprägte Vorliebe für Brüche in der zeitgenössischen Musik und für ihren offenen Charakter, der immer auch das Scheitern an historisch ausgereizter Form und disparatem Sujet impliziert, macht Freyer derzeit zum konkurrenzlos aktuellen Musiktheater-Regisseur, wie vergangenes Jahr beispielsweise bei seiner Hamburger Uraufführung von Helmut Lachenmanns "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" zu sehen war.

Das Libretto zu "Majakowskis Tod" hat sich Schnebel selbst geschrieben. Es gibt keine durchgehende Geschichte, die zersplitterten Szenen zerfallen in Binnenfragmente: "Wir kriegen keinen Halt" (Freyer). Die Inszenierung führt Majakowskis Jugend als Vorspiel in engen Bildausschnitten holzschnittartig vor. Ein senkrechter blauer Leuchtzeiger, der sich zur Mitte bewegt, teilt die Schnappschüsse zeitlich ein. Dann öffnet sich die Bühne in ganzer Breite. Das Volk in vier ansteigenden Reihen verlangt vom so hedonistisch ausschweifenden wie revolutionär bewegten Dichter Selbstkritik in Form von Erklärungen zu seinem Werk, das als zu elitär, zu wenig nach vox populi klingt. Schnebel hat die Hauptrollen in eine Sprecher- und eine Sängerfigur aufgeteilt.

In der großen Chorszene liegt, wie in einem Bild von Chagall, dem Majakowski-Sprecher (Robert Podlesny), die Hände in den Hosentaschen, der Majakowski-Sänger (Matteo de Monti) waagrecht über dem Kopf, mit einer Hand auf dessen Stirn gestützt. Bei seinem "Linken Marsch" tanzt ihm die Menge nach, wenigstens vorläufig. Nach politischer und privater Desillusionierung erscheint nur noch der Selbstmord als Lösung. Zu Kratzgeräuschen einer Feder auf Papier wird Majakowskis Testament "An Alle" projiziert: "Mama, Schwestern, Genossen, verzeiht mit / Das ist keine Art und ich rate anderen davon ab / Aber ich habe keinen Ausweg mehr".

Für den "Totentanz", der nahtlos anschließt, gibt es auf der Bühne keine Stimme. In den Logen stehen Sprecher und verlesen unaufhörlich Kolonnen von Zahlen. Aber der danse macabre ist nicht zu bilanzieren und hat keine Schlußsumme. Das hervorragend aufspielende Gewandhausorchester unter Johannes Kalitzke wird nun durch Live-Elektronik des Freiburger Experimentalstudios ergänzt. Die Technik füllt alle Winkel des Hauses und bahnt so, raffiniert ausgelotet, dem Schrecken jede Gasse. Ein schräg ansteigender Laufsteg führt in einen dunklen Hintergrund, der erst wie ein glitzernder Nachthimmel aussieht, was er vielleicht auch ist, nur trägt er statt Sternen Totenköpfe, die an Gummischnüren baumeln.

Der Catwalk ist hier ein Fließband zum Schafott. In furchtbar regelmäßigen Abständen tauchen neue Gestalten auf, absolvieren einen Durchgang und sind für immer verschwunden. Quer durch die ganze westliche Zivilisation: Ein Punk, ein Fußballer, eine Prostituierte, eine Putzfrau, ein General, ein aufgerüsteter Polizist, eine Braut mit weißen Rosen, ein dralles Alpenmädel (Kostüme: Maria-Elena Amos). Zum Schluß kommt die Ballerina, die - in der Typologie der Romantik - direkt ins Totenreich verweist. Und ganz zuletzt ein zappeliger Herr mit Melone. Stan Laurel, der seinen Oliver Hardy verloren hat, und hilflos gestikulierend den "Totentanz" beschließt. Dann rumsen mit entsetzlichem Ton die beiden gekrümmten Teile des eisernen Vorhangs von oben und von unten zum endgültigen Crash zusammen. Die alles begrabende Stahldecke ist voller Zahlen. Und kaschiert keineswegs die Unendlichkeit dieser Vernichtungschronik.

Dieter Schnebel: Majakowskis Tod / Totentanz. Dirigent: Johannes Kalitzke. Inszenierung: Achim Freyer Oper Leipzig, Augustusplatz. Weitere Vorstellung: 22. März