Wähl’s dir selbst

Im Zirkus Sperlich stellte sich die "Chance 2000" vor, ein Christoph-Kasperle-Theater

"Alte Hüte", resümierte sogar Volksbühnen-Intendant Frank Castorf am Freitag, dem 13., "das hat Udo Lindenberg schon vor zwanzig Jahren mit der Panik-Partei versucht." Aber Castorf ist ein cleverer Mann und nimmt, was öffentlichkeitswirksam dem eigenen Hause dient. Im Prater, der Volksbühnen-Filiale im Prenzlauer Berg, präsentiert just am klassischen Unglückstag Christoph Schlingensief etwas, das sich "Chance 2000" nennt. Dieser "Wahlkampfzirkus '98" des "Königs der Herzen" dient zugleich als Gründungsveranstaltung der Partei "Chance 2000". Oder auch "Partei der letzten Chance".

So genau weiß das noch niemand. Dafür ist die Bude gerammelt voll, und die Kameras surren. Schuld daran ist der trickreiche Guru Schlingensief, der sich immer so schön in Rage reden kann, sobald ein paar Leute zuschauen, sei es über 1968, "die Arbeitslosen" oder "das Theater". Eigentlich macht er aber immer das gleiche. Manchmal sogar als Film. Und meist mit Megaphon, seinem Markenzeichen.

Die PR-Kampagne, die ihn als "enfant terrible" verkauft, hat sich gelohnt: Sein exhibitionistischer Dilettantismus gilt infolge zermürbender Dauerberieselung in sämtlichen Medien als irgendwie kultig und Schlingensief als Star. Als Anti-Star. Als böser Bube und lieber Lausejunge. Als feste Größe in der VIP-Lounge sowieso. Er ist der Hofnarr der Schickeria, aber das hört er nicht gern. Nach der eigenen Talkshow im Privatfernsehen möchte Schlingensief - "Wenn man will, kann man alles schaffen" - jetzt Bundeskanzler werden. Oder auch nicht.

Das Christoph-Kasperle-Theater führt die Zuschauer an die existentiellen Grenzen intelligenter Organismen: "Warum bin ich hier? Was tue ich jetzt? Warum gehen nicht alle heim?" Also: "Warum hört der da vorne nicht einfach auf?" Doch der denkt nicht daran. Schlingensief trägt diesmal eine rot-güldene Jacke, weiße Hosen und eine Langhaarperücke. Auf der Brust steht nicht "Christoph liebt euch", sondern "Chance 2000". Die findet im Zelt der Zirkusfamilie Sperlich und deren Programm mit Menschen, Tieren, Sensationen statt. Von ersteren gibt es "viele auf der Welt" (Brecht), von den zweiten immerhin "Ziegen und Ponys" (Schlingensief). Die Sensationen wurden vergessen. Oder ist ein Schild, auf dem "Politik" steht, eine Sensation? Wenn daneben ein Foto von Helmut Kohl hängt? Das Volk unter der Zirkuskuppel: ratlos.

Ausgebildete Schauspieler wie hauptberufliche Laiendarsteller aus Schlingensiefs Leibgarde bevölkern verstört die Manege. Verstärker übersteuern. Scheinwerfer fallen aus. "Träume werden Wirklichkeit", ruft Schlingensief und lispelt vor Begeisterung über die Pferdchen, die plötzlich im Kreis rennen. Er springt auf eines und ist glücklich, was er allen mitteilt, indem er "He" schreit und dann "Ho". Den anderen Gaul entert ein kleiner drahtiger Mann mit großem drahtigem Schnurrbart und besonders drahtiger Perücke. Er heißt Martin Wuttke, war einmal Intendant und verliert bald das Kunsthaar, damit man ihn erkennt. So ein Zirkus hat immer eine unverwechselbare Atmosphäre mit Ziegenpisse, Angstschweiß und feuchten Sägespänen.

Draußen ist es auch nicht schön. Von dort kommt eine Frau, die wie Sigrid Löffler von der Zeit aussieht, und wissen läßt, daß sie Sigrid Löffler heißt und "viel Zeit mitgebracht" hat. Zwei richtige Schauspieler der Volksbühne (Astrid Meyerfeldt, Bernhard Schütz) turnen gemeinsam in der Hochschaukel und schreien "Vater". Danach schwingt sich ein Herr ohne Haare, den Schlingensief als "Oberstaatsanwalt aus Hamburg" bezeichnet, in dieselbe Schaukel und zitiert das Grundgesetz. Das Publikum applaudiert. Das tut es auch, als eine Ziege rülpst. Als der dicke Arbeitslose Achim Paczensky seine Moderation stotternd abbricht. Als der noch dickere Arbeitslose Werner Brecht nicht kommt. Und als er schließlich kommt.

Eigentlich wird alles abgefeiert, weil Schlingensief so herzhaft vorklatschen und wie Johannes B. Kerner auflachen kann. Das "alternative Ghetto" (Schütz) hat selten Grund zum Jubel. Deswegen wird er jetzt ordentlich ausgekostet. Und da ja alles im Verein respektive in der Partei am schönsten ist, wird nach einer Stunde versucht, eine solche zu gründen. Inbrünstig reichen sich konspirativ blickende Schlingensief-Jünger das Mikrophon, um den deutschen Rechtsstaat juristisch auszuhebeln. Das wird in Karlsruhe ein Beben auslösen wie in China ein umfallender Sack Reis.

"Wähle dich selbst", rät Schlingensief. Der Dramaturg Dr. Carl Hegemann, der ihn 1997 an's Berliner Ensemble holte und dann seinen Abschied nahm, erklärt, daß er juristisch wohl informiert sei und daß er nichts mit der Hamburger Statt-Partei zu tun habe, auch wenn er deren Grußadresse verlesen möchte. Solche wie andere Nullnummern versetzen Teile des Publikums in spontane Raserei. Leidenschaftlich werden die Tische im Manegenrund erstürmt, um sich in Mitgliederlisten einzutragen und "...die Partei", "Ö und Kohl", "Ö und ein Volk", "Ö und etwas tun", "Ö und alles so schön bunt hier".

Menschen vom Rundfunk interviewen Menschen, die an diesem Ort nicht länger verweilen wollen. "Du fliehst gerade?" - "Nein, ich muß nur auf's Klo", antwortet der junge Mann, "aber es war trotzdem Scheiße." Passiert ist weiter nichts. Nicht einmal ein paar eingeschlagene Fensterscheiben bei "Getränke Hoffmann". Schlingensiefs angefeuerte Hoffnungsträger - "Arbeitslose aller Länder - werdet für mich Wahlkreiskandidaten" - haben einfach wie immer ihr Kreuzlein gemacht. "Chance 2000" oder: Was kann man an einem schwarzen Freitag schon erwarten?

Christoph Schlingensief: Chance 2000 - Wahlkampfzirkus '98.
Prater, Berlin, Kastanienallee 7-9 Weitere Vorstellungen: 20., 21., 25. März