Gott kommt morgen

Wollen Arbeitslose das "Bewußtsein des eigenen Körpers" sensibilisieren. Oder einfach einen Job?

In der von Sabine Christiansen jeden Sonntag von 21.40 Uhr bis 22.40 Uhr moderierten ARD-Talkshow "Sabine Christiansen" schwieg Christoph Schlingensief am Sonntag, den 8. März, solange, bis Sabine Christiansen ihn zum Reden aufforderte, dann aber redete er, obwohl Sabine Christiansen mehrmals versuchte, ihn zu unterbrechen, ununterbrochen. Sabine Christiansen versuchte dabei, die erste und wichtigste Regel anzuwenden, die das Moderatorentraining für solche Fälle vorsieht, nämlich selbst solange zu reden, bis der andere mit dem Reden aufhört, aber Christoph Schlingensief kannte die Regel auch, und so redeten beide aufeinander ein, bis Karl Dall, der in der Runde noch den vernünftigsten Eindruck machte, mit der Bemerkung, wenn er weiter solchen Schwachsinn von sich gebe, werde niemand und erst recht kein Arbeitsloser auf ihn hören, Christoph Schlingensief den Saft abdrehte.

"Ich glaube, daß in der Anhäufung von Schwachsinn mehr Wahrheit liegt als in der Anhäufung von Wahrheit", sagte Christoph Schlingensief dem Spiegel, und die Kritiker nehmen es ihm ab, warum auch immer. Vielleicht, weil man von einem, der seit Jahren wie ein Irrer produziert, Filme, Theaterstücke, ein Hörspiel, eine Talkshow, nicht bloß sagen kann, er sei irre. Vielleicht auch, weil man von einem, der von sich selbst sagt, der produziere Schwachsinn, nicht bloß sagen kann, er produziere Schwachsinn. Kann man doch! sagt Karl Dall, und Karl Dall kann, wenn es um Schwachsinn geht, mitreden.

Alle anderen aber scheinen sich darauf verständigt zu haben, daß Christoph Schlingensief ein Genie ist, und wie es sich für ein Genie gehört, produziert Christoph Schlingensief seit seinem "Entschluß, Politiker zu werden" und eine Partei zu gründen, fast täglich Aphorismen, Worte für die Nachwelt, wohlüberlegt wirres Zeug, auf jedem Kanal und in jedem Blatt so ziemlich dasselbe, und doch überall möglichst spontan.

"Die sechs Millionen Arbeitslosen springen am 12. Juni gleichzeitig in den Wolfgangsee, und dann gibt's eine Flutwelle, und dann ist Kohl weg oder sauber oder erfrischt, und wir sind alle tot", erzählt er dem Berliner Stadtmagazin tip, und der tip-Schreiber ist begeistert über die "wirren, aber euphorischen" und die "noch euphorischeren, noch wirreren Reden".

"Man hat eine Idee, man sprintet los, und die Leute sprinten mit, und dann, bumm, bleibt man stehen, und alle rasen an einem vorbei, und dieser Windstoß ist es wahrscheinlich, der einen so beatmet", erzählt er der Berliner Zeitung, und den Schreiber der Berliner Zeitung weht eine Erkenntnis, ein Erlebnis an: "Plötzlich verstehe ich. Das Schlingensief-Denken geht mir wie eine Erleuchtung auf."

Auch die Leute vom Spiegel fragen nicht: Herr Schlingensief, warum machen Sie solchen Schwachsinn? Sondern formulieren, durchaus flott zwar, aber keineswegs forsch, man weiß ja nie, der Blödmann hat vielleicht Talent: "Haben Sie eigentlich Verständnis dafür, daß manche Sie für gaga halten?"

Im tip bringt Christoph Schlingensief einen offenen Brief an Harald Schmidt unter, einen Text von der Sorte, wie man sie manchmal in Fußgängerzonen zu lesen bekommt. Din A4-Blätter, vollgetippt von oben bis unten, gespickt mit Zahlenkolonnen, Runen, Diagrammen, der Verfasser verteilt selbst. Vor ein paar Monaten stand so einer vor dem Gebäude des Pressekonzerns Gruner + Jahr in Hamburg und nötigte jedem, den er für einen stern-Redakteur hielt, sein Pamphlet auf. Es ging um die Mieten und das Trinkwasser, das Buch Mormon und die Waldenser. Gott kommt morgen, der Teufel bleibt zu Hause. Der stern müsse das unbedingt drucken.

Der stern druckte nichts, der tip druckt: "Untersuchungen über WAS IST EIN VOLK. 1967/88/98. Was ist die kleinste Einheit von Volk? Antwort: 1 Volk. Die jetzt anwachsende Gesamtsumme von 1-80 Millionen Volk ergibt das tatsächlich noch in Deutschland anwesende Volk! Die Unsichtbaren melden sich: DER STAAT WIRD WIEDER MIT VOLK AUFGEFÜLLT ... Somit wird das VOLK MOBIL und veranstaltet in seinem Wahlkreis ein Ebenbild des eigenen Ausdrucks (toller Begriff): Wahlkreiskandidat im Sauerland veranstaltet Traktorrennen, Frau Müller aus Hünxe macht ein Kinderfest, Peter Y. baut ein Obdachlosenheim in Duisburg-Hamborn."

Man könnte jetzt über den Zustand der deutschen Öffentlichkeit nachdenken, und Christoph Schlingensief fände das bestimmt sehr lustig und würde in seinen nächsten Film einen Kritiker einbauen, der an seinem Schreibtisch sitzt und über den Zustand der deutschen Öffentlichkeit nachdenkt.

Man könnte auch sagen: Gedruckt wird das, wo Christoph Schlingensief drübersteht, und warum sollen, so sie denn wollen, die "ausgegrenzten Individuen und Gruppen", die "bislang deaktivierten Minderheiten" (Parteiprogramm) sich das nicht zunutze machen?

Vielleicht, weil sie auch nichts Besseres zu sagen haben. Im Gegenteil, Unterdrückung macht bekanntlich dumm, die Unterdrückten mehr noch als die Unterdrücker.

Kann ja sein, daß die Arbeitslosen, um die es Schlingensief vor allem geht, sich "wieder spüren und verwirklichen", "sich selbst darstellen", das "Bewußtsein des eigenen Körpers und seiner Bedürfnisse auf die Bewußtseinsebene des eigenen Selbst heben und für die Artikulationsmöglichkeiten des eigenen politischen Selbstbewußtseins sensibilisieren" wollen.

Sicher ist: Sie wollen einen Job. Und sie wollen, daß die Asylanten, die Aussiedler, die Ausländer keinen haben. So sehen sie die Sache. Auch wenn die "Intellektuellen und Fremdwortexperten" (Parteiprogramm) sie anders sehen.

Gut möglich also, daß beim Kinderfest von Frau Müller in Hünxe der kleine Bimbo leider nicht mitmachen darf. Und daß im Obdachlosenheim von Peter Y. in Duisburg-Hamborn die Penner nichts zu lachen haben.

Was macht Christoph Schlingensief dann? Vielleicht geht er wieder zu "Sabine Christiansen" und redet Sabine Christiansen "um Sinn und Verstand" (Berliner Zeitung). Falls es "Sabine Christiansen" dann noch gibt. Und Christoph Schlingensiefs letzter Auftritt Sabine Christiansen nicht den Job gekostet hat.