Der Betrachter ist eine Pfeife

Noch bevor die erste Margerite blüht, ist das Magritte-Jahr eröffnet. Der belgische Surrealist würde im November 100 Jahre

Die Tautologie ist eine zentrale Anschub-Kategorie für die bildende Kunst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Das in diesem Kontext wohl berühmteste Bild stammt von René Magritte. Es wurde 1928/29 gemalt und hat eine Pfeife zum Motiv, darunter, ebenfalls gemalt, steht der Satz: "Ceci n'est pas une pipe" ("Dieses ist keine Pfeife").

"Ceci n'est pas une pipe" bringt die Beziehung von Bild, Ding, sprachlicher Benennung und Kunstwerk ins Wanken und wird damit zum ästhetischen Bezugspunkt nachfolgender Künstlergenerationen. Magritte notierte dazu: "Ein Bild ist nicht mit etwas Greifbarem zu verwechseln: das Bild einer Pfeife ist keine Pfeife. Ein Bild der Ähnlichkeit interpretieren zu wollen - um was weiß ich welche Freiheiten auszuüben - heißt ein inspiriertes Bild verkennen, indem man ihm eine willkürliche Interpretation unterschiebt, die ihrerseits Gegenstand einer endlosen Reihe überflüssiger Interpretationen sein kann."

Magritte wendet sich gegen eine solche Interpretation der Malerei, die zwischen dem Bild und seinem gemalten Gegenstand eine Beziehung in der Absicht knüpft, Aussagen über den Gegenstand zu treffen. Diese Absicht sei "willkürlich" und "überflüssig", da weder über das Bild noch über den Gegenstand verbindliche Aussagen getroffen werden können.

An diesem Punkt wird der Unterschied zur ästhetischen Konzeption Bertolt Brechts besonders deutlich. Während Brecht das Bild von der Wirklichkeit einer sprachlichen Strategie unterordnet und es somit seiner außersprachlichen Qualität beraubt, bestreitet Magritte grundsätzlich, daß ein Bild etwas mit dem Bild von der Wirklichkeit (den Gegenständen nämlich) zu tun habe. Brecht stuft die Interpretation höher ein als das Bild selbst, Magritte streitet der Interpretation jede Aussagefähigkeit über das Bild ab.

Magritte negiert die seit der Renaissance vorherrschende mimetische Organisation der Malerei. Malerei als Abbildung der Wirklichkeit sei eine Illusion. Er entwickelt statt dessen eine pseudowissenschaftliche Taxonomie, eine Kategorisierung von Gegenständen, Bildern und Wörtern: ein Gegenstand sei demnach nicht identisch mit seinem Namen und seinem Bild; ein Bild könne ein Wort ersetzen, wogegen das Wort nichts anderes als sich selbst bezeichnet.

Magritte schlußfolgert, daß in einem Gemälde Wörter und Bilder dieselbe darstellende "Substanz" besitzen (Roland Barthes), auch wenn der Betrachter gerade auf die Differenz zwischen Wort und Bild hin rezipiert.

Die Sprache, für Guillaume Apollinaire noch ihrer typographischen Benutzbarkeit wegen interessant, wird bei Magritte zum bildnerischen Stoff. Wo Apollinaire die typographische Umsetzung einer spracherzeugten Bildlichkeit verfolgt, trennt Magritte zwischen Gegenständen, ihren Namen und Bildern, was die substantielle Gleichbehandlung von Wörtern und Bildern ermöglicht.

Die Interpretation der Wörter in einem Gemälde im semantischen Bezug zum Bild oder zum Gegenstand, den dieses Bild assoziiert, hat keine innere Notwendigkeit, sondern ist eine vom "Interpretanten" (Umberto Eco) vorgenommene willkürliche Einengung der Bildwirklichkeit.

Aus Anlaß des 100. Geburtstag am 21. November 1998 zeigt das Museum für Alte Kunst in Brüssel eine umfassende Retrospektive der Arbeiten René Magrittes. Die Ausstellung läuft bis zum 28.Juni. Der deutschsprachige Katalog kostet in der Ausstellung 1200 Belgische Francs, die gebundene Ausgabe im deutschen Buchhandel, erschienen im Belser Verlag, 128 Mark.