Ruf nach der Nation

Auch in Zeiten verschärfter sozialer Konflikte kann die Linke nicht auf eine radikale Staatskritik verzichten.

Kein Zweifel besteht daran, daß die derzeit weltweit forcierte Deregulierung der kapitalistischen Ökonomie zu ungeahnten Verwüstungen führt. Das zur Verabschiedung anstehende "Multilaterale Abkommen über Investitionen" ist hier nur ein Schritt unter vielen, wenngleich in ihm die ungeheure Dynamik dieses Prozesses besonders klar zum Ausdruck kommt. Es ist deshalb bestimmt nicht falsch, diesen Deregulierungsprozessen den Kampf anzusagen. Die Frage ist jedoch, unter welchen Prämissen und mit welchen Zielsetzungen dies geschieht.

Die Linke tendiert traditionell dazu, sich für ihre Kämpfe den Staat zum Bündnispartner zu erwählen. In der gegenwärtigen Situation wird diese Strategie wieder aufgewärmt. Man ruft den Staat als regulative Instanz an oder beschwört gar die Nation als kollektivistischen Widerpart zur "Diktatur des Marktes". Doch auch angesichts des Neoliberalismus wird diese Strategie nicht sinnvoller. Sie geht zunächst von einer Fehleinschätzung der Struktur und der Funktion des Nationalstaates aus. Sie übernimmt die, sei es westlich-vertragstheoretisch, sei es deutsch-volksstaatlich formulierte, Ideologie vom Staat als Repräsentant des Allgemeinwohls und ignoriert die Dialektik von Politik und Ökonomie. Indem sie Staat und Kapital strukturell getrennt setzt, zerstört sie den zentralen Ansatzpunkt für eine Kritik der politischen Ökonomie. Und in ihrer Hypostasierung des Allgemeinen im Staat bereitet sie, wie immer ungewollt, den Weg für eine ungleich barbarischere Herrschaft als diejenige allein des Marktes. Marx hat dieser Haltung schon 1875 beschieden, daß ihr "die sozialistischen Ideen nicht einmal hauttief sitzen".

Wenn sich die Aktivisten dieses Kampfes an den Staat wenden, so geschieht dies aus einer Situation der Verzweiflung heraus. Tatsächlich existiert weit und breit keine andere Institution, die eine Gegenmacht zu den losgelassenen Kräften des Marktes verspräche. Dabei wird jedoch systematisch ignoriert, daß man sich an die sozialdemokratisch-keynesianistische Variante des Staates wenden muß, die unwiederbringlich der Vergangenheit angehört. Ignoriert wird damit auch, daß der heutige Staat selbst zum Agenten der Deregulierung geworden ist. Dies zeigt sich nicht nur daran, daß es die Staaten sind, die das MAI aushandeln, sondern auch an der Rolle der öffentlichen Arbeitgeber als Bahnbrecher in den Tarifverhandlungen. Und gerade die sozialdemokratischen Regierungen betätigen sich als die eifrigsten Vorkämpfer der Deregulierung.

Warum trotz der offensichtlichen Übereinstimmung von neoliberaler Ökonomie und postsozialdemokratischem Staat ausgerechnet dieser der "Logik des Marktes" entgegenstehen soll, ist nicht einzusehen, es sei denn vor dem Hintergrund der von ihm selbst geschaffenen Mythen. Der Illusion von der Autonomie des Staates und seiner Instrumentalisierbarkeit für die sozialen Interessen saß die Sozialdemokratie Zeit ihres Lebens auf. In Frankreich konnte diese Illusion aus der universalistischen Tradition schöpfen, in welcher der Nationalstaat stand. Dies läßt heute etwa einen Pierre Bourdieu in der aktuellen Ausgabe der Le Monde Diplomatique die "Zerstörung des Staates" durch den Neoliberalismus beklagen, "der die der öffentlichen Sphäre zugehörenden Gemeinschaftswerte zu bewahren hätte". In Deutschland hingegen steht die Idee vom Staat als Repräsentant des Allgemeinwohls unmittelbar in der Tradition der völkischen Ideologie. In ihr, und im Versuch ihrer praktischen Umsetzung durch den Nationalsozialismus, zeigt sich jedoch nicht eine Abweichung vom Konzept des Nationalstaates, sondern nur dessen konsequenteste Umsetzung. Die Mobilisierung des Staates gegen das Kapital führt bestenfalls zur Bestätigung der Kapitalvergesellschaftung, schlimmstenfalls zur Barbarei.

Die Linke kann deshalb auch in Zeiten verschärfter sozialer Konflikte nicht auf eine radikale Staatskritik verzichten. Tut sie dies, so wird sie unfähig zu einer Kritik der politischen Ökonomie, deren integraler Bestandteil der Staat ist. Die Rede vom "Neoliberalismus" als dem zentralen Problem der gegenwärtigen Gesellschaft droht diese Einsicht zuzuschütten. Demgegenüber ist an einer strikt antistaatlichen und antinationalen Kritik der Kapitalvergesellschaftung festzuhalten. Legitim freilich ist der Versuch der Verteidigung von sozialen Errungenschaften, die bislang der Staat garantierte. Falsch wird es dann, wenn dies zum positiven Gegenentwurf sich stilisiert.

Genauso falsch jedoch ist es, das Kapital zur Schutzmacht gegen Nationalismus und Staatsaffirmation zu erklären und sich mit diesem Argument auf die Seite der Deregulierung zu schlagen. Auch dies verkennt die dialektische Verschränktheit von Staat und Kapital. Hier hilft es nur, sich der desolaten Situation bewußt zu werden, die kein Gegenmodell zum deregulierten Kapitalismus bereithält. Übrig bleibt die je konkrete und zunehmend verzweifelte Verteidigung der materiellen Existenzbedingungen, und die Notwendigkeit, die Formveränderungen der politischen Ökonomie zu verstehen und radikal zu kritisieren.