Ach, Hermann!

Das Deutsche Historische Museum möchte mit seiner neuen Ausstellung "Mythen der Nationen" das Unverzichtbare des Nationalen bewahrt wissen

Das Deutsche Historische Museum verdankt seine Existenz und seinen Direktor dem Bundeskanzler Kohl. Dieser baut am einigen Europa, besteht aber, weil sich damit immer wieder Politik machen läßt, auf dem Recht der Nation. Deshalb ist jeder Kasache, der einen deutschen Urgroßvater nachweisen kann, immer noch ein Deutscher und jeder Deutsche, dessen Eltern in der Türkei geboren wurden, immer noch ein Türke.

Und deshalb reproduziert der Direktor Stölzl in seinem Vorwort zum Katalog der Ausstellung über einige ältere nationale Mythen unbeirrt einen neueren: Wie der "Nationalismus, begierig auf den Wettlauf um den Platz an der Sonne (Ö) zu Beginn unseres Jahrhunderts zur europäischen Katastrophe wurde, ist wohlbekannt". Weniger bekannt ist offenbar noch immer, daß es nicht irgendein oder jeder Nationalismus war, sondern der deutsche. Wenn dieses Museum unter der Schirmherrschaft dieses Kanzlers eine Ausstellung über die "Mythen der Nationen" veranstaltet, kann man nicht erwarten, das Konzept der Nation sei selbst ein Mythos und Gegenstand kritischer Betrachtung. Im Gegenteil: Der Mensch, sagte György Konrad in seiner Eröffnungsrede, "hat das Bedürfnis, irgendwohin zu gehören". Und Stölzl möchte "das Unverzichtbare des Nationalen" bewahrt wissen.

Was ist eigentlich eine Nation? Der französische Religionswissenschaftler Ernest Renan definierte sie 1882 als "eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus (Ö) Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch, zusammenzuleben (Ö) Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist."

Nun haben wir zwar die Solidargemeinschaft der Nation wohl weniger Renan als seinem deutschen Übersetzer zu verdanken, aber auch jenem schaut die Ideologie aus sämtlichen Knopflöchern. Trotzdem heißt es im Leitaufsatz des Katalogs: "Über diese berühmte Definition der Nation herrscht heute weitgehende Übereinstimmung."

Das reiche Erbe an Erinnerungen, von dem Renan sprach, war bei der Geburt der Nationen zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts nicht einfach schon vorhanden, es mußte erst geschaffen werden. Wie das geschah, zeigt die Ausstellung am Beispiel von je fünf mythischen Erzählungen aus sechzehn europäischen Ländern (Rußland und die USA werden, weil die betreffenden Exponate das Budget allzu arg strapaziert hätten, nur im Katalog behandelt).

Den Versuch, die eben erst entdeckte Nation in ferner Vergangenheit zu verwurzeln, unternehmen jene Geschichtsmythen, die unter dem Leitmotiv "Woher wir kommen" zusammengefaßt werden. Die Abteilung "Glaube und Krieg" betont den nicht eben überraschenden Umstand, daß alle europäischen Nationen sich als christlich verstanden und einige sich erst im Kampf gegen den Islam formierten.

Wenn aber das "ehrgeizige Ausstellungsprojekt", wie es sich selbst nennt, unter der Rubrik "Freiheit" die Französische Revolution mit den "Befreiungskriegen" gegen Napoleon und jede nationale Erhebung gegen "Fremdherrschaft" mit der Magna Charta zusammenwirft, dann entsteht ein weiterer Mythos: die demokratische Nation. Das "untrennbare Streben nach äußerer und innerer Freiheit" nämlich beweise, "daß die Nationen (Ö) sich auf einen Nationsbegriff berufen, der vom Geiste der Glorious Revolution, der Amerikanischen und der Französischen Revolution geprägt ist: grundsätzlich liberal und tendenziell demokratisch". Noch schlechter läßt sich ein falscher Gedanke kaum formulieren.

Innere Freiheit meint vermutlich die bürgerliche, äußere Freiheit aber als Freiheit von Kollektiven und ganzen Nationen gar ist nicht mehr als ein ideologisches Konstrukt und in keiner liberalen Staatsphilosophie vorgesehen. Dennoch darf man eine geheime Botschaft wohl erahnen: Auch die deutsche Nation war grundsätzlich liberal und manchmal sogar demokratisch, alles Elend kam nicht von ihr, sondern vom Totalitarismus.

Statt die verschiedenen Freiheiten in einen Topf zu rühren, hätte man vielleicht zwischen völkischen und bürgerlichen Mythen unterscheiden sollen. Aber um Unterschiede geht es in dieser Ausstellung am allerwenigsten. Nichts sei "internationaler" als der nationale Mythos, sagte Konrad, und auch Stölzl insistiert auf der "Ähnlichkeit der nationalen Mythen" - die deshalb um so wichtiger und befriedigender ist, weil sich dank ihrer die deutsche Nation als eine unter vielen in die europäische Familie resozialisieren läßt. Dabei zeugen die in der Ausstellung präsentierten deutschen Mythen durchweg von völkischer Gesinnung: Hermann, der erste Deutsche; Kaiser Barbarossa, der mächtigste deutsche Kaiser; Luther, der sich gegen papistische Fremdherrschaft auflehnte und den Deutschen ihre Sprache gab; der Aufruf zum Volkskrieg gegen Napoleon; schließlich die Reichsgründung von 1871.

Daß ähnliche mythische Bemühungen manchmal zu ganz verschiedenen Ergebnissen führten, ist trotzdem unübersehbar. Auf der Suche nach dem Stammvater ihrer Nation entdeckten die Franzosen den Gallier Vercingetorix und die Deutschen den Germanen Hermann. Vercingetorix, der im Kampf gegen die Römer unterlag, gilt den Republikanern des 19. Jahrhunderts zwar als größter Held der französischen Geschichte, zugleich aber wird seine Niederlage als Bedingung für den Übergang von der Barbarei zur Zivilisation bewertet. Denn die Gallier sind "wenig zivilisiert und armselig. Die meisten Schulbücher schildern immer wieder die Rückständigkeit des Landes zu gallischen Zeiten und betonen die bedeutenden Neuerungen, die die Römer einführten, besonders im Ackerbau, den ländlichen Lebensbedingungen und in der Raumordnung. Die Gallier werden, wenn auch zumeist nachsichtig, als verdummt dargestellt, besonders wegen ihres Aberglaubens und ihrer barbarischen Riten."

Hermann der Cherusker dagegen, der die Römer besiegte, wurde während der "Befreiungskriege" zur Leitfigur einer neuen deutschen Erhebung. "Diesem Sieger", heißt es in einem Schulbuch des Jahres 1808, "verdankt Deutschland seine Freiheit, und wir, daß wir Deutsche sind, und daß noch Deutsch auf der Welt gesprochen wird." So wie er das Land vor einer überlegenen Zivilisation bewahrt hat, will man nun die Revolution vertreiben. Mit seinem Sieg feiern die Deutschen ihre eigene geistige und politische Misere. Vielleicht hat das etwas zu bedeuten, wovon dieses "ehrgeizige Ausstellungsprojekt" nichts wissen will.

"Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama". Ausstellung des Deutschen Historischen Museums im Zeughaus Berlin, Unter den Linden. Bis 9. Juni. Katalog DM 48