Martin Scorseses »Kundun«

Die Farbe Rot

Sich "Kundun", den neuen Film von Martin Scorsese, ansehen, ist wie Farbe beim Trocknen zuzuschauen. Die Farbe ist Rot. Backsteinrot wie die Gewänder der tibetischen Priester, mohnrot wie der gefärbte Sand, krebsrot wie der Teppich, auf dem der Dalai Lama schreitet.

Eine Rottönung wird sparsam eingesetzt: Rot wie Blut. Wer schon vorher einen Scorsesefilm gesehen hat, wartet die ganze Zeit verkrampft darauf, ob der Meister nicht doch noch zum Gustav-Mahlerschen Hammerschlag ausholt und die besinnliche Ruhe abrupt mit einer schreienden Gewaltszene beendet. Es liegt so nahe: Die Vertreibung des Dalai Lama aus Tibet, da müßte doch ein Gemetzel kommen. Von einer winzigen Szene abgesehen, erspart Scorsese es uns. Wohl halluziniert sich einmal der Dalai Lamai in einem Feld von Erschlagenen stehend; man sieht aber nicht, wie sie zu Tode kommen. Die blutigen Leichen sind zum Tableau angeordnet, um auch diesen Rot-Effekt noch mitzunehmen. In diesem Film geschieht, wenn man das so sagen kann, ausschließlich Rot. Nur der politisch Rote, Mao, weckt den Anschein, von Madame Tussaud persönlich geschminkt worden zu sein. Er ist mit Abstand das Unröteste, was der Film zu bieten hat. Nicht rot, d.h. tot: Mao ist ein lebender Toter, und der Dalai Lama ist Gott, der Ewig-Lebende.

Einen Gott zu zeigen ist natürlich eine weitaus interessantere Aufgabenstellung als einen säkularen Tribun diplomatische Tees aufgießen zu lassen. Was tut ein Gott - läuft er über Wasser, heilt er Aussätzige? Scorsese ist klüger als die Bibel: Ein Gott sieht mehr als die anderen. Der Dalai Lama schaut nicht nur Zukunft und Vergangenheit, sondern vor allem die Gegenwart; er entdeckt, während die anderen in ihre Andacht versunken sind, eine naschende Ratte, er findet stets das ungewöhnliche Detail: einen europäischen Schuh in der Hinterlassenschaft einer früheren Inkarnation seiner selbst. Im Grunde sieht er alles, was Scorsese sieht. Im Grunde ist Scorsese dieser Gott. Wäre der Regisseur noch der alte Katholik, hätte er mit "Kundun" einen gotteslästerlichen Film gedreht. Aber bei einem angelernten Buddhisten wird man solche Selbst-überhebung durchgehen lassen.

Als Kindgott ist der Scorsese-Dalai Lama so überwältigt von seinem Sensorium, daß er sich das Gesicht mit Stoffen verhüllt, um den Eindruck abzuschwächen. Als erwachsener Kindgott will er immer mehr sehen, er nutzt ein Fernrohr, Karten, sogar einen Film-Projektor. Was legt er ein? - Scheint Méliès zu sein. Das würde mit seiner naiven, liebenswerten Art zusammenstimmen. Außerdem gehörte Méliès zu den ersten, die handkolorierte Filme produzierten. Welche Farbe bei dem gezeigten Ausschnitt prävaliert, muß ich vielleicht nicht erwähnen.

Selbstverständlich ist der Film politisch reaktionär. Aber er enttäuscht auch theologisch. Denn entweder soll die Beschränkung in Form und Farbe eine meditative Methode sein, um Glückseligkeit zu erlangen, dann ist "Kundun" zu üppig. Oder - meine Vermutung - die ästhetische Beschränkung ist eine Art, den Blick des Gottes zu visualisieren. Das aber läuft der allgemeinen Auffassung zuwider, daß Gott, wenn schon, alles ist. Also muß man annehmen, daß er auch alles wahrnimmt. Hier sieht er aber immer nur Rot, ohne auch nur einmal darüber zornig zu werden. Er ist gewissermaßen ein bißchen beschränkt oder beschränkt sich selbst. Ein Gott, der sich beschränkt, ist ein Widerspruch in sich. Aber Gott würde ja auch keine Filme drehen.

"Kundun". USA 1998, R: M. Scorsese. D: Tenzin T. Tsarong u.a. Start: 19. März